Mittwoch
Bethesda-Krankenhaus, 13:05 Uhr
»Sie kommt zu sich.«
Zunächst erkannte sie die Gestalten nur schemenhaft. Sofort war da wieder diese Todesangst, die sie zuletzt gespürt hatte. Heike blinzelte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie in die Realität zurückkehrte. Ihr Körper fühlte sich taub an, und jede Bewegung bereitete ihr höllische Schmerzen. Als sie schlucken wollte, spürte sie den Kunststoffschlauch, der in ihrem Mundwinkel klemmte und der sie wie Frankensteins Monster grinsen ließ. Ein pelziger Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.
Die Stimme kannte sie. Stefan, das war Stefan gewesen.
»Dann aber bitte nicht zu lange. Sie muss sich noch ein paar Tage schonen.«
»Natürlich.« Wieder Stefan.
»Mach dir nicht ins Hemd, Weißkittel. Wir werden sie nicht ans Limit bringen. Immer schön im grünen Bereich fahren, damit kenne ich mich aus, Meister.« Bassstimme, beruhigender Unterton, hatte etwas Väterliches an sich. Das war Kalla.
Und wieder die andere Stimme: »Wie Sie meinen.« Türklappern, Stille.
Heike blinzelte. Jetzt erkannte sie die schemenhaften Gestalten im Zimmer. Alles hier war weiß. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass sie sich in einem Krankenzimmer befand. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie die Kugel aus Jeanette Klinkes Waffe getroffen hatte. Danach Filmriss. Sie spürte eine Hand, die sie zärtlich streichelte, und wandte den Kopf zur Seite. Stefan lächelte, aber in seinem Gesicht stand Sorge geschrieben. »Da bist du ja wieder«, sagte er leise.
»Ja.« Das Nicken tat weh. Sie verzog das Gesicht. »Da bin ich wieder. Und ich glaube, ich habe einiges verpasst.« Der Schlauch ließ sie undeutlich reden. Erst jetzt bemerkte sie den Infusionsständer, der neben ihrem Bett stand.
»Das kann man so nicht sagen.« Kalla, der sich am Fußende aufgebaut hatte und mit dem Namensschild an der verchromten Bettstange spielte, grinste. »Du hast dich einfach durchgetan, als es spannend wurde. Aber gut, jetzt bist du ja wieder an Bord. Herzlich willkommen.«
Heike sammelte ihre Kräfte. Sie streckte den Arm aus und zog sich am Galgen über dem Krankenbett hoch. Stefan stellte ihr die Lehne aufrecht, sodass sie im Bett sitzen konnte. »Und jetzt will ich alles hören«, forderte sie.
Stefan zog sich einen Stuhl heran und setzte sich verkehrt herum darauf. »Das ist eine lange Geschichte, aber ich versuche, es auf das Wesentliche zu beschränken. Jeanette Klinke hat tatsächlich die drei Morde begangen, um ihrem Geliebten den Rücken freizuhalten. Liebe macht blind, sagt man ja immer. Und wir sind zur Hütte gefahren, weil ich eine Idee hatte. Plötzlich wusste ich, dass die Klinke hinter den Morden stecken musste. Auf der Fahrt nach Wermelskirchen hast du mit Kalla telefoniert, der so nett war, auch auf einen Sprung vorbeizuschauen. Nachdem Jeanette Klinke uns die Morde gestanden hatte, zückte sie eine Waffe und wollte uns auch aus dem Weg räumen. Mit unserem Wissen hätten wir sie lebenslang hinter Gitter bringen können, und das wollte sie natürlich vermeiden. Pech nur, dass Kalla etwas später an der Hütte ankam.«
»Ich hatte mich verfahren - und das als Profi.« Kalla schnaubte beschämt. »Darfste auch keinem erzählen.«
»Was aber auch gut so war. Denn wir haben Kalla unser Leben zu verdanken. Er hat durchs Fenster geschaut und gesehen, dass wir mit einer Waffe bedroht wurden.«
