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Redaktion der Wupperwelle, 8:25 Uhr

Heike fragte sich, warum ausgerechnet sie immer das zweifelhafte Vergnügen hatte, dem Chefredakteur der Wupperwelle in die Arme zu laufen, wenn sie morgens zum Dienst erschien. Die anderen Kollegen an den Schreibtischen im Großraumbüro der Redaktion bedachten sie mit mitleidigen Blicken.

Stefan hatte Frühdienst und stand bereits im gläsernen Studio des kleinen Senders. Als er aus dem Haus gegangen war, hatte sie sich noch einmal im Bett umgedreht. Gut drei Stunden später war sie mit der Schwebebahn zum Alten Markt gefahren, von wo aus sie das Studio zu Fuß erreicht hatte.

Stefan fuhr die Frühsendung »Wupperwecker« und winkte ihr zu, als gerade ein Musikstück lief. Gern hätte sie ihn im Studio besucht, doch der Chefredakteur winkte sie zu sich. »Frau Göbel, schön, dass Sie da sind!« Michael Eckhardt strahlte. Schon am frühen Morgen war sein modisches Hemd mit Kaffeeflecken besudelt, die Krawatte hing auf halb acht, und die dunklen Haare standen ihm zu Berge. Vermutlich war er schon seit Stunden im Sender. Einige Kollegen munkelten sogar hinter seinem Rücken, dass er manchmal im Studio übernachtete.

»Kommen Sie kurz mit in mein Büro. Die Redaktionskonferenz wird schon nicht ohne mich beginnen.« Er grinste schief und zog Heike in sein Büro. Nachdem er die Tür ins Schloss gedrückt hatte, bot er ihr einen Platz und Kaffee an. Heike setzte sich und freute sich auf einen starken Kaffee vom Chef höchstpersönlich. Die Geräuschkulisse des angrenzenden Büros drang nur noch gedämpft an ihre Ohren. Eckhardt machte sich an der chromglänzenden Designerkaffeemaschine zu schaffen. Heike beobachtete ihn ein wenig amüsiert, wie er mit verkniffener Miene die Maschine in Gang setzte und schließlich stolz wie ein kleiner Junge grinste, als das teure Gerät die Arbeit aufnahm. Eckhardt war Mitte vierzig, nicht sonderlich groß, von normaler Statur. Er war Vollblutjournalist und lebte für die Wupperwelle. 

»Das sind ja tolle Nachrichten, die man von Ihnen hört«, eröffnete Eckhardt das Gespräch. Er setzte die Maschine in Gang und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer auf seinen ledernen Sessel sinken. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen betrachtete er die Reporterin. »Oh, neue Haarfarbe?«

»Ja.« Sie lächelte. Noch gestern Abend hatte Stefan mit ihr zum Drogeriemarkt im Bahnhof Döppersberg fahren müssen, der auch an den Wochenenden geöffnet hatte. Nach dem schrecklichen Ereignis auf Schloss Burg hatte sie das dringende Bedürfnis verspürt, ihre Haarfarbe und Frisur zu verändern. Stefan hatte das belächelt, ihr aber letzten Endes doch beim Färben im Bad geholfen. Eine ziemliche Sauerei war das gewesen, und die ganze Bude hatte nach der ätzenden Chemie des Färbemittels gestunken. Und sie hatte eine knappe Stunde das Bad putzen müssen, da die Farbe überall gelandet war, nicht nur auf ihrem Kopf. Aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen, und auch Stefan fand es »interessant und abwechslungsreich«, jetzt eine rothaarige Freundin zu haben.

»Steht Ihnen, nein, wirklich.« Eckhardt nickte anerkennend. Er betrachtete seine heißgeliebte Kaffeemaschine, die röchelnd ihren Dienst aufnahm. Würziger Kaffeeduft breitete sich im Büro aus. »Ich habe gehört, dass nicht gerade ein erholsames Wochenende hinter Ihnen liegt«, wechselte er schließlich das Thema und wurde ernst.

»Das kann man wohl sagen.« Eigentlich hatte Heike keine Lust, dem Chef haarklein von den Ereignissen zu berichten. »Wir hatten sogar einen Beitrag bei den Kollegen von Radio Berg-Land.«

»Ich weiß, ich weiß.« Beschwichtigendes Nicken, betroffene Miene. »Schließlich war es im Dienst der Sache, insofern habe ich keine Probleme damit, wenn wir mit den Kollegen kooperieren. Kommissar Ulbricht war so freundlich, mich im Vorfeld zu informieren.« Eckhardt grinste jovial. »Wie Sie wissen, sind wir befreundet. Und die Zusammenarbeit zwischen unserem Sender und den Behörden ist genau das, was ich mir lange schon gewünscht habe.« Heike hatte an diesem Morgen keine Lust auf Geplänkel. Ihre Nerven lagen blank, und sie war müde. »Was kann ich für Sie tun, Herr Eckhardt?«

»Bleiben Sie am Ball.« Er grinste eine Spur breiter. Der Kaffee war fertig, er sprang auf und füllte zwei Tassen. »Machen Sie einfach so weiter, wie es angefangen hat. Von mir haben Sie jede Unterstützung.« Der Chef des Senders reichte Heike eine Tasse. »Ich will eine heiße Story, dass Sie das können, haben Sie mir schon des Öfteren bewiesen!«    

Sie tranken schweigend. Dann fuhr er fort: »Übrigens gehört der BMW, der in den letzten Mordfall verwickelt ist, einem Freund von mir.« Eckhardt beobachtete sie über den Rand seiner Tasse. Abwartend, lauernd.

