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Luisen-Cafe, 17:05 Uhr

Mist, dachte er, fünf Minuten zu spät. Er würde es nie schaffen, pünktlich zu sein. Obwohl es von seiner Haustür nur ein Katzensprung gewesen war, hatte Stefan den Käfer mitgenommen. Nach dem Treffen mit Danni würde er noch einkaufen fahren. Glücklicherweise hatte er einen Parkplatz direkt vor dem Café in der Luisenstraße gefunden. Als er mit dem vierzig Jahre alten VW einparkte, wurde er von gut zehn neugierigen Augenpaaren beobachtet. Sein Clemens war ein echter Sympathieträger geworden, dachte er lächelnd, während er ausstieg und die Tür abschloss. Mit seinem knappen halben Jahrhundert auf den Achsen trotzte der Käfer auch den kürzlich eingeführten Umweltzonen in der Stadt - einem ausgewachsenen Schwachsinn, den sich nur Bürokraten am Schreibtisch ausgedacht haben konnten, die von der Abgastechnik eines Autos nicht die leiseste Ahnung hatten. Er dachte daran, dass fünf Autobahnen direkt durch Köln führten, die Innenstadt aber zur Umweltzone erklärt worden war. Als wenn die Abgase, die die zigtausend Fahrzeuge auf der Autobahn ausschieden, genau dort bleiben würden. Seit Bestehen der Bundesrepublik hatten sich Politiker noch nie so einen Blödsinn ausgedacht. Der wachsenden Umweltbelastung musste man anders zu Leibe rücken als mit dieser Makulatur, die den Landtagen aus Berlin diktiert worden war. Vielleicht hätten sie Sachverständige zu Rate ziehen sollen, anstatt mit viel Propaganda Leuten mit schmalem Geldbeutel den fahrbaren Untersatz und somit die Einfahrt in die Wuppertaler Innenstadt seit Februar 2009 zu verbieten.

Gegenüber auf dem Laurentiusplatz standen die Verkaufswagen einiger Markthändler. Im gläsernen Café herrschte aufgrund der sommerlichen Witterung viel Betrieb. Kellner wieselten umher, und Stefan war froh, dass Danni das »Lui« vorgeschlagen hatte, hier ließ es sich hervorragend reden. Alle Tische vor dem Luisen-Cafe waren besetzt.

Majestätisch erhoben sich die beiden sandsteinfarbenen Türme der Laurentiuskirche in den wolkenlosen Himmel über Elberfeld. Das Ölbergviertel schmiegte sich dahinter an seinen Hügel. Ein Häusermeer aus Patrizierbauten der Gründerzeit, ein multikultureller Schmelztiegel der Stadt.

Stefan betrat das Luisen-Cafe und blickte sich suchend um. Danni saß bereits an einem der Tische auf der linken Seite. Vermutlich war sie im Gegensatz zu ihm pünktlich gewesen. Hinter der Theke rechterhand nickte ihm ein Barkeeper zu.

»So ganz ohne Nachwuchs?« Stefan setzte sich.

»Ich hab Lena bei meiner Mutter geparkt. Sie wohnt gleich um die Ecke, das ist wirklich kein Problem.« Sie rührte in einem Latte Macchiato und leckte den Schaum vom Löffel ab.

»Gut.« Stefan strahlte. »Also, ich bin gespannt, was ist dir noch eingefallen?«

»Kennst du Dr. Hackethal?«

Nachdenklicher Blick, Schweigen. Dann nickte er. »Klar, Julius Hackethal. Machte seinerzeit Schlagzeilen bundesweit, weil er aktive Sterbehilfe geleistet hat.«

Eine junge Kellnerin trat an den Tisch und fragte ihn nach seinem Wunsch. Stefan bestellte eine Cola. Als sie wieder alleine waren, fuhr er fort. »Hat Dr. Brechtmann auch aktive Sterbehilfe geleistet?«

