Unterbarmen, 20:45 Uhr
Die Straße An der Bergbahn lag linkerhand. Er schaltete herunter und bog mit quietschenden Reifen ab. Stefan fand nur eine kleine Parklücke, aber er hatte es eilig. So parkte er schräg in der Parklücke, stieg aus und erreichte das unauffällige Mietshaus, in dem der Kommissar wohnte. Die Adresse hatte er sich vor einiger Zeit einmal notiert. Er legte den Finger auf den Klingelknopf und schellte Sturm. Es dauerte einen Augenblick, bis der Türsummer ertönte. Stefan hechtete die Stufen hinauf und suchte die offenstehende Wohnungstür. Er klopfte an, da ihn niemand am Eingang empfing.
»Herr Ulbricht, sind Sie hier?«, rief er in das Halbdunkel der Wohnung.
»Was wollen Sie denn hier, verdammt noch mal?«
Stefan drückte die angelehnte Wohnungstür ganz auf und schlüpfte in den Korridor. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht in der Wohnung gewöhnt hatten. Das Wohnzimmer lag am Ende des Flurs. Eine Tür mit geriffeltem Milchglas, dahinter brannte eine Stehlampe. Ulbricht hockte in Boxershorts und T-Shirt auf der Couch und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Vor ihm eine fast leere Bierflasche. Der Fernseher lief. Günther Jauch; er blickte anscheinend durch den Fernseher hindurch. Als er Stefan im Augenwinkel sah, wandte er träge den Kopf. »Sie nerven, Seiler.«
»Ich fürchte, darauf kann ich keine Rücksicht nehmen, Kommissar.« Als Antwort gähnte Ulbricht hingebungsvoll. »Was ist passiert?«
»Es geht um Entführung, reicht Ihnen das?« Stefans Stimme bebte. »Sie spinnen«, erwiderte Ulbricht mit großen Augen.
»Leider nicht, und jetzt kommen Sie zu Potte, Kommissar. Die Bekannte, die die geheime Patientenakte aus der Klinik entwendet hat, ist entführt worden. Ich habe einen Erpresseranruf bekommen.« Er berichtete dem sichtlich überraschten Ulbricht von dem Anruf, den er erhalten hatte. »Wenn Sie sich erinnern, wurde sie nach Dienstschluss verfolgt. Von einem Wagen, dessen Kennzeichen wir Ihnen genannt haben. Jetzt ist meine Bekannte verschleppt worden, und ich habe den dringenden Verdacht, dass der Mann, der sie beschattet hatte, damit in Zusammenhang steht. Da ist was im Busch, Ulbricht, und Sie sitzen auf der Couch und sehen fern!« Stefan hatte sich in Rage geredet. »Und telefonisch sind Sie auch nicht zu erreichen!«
»Mist, ich habe ganz vergessen, zurückzurufen«, entfuhr es Ulbricht. »Und dann bin ich eingeschlafen, Mist, verdammter. Weiß auch nicht, was mit mir los ist, Seiler.«
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Stefan ein wenig versöhnlicher. »Die Fahndung nach dem Wagen läuft, ich habe das gleich veranlasst.« Ulbricht erwachte von einer Sekunde zur anderen aus seiner Lethargie. »Entführung?«
»Ja, und sagen Sie mir nicht, dass das nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich fällt.«
»Nicht die Bohne.« Ulbricht erhob sich und murmelte eine Entschuldigung. »Ich war einfach todmüde. Ich muss vor der Flimmerkiste eingeschlafen sein, und dann …« Er grinste verlegen. »Naja, den Rest kennen Sie.« Er verschwand im Bad und pinkelte. Stefan hörte ihn plätschern, danach die Klospülung. Dann lief Wasser. »Geben Sie mir zwei Minuten«, rief er.