In Heike schrillten Alarmglocken. Deshalb musste sie also zu ihm kommen.

Entschuldigende Geste, mit schräg gelegtem Kopf. »Keine Angst, er ist in Ordnung, für ihn würde ich beide Hände ins Feuer legen.«

»Wie dem auch sei: Sein Auto wurde als Fluchtfahrzeug nach einem Mord genutzt«, stellte Heike fest.

»Entweder hat Herr Seiler ein falsches Nummernschild notiert, oder Reinhardt«, er machte eine Pause mit einem entschuldigenden Lächeln, »Herr Klinke, hat den Wagen kurzfristig verliehen. Immerhin ist er Autohändler, und da ist es nicht auszuschließen, dass er seinen Wagen verleiht, um Kaufinteresse bei einem potenziellen Kunden zu wecken.«

»Warum hat er das dann nicht der Kripo gesagt?«

»Das müssen Sie ihn schon selber fragen, fürchte ich.« Eckhardt stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und kehrte beide Handflächen nach oben. »Übrigens war ich gestern Nachmittag auch bei der Runde im Golfclub anwesend. Er war wie immer sonntags dort und ist wie immer nach dem Spiel mit seinem Jugendfreund nach Hause gefahren, um dort noch einen Drink zu sich zu nehmen.

Das tun sie immer, schon seit Jahren, eine alte und liebgewonnene Tradition der beiden.« Eckhardt lächelte versonnen.         

»Chef, ich muss feststellen… Sie verkehren in Kreisen, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, wirklich nicht.« Heike lächelte kokett. »Was treibt dieser Jugendfreund, mit dem er nach dem Match nach Hause gefahren ist?«

Eckhardt erhob sich und trat ans Fenster. Auf der B 7 floss der Verkehr vorüber. Eine Schwebebahn hatte soeben die Station »Alter Markt« verlassen und passierte die Kreuzung. Majestätisch erhoben sich die achtunddreißig Meter hohen Doppel-H-Pylonen in den wolkenfreien Himmel. Das charakteristische Quietschen der Bahn war nach der Modernisierung des Gerüsts auf der Strecke geblieben. Eckhardt hockte sich auf die Fensterbank und blickte hinaus. Die Wupper führte nicht sonderlich viel Wasser, und ein Fischreiher stelzte auf der Suche nach Beute durch den Fluss. Es war ein fast idyllisches Bild mitten in der Stadt.

»Er ist Mediziner, leitender Arzt an der Privatklinik Wiesenhang in Ronsdorf.«

»Er ist Arzt?« Heike verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. Das passte zu der Geschichte, die ihnen Monika Born kurz vor ihrem Tod erzählt hatte. Was, wenn die beiden gemeinsame Sache machten, der Autohändler und der Mediziner? Ein korrupter Arzt könnte möglicherweise ein Motiv haben, lästige Zeugen aus dem Weg zu räumen. Drei ungebetene Zeugen waren ihm gefährlich geworden - alle waren tot. Heike beschloss sofort, das Hauptaugenmerk auf den Chefarzt der Privatklinik zu lenken.

»Trauen Sie diesem Arzt einen Mord zu?«, fragte sie unvermittelt. Eckhardt blickte sich zu seiner Mitarbeiterin um. »Was soll diese Frage?« Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet.

»Ich meine, kennen Sie den Mann gut genug, um auszuschließen, dass er imstande wäre, einen Mord zu begehen, oder besser, drei Morde zu begehen?«

»Manchmal geht die Phantasie mit Ihnen durch, Frau Göbel.«

»Ich habe schon Pferde kotzen sehen«, erwiderte sie schnell und entschuldigte sich sofort für ihre Ausdrucksweise. »Und sind nicht die Zeitgenossen, denen man es am wenigsten zutraut, die grausamsten Mörder?«

»Ich kenne Dr. Brechtmann nicht gut genug, um ihn einschätzen zu können«, erwiderte Eckhardt etwas versöhnlicher. »Er ist ein netter Kerl, und ich sehe ihn fast immer auf dem Platz, wenn ich mir die Zeit zu einem Golfspiel nehme.« Er rutschte von der Fensterbank herunter und ging zum Schreibtisch zurück. »Vielleicht fragen Sie ihn selber einmal. Ich gebe Ihnen seine Nummer.« Er machte sich am Computer zu schaffen und druckte Heike einen Auszug aus seinem Adressbuch aus. »Aber gehen Sie um Himmels willen diskret vor.«