»Noch nicht. Aber er würde es tun, keine Frage.«

»Ist das so verwerflich?« Stefan legte den Kopf schräg. »Ich meine, wenn jemand wirklich todkrank ist und tagein, tagaus leidet, ist es da nicht wirklich eine Erlösung, endlich sterben zu dürfen?« Mit der Euthanasie hatte er ein heikles Thema angesprochen. »Vielleicht, aber jeder Arzt schwört den hippokratischen Eid. Und genau den nimmt unser Chef nicht so ernst, fürchte ich.«

Die Cola kam, und sie schwiegen. Als die Kellnerin außer Hörweite war, nahm Stefan den Faden wieder auf. »Hast du eine Beobachtung gemacht, die diesen Schluss zulässt?«

»Er ist Geschäftsmann, aber kein Arzt, der Menschen helfen will.« Sie hatte es mit versteinerter Miene ausgesprochen. »Und, Stefan, da ist noch etwas.«

Stefan blickte sie fragend an und trank von seiner Coke. »Seitdem wir uns heute Mittag in der Klinik getroffen haben, werde ich verfolgt.«

»Du spinnst.«

»Leider nicht.« Kopfschütteln. »Als ich nach Ende der Schicht nach Hause ging, wurde ich verfolgt, von einem Typ in einem dunklen Wagen. Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hat rübergeschaut. So einer wie im Film, weißt du. Mit Sonnenbrille und Anzug. Wie von der Mafia.«

Stefan dachte sofort wieder an seine Idee, dass die Klinik Wiesenhang als Umschlagplatz einer Organmafia dienen könnte. Die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf. Ihm begann das Ganze über den Kopf zu wachsen.    

»Aber ich bin ja nicht blöd und habe mir das Nummerschild aufgeschrieben.« Danni strahlte und zog einen zerknitterten Zettel hervor. Die Ziffern waren eilig dahingekritzelt. Stefan nahm den Papierschnitzel an sich und warf einen Blick auf das Kennzeichen. »W-AK…« Die Nummer merkte er sich gar nicht erst. AK, dachte er und überlegte fieberhaft, zu wem ein solches Kennzeichen gehören könnte. »Autohaus Klinke«, murmelte er halblaut. »Vielleicht sollten wir den Halter abfragen lassen, um sicherzugehen, ob Klinke tatsächlich dahintersteckt.«

»Ob wer dahintersteckt?« Auf Dannis Stirn hatte sich eine Falte gebildet.

»Ach nichts«, brummte Stefan. »Ich habe da nur so eine Idee, wem der Wagen gehören könnte. Was aber nichts heißt. Sag mal, hast du eine Ahnung, was Brechtmann privat treibt?«

»Nicht wirklich. Er gehört einem Club an, der sich angeblich sozial schwächeren Schichten annimmt. Aber das passt nun wirklich nicht zu Brechtmann. Eine Maskerade, um den wohlwollenden Medizinmann raushängen zu lassen, mehr ist das nicht.« Sie leerte ihren Latte, wischte sich den Schaum über dem Mund mit dem Handrücken ab und bestellte bei der Bedienung Nachschub. »Du hast heute Mittag erzählt, dass es einen Toten gegeben hat. Einen Patienten, der Brechtmann quasi unter dem Messer gestorben ist. Man hat ihn schnell verschwinden lassen und argumentiert, dass er sich im Falle eines Todes die Verbrennung gewünscht hatte…«  

»Deshalb hatte ich dich angerufen. Und das ist vermutlich auch der Grund, weshalb ich verfolgt werde.« Ein ängstlicher Blick durch die Glasfront nach draußen. Passanten schlenderten vorüber. Niemand schien sich für Danni zu interessieren. »Ich hatte keine Möglichkeit, dir das in der Klinik zu erzählen.« Danni zog ihre Handtasche hervor und wühlte darin herum. Dann zog sie einen zusammengerollten Schnellhefter hervor. »Die Akte des Patienten. Die inoffizielle Krankenakte, wenn du so willst. Dürfte dich als Reporter interessieren, Stefan.« Ein Augenzwinkern. »Aber bitte halt mich da raus.«       