Stefan schwieg und tigerte durch die Wohnung. Als Ulbricht auf der Bildfläche erschien, bot er einen halbwegs passablen Anblick. Er hatte sich Hände und Gesicht gewaschen und seine Haare gekämmt. Nun lächelte er schief. »Ich werde langsam alt. Hau mich einfach nach Feierabend hin und schlafe ein, als wäre ich tot.« Kopfschütteln, während er in sein Hemd schlüpfte. »Das ist doch nicht normal.«
»Was ist eigendich mit Heinrichs? Soll das Ihr Nachfolger werden?« Ulbricht blickte ihn entgeistert an. »Was mit ihm ist? Das wollen Sie nicht wissen.« Er ging in den Flur, schlüpfte in die Schuhe und band sich die Krawatte.
»Ich bin froh, dass Sie bei der Kripo sind und nicht bei der Feuerwehr«, frotzelte Stefan. »Bei Ihrem Ankleidetempo wäre bestimmt schon so manches Haus abgebrannt.«
»Sparen Sie sich die dummen Sprüche.« Ulbricht nahm den Schlüssel aus der gläsernen Schale auf der Kommode und machte Anstalten zu gehen. »Worauf warten Sie?« Gemeinsam gingen sie nach unten. Es war ein lauer Abend.
»Sie fahren, ich habe schon zwei Bier getrunken.«
»Von mir aus.« Sie gingen zum Käfer, der mit dem Heck auf die Fahrbahn ragte.
Als Stefan aufschließen wollte, sah er den Wisch am kleinen Scheibenwischer klemmen. Ein Strafzettel, weil er »verkehrsgefährdend« geparkt hatte. Ein gefundenes Fressen für eine zufällig vorbeikommende Streifenwagenbesatzung. »Mist«, grollte er und nahm das Knöllchen an sich. »Diese Aasgeier, das waren doch höchstens fünf Minuten, außerdem war es ein Notfall.«
Sie stiegen ein, und wütend startete Stefan den Motor.
»Geben Sie her.« Ulbricht streckte die Hand nach dem Ticket aus und nahm es an sich. »Ich werde mich darum kümmern, gleich morgen. Manchmal sind die Kollegen etwas übereifrig.« Er grinste schief und ließ den Strafzettel in seiner Hemdstasche verschwinden. »Wissen Sie eigentlich, wie lange ich nicht mehr in einem Käfer gesessen habe?« Ein sentimentales Lächeln lag auf seinen Lippen. »Ich habe den Führerschein in einem Käfer gemacht. Ein Käfer war mein erstes Auto, und im Käfer habe ich … Sie müssen nicht wissen, was man mit den Halteschlaufen an den B-Säulen alles machen kann, wenn die Sitze erst einmal umgeklappt sind und man mit seinem Mädchen auf einer verschwiegenen Waldlichtung im Nordpark alleine ist. Und damals, im Autokino in Schwelm, es gab einen blechernen Lautsprecher und eine kleine Heizung, damit man sich in den knapp zwei Stunden, die der Film dauerte, nicht den Hintern abfror. Mein Gott, ich habe so verdammt viel erlebt in einem solchen Auto.«
Stefan hatte ein Déjà-vu. So etwas hatte er heute schon einmal gehört. Von Elfriede Winter. Er berichtete dem Kommissar von der alten Dame. »Sie war so freundlich, mich über Dr. Brechtmanns Verbleib zu unterrichten.«
»Wie bitte?« Ulbricht umklammerte den Haltegriff über dem kleinen Handschuhfach. Er blickte Stefan wie elektrisiert an. »Das sagen Sie mir erst jetzt?«
»Sie sind nicht ans Telefon gegangen«, erinnerte Stefan ihn.
