Wupperwelle, 10:15 Uhr
»Da hat jemand für dich angerufen, als du auf Sendung warst«, rief Roland Kracht ihm hinterher, als er am Arbeitsplatz des Nachrichtenredakteurs vorbeimarschierte. Stefan blieb stehen und wandte sich zu dem Kollegen um. Es war nichts Besonderes, dass eingehende Anrufe während der laufenden Sendung beim Nachrichtenredakteur landeten. An Krachts vielsagendem Grinsen erkannte Stefan, dass dieser Anruf aber doch etwas Besonderes gewesen sein musste. Stefan zog eine Augenbraue hoch. »Ach ja?«
»Eine nette junge Frau hatte offenbar Sehnsucht nach dir.«
»Heike?«
»Was die dazu sagen wird, würde mich offen gestanden auch interessieren«, feixte Kracht. Er wühlte in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch und hielt Stefan einen Zettel mit einer eilig aufgekritzelten Nummer hin. »Hier«, sagte er. »Das ist die Nummer der jungen Dame. Sie schien es ziemlich eilig zu haben, sich mit dir zu treffen.« Kracht zuckte die Schultern. »Geht mich ja nichts an, aber ich frage mich wirklich, was Heike davon hält.«
»Wovon?«
»Von dieser Frau hier. Daniela George. Sie behauptet steif und fest, dich seit Ewigkeiten zu kennen.« Wieder grinste er blöde. »Was das wohl zu bedeuten hat?«
»Das werde ich klären«, brummte Stefan, dem die dummen Sprüche des Kollegen auf die Nerven gingen. Er hatte sich nichts vorzuwerfen und war glücklich mit Heike. »Aber sollte eine heiße Story daraus werden, sag ich dir selbstverständlich früh genug Bescheid.« Er schnappte sich den Zettel und ließ den Nachrichtenredakteur zurück. Kracht blickte ihm lange nach, wandte sich dann kopfschüttelnd wieder seinen Nachrichten zu. In wenigen Minuten hatte er Sendung.
Während Stefan das Großraumbüro durchquerte und den Zettel zwischen Daumen und Zeigefinger bewegte, überlegte er, woher er den Namen Daniela George kannte. »Hat sie gesagt, um was es geht?«, rief er quer durch die Redaktion.
Kracht schüttelte stumm den Kopf.
»Wahrscheinlich um Unterhaltszahlungen«, spottete er und wich einem Radiergummi, den Stefan in seine Richtung warf, geschickt aus. Kichernd konzentrierte er sich wieder auf die Arbeit, als Eckhardt auf der Bildfläche erschien und erst Stefan, dann Roland Kracht mit einem fragenden Blick bedachte.
Stefan ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und blickte nachdenklich auf die Telefonnummer, eine Handynummer. Dann dämmerte es ihm. Mit Daniela hatte er seine Kindheit verbracht. Sie hatten gemeinsam im Sandkasten gespielt. Dannis Eltern hatten im Nebenhaus gewohnt, und so waren die beiden quasi als Nachbarskinder aufgewachsen und hatten den gleichen Kindergarten und die gleiche Grundschule besucht. Als Kind hatte Danni immer behauptet, mit dem Schauspieler Götz George verwandt zu sein, was ihr natürlich niemand abgenommen hatte. Nach dem Ende der Schule waren die Eltern weggezogen, und so hatten sie sich aus den Augen verloren.
Heute, in Zeiten von »schülerVZ« und »Stay Friends«, sicherlich undenkbar, doch in den späten Siebzigern Realität. Damals hatte es ja auch nur drei Fernsehprogramme gegeben, und Handys und Internet gab es höchstens in Science-Fiction-Filmen. Nach Barbapapa und der Sesamstraße ging es ins Bett, harte Zeiten waren das gewesen, dachte Stefan lächelnd und tippte ihre Nummer ein. Er dachte an die Tage, die er mit der kleinen Danni verbracht hatte. Eine schöne Zeit war das gewesen, und er freute sich, dass sie sich offenbar an ihn erinnert hatte. Warum trug sie denn noch ihren Mädchennamen - war sie noch nicht verheiratet?
»Hallo Stefan, das ist ja super, dass du dich so schnell meldest!« Sie freute sich anscheinend, seine Stimme zu hören.
»Du hast angerufen?«, eröffnete er das Gespräch. »Was treibst du denn so? Bist du wirklich Tierärztin geworden?«
»Nein,« lachte sie. Sie klang sympathisch. »Ich bin keine Tierärztin geworden, sondern arbeite als Assistenzärztin in einer Klinik. Dich höre ich ja fast jeden Morgen im Radio.«
Stefan wurde sofort hellhörig. Er dachte an die Geschichte, die sie von Monika Born erfahren hatten. »Was kann ich für dich tun?«, übte er sich in Geduld. Es war noch nie seine Stärke gewesen, mit der Tür ins Haus zu fallen.
»Ich habe eine ziemlich heftige Geschichte für dich, Stefan.« Plötzlich klang ihre Stimme belegt. »Das Thema ist ziemlich brisant, deshalb möchte ich es dir anvertrauen.«
»Das ehrt mich, Danni.« Er lachte jungenhaft. »Krieg ich einen Tipp, worum es geht?«
»Nicht am Telefon.« Sie klang gehetzt. »Besuch mich einfach, dann reden wir. Vielleicht interessiert es dich - vielleicht hältst du mich auch einfach nur für total verrückt.«
»Gut, lass uns treffen. Wann und wo?«
»Wann hast du Zeit?«
»Von mir aus in einer halben Stunde. Ich habe Feierabend und bin auf dem Weg ins Bett. Vielleicht hast du die Morgensendung gehört? Wenn du magst, nehm ich mir aber gern Zeit für eine alte Freundin und eine interessante Geschichte.«
»Das passt, ich habe gleich Pause. Komm in die Klinik Wiesenhang, dort arbeite ich. Jetzt muss ich aber wirklich Schluss machen. Wir haben gleich Visite. Ich freu mich!«
Sie hatte aufgelegt.
Stefan starrte wie elektrisiert auf den Telefonhörer in seiner Hand, dann legte er auf.