»Versprochen.« Stefan nahm den Schnellhefter an sich und blätterte darin herum, doch Danni packte ihn am Handgelenk. »Nicht hier«, stieß sie hervor. »Ich werde verfolgt, hörst du mir nicht zu?« Sie blickte durch die große Glasfront des Cafés nach draußen. »Wir sitzen hier fast auf dem Präsentierteller. Pack das Ding weg und lies es dir zu Hause durch, aber nicht hier. Ich hänge an meinem Leben, und irgendetwas sagt mir, dass ich da eine heiße Geschichte aufgetan habe.«

»Erzähl mir, was drinsteht.« Er legte den Hefter auf den Schoß und beide Hände flach auf den Pappdeckel.

»Das ist die Krankenakte von Franz Dahlhaus. Dem Patienten, der Brechtmann unter dem Skalpell gestorben ist. Wie ich heraus gefunden habe, gibt es zwei Krankenakten, eine offizielle… und diese hier. Ich kann mit einem der Assistenzärzte ganz gut, und deshalb hatte ich Zugriff auf die Akte. Er weiß es nicht. Aber zurück zu Dahlhaus. Es war keine Operation im eigentlichen Sinne - es war eine recht einfache Behandlung. Sagt dir der Name BPSD etwas?«

»Nein, klär mich auf. Ist das eine Krankheit?«

»Ja - Demenz oder Alzheimer. Es gibt verschiedene Mittel, um den Verfall zu behandeln. Man erhöht den Acetylcholinspiegel im Gehirn, wodurch die Signalweiterleitung der Neuronen verbessert wird. Nicht ganz ungefährlich, aber diese Mittel mindern die Aktivität von Acetylcholinesterase. Das ist das wichtigste Enzym beim Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt. So kann man Wahnvorstellungen mindern.«

»Verschon mich mit Fachchinesisch!« Stefan hob abwehrend beide Hände. »Erklär es mir so, dass es ein einfacher Radioreporter auch versteht!«

Danni lachte amüsiert, dann fuhr sie fort. »Der Patient leidet unter Störungen im Gehirn. Depressionen, Schlafstörungen und Wahnvorstellungen gehören zum Krankheitsbild. Dahlhaus war Ende fünfzig und litt schwer an Demenz. Bei ihm waren es die Wahnvorstellungen, die sein Leben zu einem einzigen, wahren Albtraum machten. Kein Medikament konnte ihm helfen. Allerdings versprach Brechtmann ihm ein Mittel, das Abhilfe schaffen würde. Nicht in Form einer Tablette, nicht als Spritze. Es gibt ein neumodisches Gerät, das dem Patienten eingepflanzt wird und das kontinuierlich den Wirkstoff abgibt.« 

»Das kenne ich als Verhütungsmittel«, grinste Stefan. »Und ich kenne es als Behandlungsmethode bei Diabetes. Dieses Gerät schüttet das Insulin gleichmäßig aus.«

»Richtig, das ist vergleichbar.« Danni nickte. Der zweite Latte kam an den Tisch. Sie tunkte das Plätzchen in die Sahne und knabberte daran. »Nur mit dem Unterschied, dass diese Behandlungsmethode noch nicht freigegeben wurde.«