Sie hatten die Kreuzung Fischertal/Gewerbeschulstraße erreicht, und Stefan ordnete sich rechts ein. Als die Ampel an der ehemaligen Fischertalapotheke auf Grün umsprang, gab er Gas. Jetzt befand sich auf der Ecke eine Fahrschule. Stefan fragte sich, ob sich die Menschen das Autofahren überhaupt noch leisten konnten, bei der anhaltenden Panikmache zur Finanzkrise und den immer weiter steigenden Fahrzeughaltungskosten. Die beiden mächtigen Türme des Heizkraftwerks ragten in den Abendhimmel über Barmen. »Er ist tatsächlich untergetaucht«, eröffnete er seinem Beifahrer auf Höhe des Hellas Grill. »Und zwar nach Wermelskirchen.« Die Ampel am Clef war rot. Stefan verspürte unwillkürlich den schweren Stein in seinem Herzen, als er an Danni dachte. Er betete, dass sie diese Geschichte auch überleben würde. Immerhin trug er eine Mitschuld an ihrer Entführung. Im Augenwinkel sah er Ulbrichts fragenden Blick und fuhr fort: »Er hat eine Hütte unweit der Dhünn-Talsperre. Niemand würde ihn da vermuten, und ich bin sicher, dass noch nicht einmal seine Nachbarn dort wissen, was er beruflich so treibt. Auf mich hat er übrigens ziemlich allergisch reagiert.«
»Sie waren dort?« Ulbricht schnaubte wütend.
»Ja. Und ich habe ihm gesagt, dass er ein ziemliches Arschloch ist.« Stefan bedachte den Kommissar mit einem fast entschuldigenden Seitenblick.
»Sind Sie verrückt, Seiler? Jetzt ist er gewarnt und wird von dort verschwinden, vielleicht diesmal wirklich untertauchen - weiß der Geier.« Ulbricht hieb auf den Gummigriff über dem Handschuhfachdeckel. »Warum haben Sie mich nicht vorher angerufen?«
»Sie waren…«
»Ja, ich weiß. Ich bin nicht ans Telefon gegangen, verdammt noch mal. Morgen werde ich ihn hochgehen lassen - die Akte wird bis dahin von einem Sachverständigen im Präsidium durchleuchtet worden sein, und dann wissen wir endlich mehr.«
»Haben Sie eine Fahndung nach dem Auto eingeleitet, dessen Fahrer meine Bekannte beschattet hat?«
»Sie hören mir wohl nicht zu, Herr Seiler. Natürlich fahnden wir bereits. In Wuppertal scheint er nicht mehr zu sein, deshalb werden wir die Fahndung morgen ausweiten.«
»Morgen, morgen«, äffte Stefan ihn nach. »Ich höre immer nur morgen. Wir haben es hier mit einem Entführungsfall zu tun. Eine junge Frau befindet sich in der Gewalt des großen Unbekannten. Wenn wir es hier mit unserem Dreifachmörder zu tun haben, dann brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären, dass Daniela George in Lebensgefahr ist.«
Ulbricht schüttelte den Kopf und blickte starr nach vorn. »Der Wagen der Entführer ist uns als gestohlen gemeldet worden. Wer es auch immer auf die Frau abgesehen hat, er hat sich gründlich auf die Entführung vorbereitet.« Die Ampel sprang auf Grün, und Stefan überquerte die B 7.
»Wohin fahren wir überhaupt?«
»Zur Wohnung meiner Freundin. Sie liegt am Sedansberg, das habe ich unterwegs von der Handy-Auskunft erfahren. Ich könnte mir vorstellen, dass wir dort eventuell einen Hinweis finden. Nach unserem Treffen im Luisen-Cafe ist sie sofort nach Hause gefahren, denn sie hat eine kleine Tochter, die, während sie arbeitet, von ihrer Mutter betreut wird. Soviel ich weiß, wohnt Danielas Mutter ganz in der Nähe. Vielleicht weiß sie mehr. Eine Möglichkeit wäre, dass Danni in ihrer Wohnung überfallen wurde. Da sie wohl kaum in der Schwebebahn entführt wurde, drängt sich mir der Verdacht auf, dass etwas bei ihr zu Hause passiert sein muss.«
Ulbricht hatte keine Einwände. Nach wenigen Minuten erreichten sie das Haus, in dem Dannis Wohnung war.