»Ist sonst nicht meine Art, in fremde Fenster zu gucken, das müsst ihr mir glauben. Aber sie stand mit dem Rücken zum Fenster und hatte mich nicht bemerkt. Als sie die Waffe hob und auf euch zielte, habe ich die Scheibe des Fensters eingeschlagen, an dem sie mit dem Rücken zu mir stand. Deshalb hat sie mich nicht gesehen -und ihr wohl auch nicht, so dick bin ich dann wohl gar nicht.« Er grinste breit, bevor er fortfuhr. »Nachdem ich das Fenster eingeschlagen habe, musste es schnell gehen. Ich musste sie außer Gefecht setzen, so zielte ich und habe sie mit meiner Pistole angeschossen. Gott sei Dank bin ich ein grauenhafter Schütze und habe nur ihren Arm getroffen. Sie war verwundet und konnte euch nichts mehr anhaben. Der Rest war kinderleicht. Ich bin zu euch rein, habe den Notarzt und die Polizei gerufen, während Stefan die Frau in Schach hielt und sich um dich gekümmert hat. Ulbricht und seine Jungs kamen raus und haben das reife Obst gepflückt.
Seitdem sitzt Frau Klinke. Ihr Versuch, euch aus dem Weg zu räumen, war ein Satz mit X, war wohl nix.« Der vollleibige Taxifahrer kicherte amüsiert.
»Woher hattest du die Waffe?« Heike konnte es nicht glauben. »Als du mich vorgestern Abend angerufen hast, um mich zu warnen, habe ich mir die Pistole von einem Freund besorgt. Ihm gehört auch der Waffenschein, aber dieser Freund hat mir schon viel zu lange einen Gefallen geschuldet. Deshalb zögerte er nicht, als ich ihn bat, mir seine Knarre zu leihen. Ich wollte mich nur damit schützen, und er weiß, dass ich damit keinen Blödsinn machen würde, deshalb hat er mir die Pistole auch geliehen.« Kalla legte den massigen Kopf schräg. »Du hast mir doch am Telefon erzählt, dass wir zu Mitwissern geworden sind. Ich hänge doch an meinem Leben.«
»Ja«, nickte Heike und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Das sehe ich.« Sie drehte den Kopf zu Stefan. »Und warum hattest du es so eilig, zur Hütte zu fahren, nachdem wir in Beyenburg niemanden angetroffen hatten?«
»Ich habe eins und eins zusammengezählt, mehr nicht. Erinnerst du dich noch daran, was Jeanette Klinke gefragt hat, als wir sie spätabends noch besucht haben? Sie sagte, ohne dass wir etwas davon erwähnt hatten, dass ihr Mann nichts mit den drei Morden zu tun hatte. Mit drei Morden, verstehst du?« Stefan grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Woher wusste sie, dass es drei Morde waren?«
»Wohl wahr.« Heike nickte erstaunt.
»Außerdem hat sie mit irgendjemandem telefoniert, als wir aus dem Arbeitszimmer ihres Mannes kamen, erinnerst du dich? Sie sagte, dass der Gesprächspartner auf sich aufpassen solle - sinngemäß.«
»Es war Jan Rüben, mit dem sie telefoniert hat?« Heike konnte es nicht glauben. Plötzlich klang alles so logisch. »Er hat Danni entführt, eine Tat, die nicht abgesprochen war. Und er war es, der auf sich aufpassen sollte, weil die Polizei schon nach ihm und dem gestohlenen Golf fahndete.«
»Richtig.« Stefan strahlte. »Also habe ich meine Schlüsse gezogen. Zugegeben, dass sie ein Verhältnis mit Brechtmann hatte, darauf bin ich nicht gekommen. Aber das hat sie uns freundlicherweise ja selber erzählt.«
Kalla räusperte sich. »Ich werd dann man in die Cafeteria gehen, dann könnt ihr zwei noch ein bisschen alleine sein.« Er zwinkerte Stefan verschwörerisch zu. »Und du werd schnell gesund, Mädchen. Das Radio braucht dich. Und ich auch!« Er verließ den Raum. »Dem hast du es aber angetan«, grinste Stefan, als sie alleine waren. »Er ist ein echter Kumpel«, nickte Heike und rappelte sich im Bett auf. »Aber davon mal ganz abgesehen … was ist denn jetzt mit dieser Danni?«
»Sie war meine Sandkastenliebe, mehr nicht.« Stefan seufzte. Er hatte befurchtet, dass Heike dieses Thema anschneiden würde, sobald sie unter vier Augen waren. Immerhin war sie nach wie vor eifersüchtig.