»Brechtmann macht Experimente.« Stefans Augen wurden groß. »Und du hast es schriftlich.« Danni deutete auf den Schnellhefter unter dem Tisch. »Sein Patient, Dahlhaus, war Versuchskaninchen, ohne es zu wissen. Demenz zu behandeln ist eine Wissenschaft für sich. Es gibt unzählige Studien mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Alle Studien kommen jedoch immer zum gleichen Schluss: Die Einnahme von Psychopharmaka sollte auf ein Minimum beschränkt werden. Brechtmann tut aber genau das Gegenteil: Er setzt seinem Patienten ein Gerät ein, das den Wirkstoff permanent an den Körper abgibt. Und es gibt keine offizielle Freigabe - weder für das Gerät, noch für das eingesetzte Medikament. Das Ergebnis kennen wir - Franz Dahlhaus ist tot. Er wurde unmittelbar nach seinem Ableben aus der Klinik geschafft, dem Bestatter zugeführt und danach ins Krematorium gebracht. Seine Leiche wurde verbrannt, weil seine Frau es wünschte. Das steht jedenfalls in den Unterlagen. Somit sind alle Beweise vernichtet, und Brechtmann wäscht seine Hände in Unschuld.«

»Du hast anfangs die Sterbehilfe erwähnt. Was hat das mit dem Toten zu tun?«

»Ich weiß nicht, aber Hackethal war auch ein streitbarer Arzt, so wie Brechtmann es ist. Und je nachdem, wie weit die Demenz bei dem Patienten schon fortgeschritten war, könnte er seinen Tod auch als Sterbehilfe empfunden haben.«

»Woher weißt du das alles?«

»Von Carlos. Er ist ein junger Assistenzarzt und wohl scharf auf mich, deshalb erfüllt er mir jeden Wunsch. Und er hat mich alleine in dem Raum zurückgelassen, in dem die geheimen Akten aufbewahrt werden. Vermutlich macht er sich jetzt meinetwegen Hoffnungen.« Sie kicherte kurz. »Nicht so, wie du denkst. Wir verstehen uns ganz gut - kollegial, mehr nicht. Carlos war dabei, als Brechtmann den Eingriff vorgenommen hat.«

»Klingt, als wäre dein Carlos unser Kronzeuge.«

»Er ist nicht mein Carlos.« Sie klang jetzt fast ein bisschen beleidigt. »Außerdem hat er gesagt, ich solle um Gottes willen niemandem etwas verraten, weil er sonst sicherlich auch dran sei. Er hätte den Eingriff verhindern müssen.«

»Hätte Brechtmann sich von ihm aufhalten lassen?«

»Wohl kaum.«

»Du wirst deinen Job verlieren, wenn du auffliegst.«

»Dann fang ich beim Radio an. Storys finde ich schon.«

Stefan nickte. »Das hast du eben eindrucksvoll bewiesen.« Unter dem Tisch waren die Unterlagen für zufällig vorbeikommende Passanten, die einen Blick ins »Lui« warfen, unsichtbar. »Damit bezichtigst du Dr. Brechtmann, Medikamente an Patienten auszuprobieren, die keine Freigabe haben. Brechtmann kassiert von dem Pharmakonzern sicherlich Unsummen für diese illegale Leistung. Das verstößt gegen die Menschenwürde, und Brechtmann wird der Korruption überführt.« Stefan überlegte, ob Brechtmann tatsächlich an drei Morden beteiligt gewesen sein könnte. Steckte der angesehene Mediziner hinter den Morden? Immerhin hatte er den Tod von Dahlhaus für die Durchführung seiner Experimente in Kauf genommen. Fahrlässige Tötung war ihm so gut wie sicher nachzuweisen.

»Es ist ein ziemlicher Hammer. Ich habe Angst, Stefan. Vielleicht sollte ich zur Polizei gehen.«

Stefan nickte. »Ist vielleicht wirklich nicht die blödeste Idee.« Er zückte das Handy und wählte Ulbrichts Nummer. Das Freizeichen ertönte, aber Ulbricht meldete sich nicht. Scheinbar hatte er heute früher Feierabend gemacht. »Der hat Nerven«, brummte Stefan. »Es hat drei Morde gegeben, und er geht pünktlich nach Hause.« Er unterbrach die Verbindung und wählte Ulbrichts Handynummer. Endlich erreichte er den Kommissar. Kurz und präzise schilderte er ihm, was er von Danni erfahren hatte. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.« Mehr sagte er dazu nicht.