Ohne lange zu überlegen, legte Stefan die flache Hand auf das Klingelbrett, auf dem neben George noch sieben weitere Namen standen, und drückte alle Klingeln gleichzeitig. In einer anderen Situation hätte ihm dieser Klingelstreich einen Heidenspaß bereitet, doch jetzt war ihm nicht zum Lachen zumute. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis einer der netten Nachbarn den Türöffner drückte. Stefan stemmte sich gegen die Tür und trat ein. »Kommen Sie schon«, rief er über die Schulter. »Worauf warten Sie noch?«
»Immer wieder bemerkenswert, dass die Leute die Türe öffnen, ohne zu wissen, wer Einlass begehrt«, griente Ulbricht und folgte ihm. »So viel zum Thema ›wachsamer Nachbar‹«, brummte er kopfschüttelnd.
Im Treppenhaus rührte sich etwas. Jemand rief mit schwerer Zunge: »Wer ist denn da? Hallo?« Ein ungekämmter, verschlafen wirkender Kopf tauchte über dem hölzernen Geländer auf. Unrasiert, Unterhemd. Mehr war nicht zu sehen.
»Kriminalpolizei, das geht in Ordnung«, rief Ulbricht und hielt den Dienstausweis in die Höhe. Obwohl der Mann aus der Entfernung wahrscheinlich nicht einen einzigen Buchstaben erkennen konnte, nickte er zufrieden. »Na dann ist’s gut.« Der Kopf verschwand, im Haus wurde eine Tür zugeschlagen.
Ulbricht und Stefan tauschten einen vielsagenden Blick und erklommen die Stufen bis in das obere Stockwerk. Dannis Wohnung lag unter dem Dach in einer Schräge. Vermutlich hatte der geschäftstüchtige Vermieter den ungenutzten Dachboden zu einer weiteren Wohnung umgebaut, um so die monatlichen Mieteinnahmen zu steigern.
»Hier«, sagte Stefan und deutete auf die Einbruchspuren an der Wohnungstür. »Also lag ich gar nicht so falsch.« Er trat ein. »Habe ich das je bezweifelt? Wenn wir mal Leute suchen, werde ich Sie vorschlagen.« Der Kommissar folgte ihm.
»Die haben ganze Arbeit geleistet«, murmelte Stefan fassungslos, als er das Chaos in Dannis Wohnung sah. Nichts stand mehr an seinem Platz, die Täter hatten alle Schränke geleert und deren Inhalt auf dem Boden verteilt. Natürlich hatten sie etwas gesucht -und Stefan wusste auch, was sie gesucht hatten: die geheime Patientenakte. Doch die Täter hatten sie nicht gefunden. In ihrem Frust hatten sie die Möbel zerstört, hatten das Sofa im Wohnzimmer aufgeschlitzt und den sicherlich teuren Flachbildfernseher auf den Boden geworfen. Unvorstellbar, dass der Lärm, den sie dabei gemacht haben mussten, nicht die Nachbarn auf den Plan gerufen hatte. »Sie haben nicht gefunden, was sie gesucht haben.« Stefan schüttelte den Kopf.
Ulbricht war hinter ihn getreten. »Die geheime Akte, hm.«
»Exakt.«
Sie wanderten durch die verwüstete Wohnung. Dabei war es schwer, Einbruch- von Kampfspuren zu unterscheiden, sollte es denn welche gegeben haben. Stefan war sicher, dass man Danni hier aufgelauert hatte, um sie zu verschleppen.
Ulbricht fand zu altem Tatendrang zurück. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Während er auf eine Verbindung wartete, murmelte er drohend vor sich hin: »Jetzt aber das volle Programm. Spurensicherung, Handyortung des Erpressers, Fahndung nach dem Fahrzeug ausweiten, einfach alles, was mein Verein zu bieten hat!«