»Mehr also nicht?«
»Nein - ich schwöre!« Stefan hob zwei Finger wie zum Eid und grinste schief. »Sie hat ein Kind, ist im Job schwer eingespannt und vielleicht abends einsam. Aber sie hat schnell kapiert, dass ich vergeben bin. Also - kannst locker bleiben!« Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. »Ich gehöre doch zu dir!« Heike beruhigte sich. »Wie geht es ihr jetzt?«
»Einigermaßen.« Schulterzucken. »Der Schock sitzt tief, man wird ja schließlich nicht jeden Tag entführt. Kommissar Ulbricht hat übrigens eine nette Frau kennengelernt.«
»Danni?« Heike machte große Augen.
»Nein«, lächelte Stefan. »Aber ihre Mutter. Er hat sie bei der Vernehmung heute Morgen kennengelernt. Und ich glaube, die beiden waren sich auf Anhieb sympathisch, erzählte mir Ulbricht jedenfalls vorhin, allerdings war die Entführung ein denkbar schlechter Zeitpunkt für Amor, seine Pfeile abzuschießen.« Er kehrte die Handflächen nach oben.
»Das wird auch Zeit, dass unser Kommissar Verdammt mal eine Frau bekommt«, erwiderte Heike. »Vielleicht ist er dann nicht mehr so grummelig.«
Stefan hatte da so seine Zweifel. »Das bleibt abzuwarten«, erwiderte er. »Ich hatte erwartet, dass sein Bild vom weiblichen Teil der Bevölkerung jetzt ein für alle Mal verdorben ist, nachdem er sich mit der Tatsache abfinden musste, dass eine Frau hinter den Morden steckt. Er war ziemlich überrascht, hatte scheinbar in eine andere Richtung ermittelt.«
»Es war schlimm genug für ihn, dass sich das LKA in die Sache eingemischt hat«, lächelte Heike. »Ein herber Rückschlag für sein Ego.«
»Er wird es überleben und freut sich schon auf den Ruhestand.«
»Wie geht es jetzt weiter?«
»Du wirst erst mal gesund. Die Kugel hat dich an der Schulter getroffen, und ich bin froh, dass sie dich nicht am Hals erwischt hat, denn dann würden wir uns wohl kaum unterhalten können. Die Ärzte sagen, dass du schon so gut wie über den Berg bist.« Schiefes Grinsen. »Aber nur unter einer Voraussetzung: Wir sollen in unserem Bericht über die ganze Geschichte dafür sorgen, dass die Mediziner nicht alle schlecht dastehen.«
»Das ist ja wohl Ehrensache«, schmunzelte Heike. Sie war froh, dass der große Arzneimittelskandal aufgeklärt war. Die Mörder saßen hinter Schloss und Riegel, aber alle anderen Beteiligten würden noch eine ganze Zeit lang mit der Sache zu tun haben. Das war ihr egal. Sie sehnte sich schon jetzt wieder nach dem Studio der Wupperwelle. Es war höchste Zeit, dass der kleine Sender mit einer heißen Story groß rauskam.