»Natürlich, Sie kennen mich doch«, lächelte Heike und warf einen Blick auf den Zettel. »Was ist das überhaupt für eine Privatklinik?«

»Schwerpunktmäßig plastische Chirurgie für Privatpatienten. Mit den Privaten ist das schnellere Geld zu verdienen«, erwiderte Eckhardt lächelnd. »Das deutsche Gesundheitswesen geht am Stock, aber da erzähle ich Ihnen ja nichts Neues.«

»Nein, leider nicht.« Heike beugte sich vor. »Denken Sie, ich kann Ihren Freund Reinhardt Klinke auch zu der Sache befragen?«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Frau Göbel. Aber wie ich schon sagte, möglicherweise hat er den Wagen zur Tatzeit verliehen. Und ehrlich gesagt kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Reinhardt an der Sache beteiligt ist.«

»Sie haben nicht zufällig gesehen, mit welchem Auto er gestern zum Golf gekommen ist?«

»Nein. Aber wenn Sie mögen, fragen Sie ihn einfach. Reinhardt ist ein umgänglicher Kerl, der wird Ihnen schon nichts antun.« Der Chefredakteur lächelte verlegen, als ihm - offenbar erst jetzt -bewusst wurde, dass der Wagen seines Freundes in einem Mordfall eine Rolle spielte. »Ich kann Sie auch gern bei ihm anmelden und einen Termin vereinbaren, wenn Sie mögen.«

»Nein danke, das wird nicht nötig sein.« Heike leerte ihre Tasse und stellte sie auf den Schreibtisch des Chefs. Sie erhob sich. In wenigen Minuten würde die tägliche Redaktionssitzung stattfinden, auf der die aktuellen Tagesthemen besprochen wurden, die im Programm laufen sollten. »Was liegt für mich an heute?«

»Recherche im Mordfall Peter Born und Co. Sie haben freie Hand, aber halten Sie mich auf dem Laufenden!« Eckhardt zwinkerte ihr zu und zupfte sich die Krawatte zurecht. »An der Konferenz müssen Sie nicht teilnehmen heute.«

Das war mehr, als Heike sich erhofft hatte. Der Tag konnte kommen.

*

»Sie hören die Wupperwelle, mein Name ist Stefan Seiler, schön, dass Sie uns eingeschaltet haben. Hier geht es jetzt weiter mit der besten Musik, hier kommt Pink und Sober…«

Mikro zu, Musiktitel an. Stefan wirbelte gekonnt zwischen zwei Monitoren herum. Auf dem einen hatte er seine Moderationstexte, auf dem zweiten Monitor die Musikliste mit den Zeitfenstern, die ihm für die Wortbeiträge bis zu den nächsten Nachrichten blieben. Langsam hatte er sich an die digitale Sendetechnik und an das virtuelle Mischpult gewöhnt.

Er setzte den Kopfhörer ab und machte es sich auf der Stehhilfe bequem. Heike hatte sich einen Hocker herangezogen und ihm zwischen den Beiträgen immer berichtet, was sie von Eckhardt erfahren hatte.

»Der Wagen, den ich gestern gesehen habe, gehört einem Freund von Eckhardt? Dann ist der Besitzer ein Mörder«, entfuhr es Stefan staunend. »Was hast du jetzt vor?«

»Erst einmal werde ich Reinhardt Klinke, dem Autohändler einen Besuch abstatten. Und danach werde ich überlegen, wie ich an den Chefarzt der Privatklinik komme. Wenn er so kalt und berechnend ist und tatsächlich hinter den Morden steckt, ist äußerste Vorsicht geboten.«

»Geh mal auf die Homepage der Klinik«, empfahl Stefan. »Vielleicht suchen die gerade Leute. Dann kannst du dich bewerben.«

»Stefan - ich habe keine medizinische Ausbildung. Jede PTA würde mir was vormachen!« Heike schüttelte den Kopf. »Oder ich fang dort als Putzfrau an«, lachte sie.

Der Musikbeitrag war zu Ende. Stefan setzte die Kopfhörer auf, führ die Musik herunter und schaltete das Mikro ein. Er moderierte einen Beitrag über die anhaltende Finanzkrise und deren Auswirkungen auf Wuppertal. Kein schönes Thema, aber es gehörte inzwischen zum Alltag. Nach der Moderation blendete er den O-Ton einer Sprecherin der Arbeitsagentur ein, darauf folgte ein Musiktitel. Mikro zu. Stefan hatte wieder Zeit für Heike. »Brauchst du den Käfer?«

Das sollte schon was heißen! Stefan verlieh seinen heißgeliebten Clemens nur äußerst ungern. Heike winkte lachend ab. »Danke, nein. Ich nehm mir ein Taxi.« Sie rutschte vom Hocker herunter und trat ans Mischpult. Heike küsste Stefan und umarmte ihn, dann ging zur gläsernen Tür. »Ich melde mich«, versprach sie und lächelte ihm zu.

»Hey«, rief Stefan ihr hinterher. Sie hielt inne und wandte sich mit fragendem Blick zu ihm um. »Du siehst gut aus mit deinen Haaren.«