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Ohligsmühle, 18:40 Uhr 

Ein Blick auf die Uhr im Handydisplay. Gut, wenn sie gleich nach Hause kam, würde sie Lena bei der Mutter abholen und bettfertig machen. Sie war gut in der Zeit, war noch ein wenig durch die Elberfelder City geschlendert, um sich abzulenken. Danni hatte mit dem Gedanken gespielt, den Job als Ärztin in der Privatklinik Wiesenhang hinzuschmeißen. Dort liefen linke Geschäfte, und das war nun wirklich nicht das, was sich die junge Frau unter einem Beruf im Gesundheitswesen vorgestellt hatte. Sie wollte Menschen helfen. Auch das Gespräch mit Stefan Seiler hatte sie sich ein wenig anders vorgestellt. Er schien in festen Händen zu sein - schade. Immerhin hatte er es geschafft, einen wichtigen Kriminalhauptkommissar aus dem Feierabend zu holen. Ulbricht war in Begleitung eines flippigen Typen mit blonden Haaren und blauer Brille rausgekommen und hatte sich angehört, was sie zu sagen hatte. Es war ihm nicht möglich gewesen, sie unter Personenschutz zu stellen. Nach dem Besitzer des Wagens, der sie verfolgte, hatte er eine Fahndung einleiten lassen. Die Akte des verstorbenen Patienten hatte er an sich genommen und ihr versprochen, mit den darin enthaltenen Informationen einen Fachmann im Präsidium zu betrauen. Doch davon hatte Danni nicht sonderlich viel. Die Angst vor dem unheimlichen Verfolger war geblieben.

»Die personelle Situation ist dramatisch, ich habe keine Leute, verstehen Sie?«  

Natürlich hatte sie verstanden. Sie war ja nicht blöd. Und trotzdem fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut. Kommissar Ulbricht war nach etwas mehr als fünf Minuten wieder verschwunden. Immer wieder blickte sie sich ängstlich um. Niemand verfolgte sie. Hatte die Fahndung schon etwas gebracht, und man hatte den Verfolger geschnappt und zur Rede gestellt? Sicher fühlte sie sich trotzdem nicht. Sie betrat den Bahnsteig der Schwebebahnstation. Ein paar wartende Fahrgäste marschierten auf und ab oder hockten auf den Bänken der Station.       

Ausdruckslose Mienen, Wartegesichter.

Niemand interessierte sich für sie. Es dauerte keine zwei Minuten, bis die orange-blaue Bahn mit einem leisen Surren in die Station einlief. Im Fahrerstand ein gelangweilt dreinblickender Fahrer. Die vier Türenpaare glitten ratternd zur Seite und spuckten Fahrgäste aus. In der Bahn Mief. Sie bestieg den leicht am Gerüst schwankenden Zug und ergatterte einen der cremefarbenen Plastikschalensitze hinter dem Fahrer. Warten. Dann schlossen sich die Türen, und die Bahn fuhr an. Jetzt lag die Wupper unter der Bahn. Früher, in der Schule, hatte sie gelernt, dass man die Wupper, die sich über rund hundertfünfzehn Kilometer Länge erstreckte, bevor sie bei Leverkusen in der Rhein mündete, früher auch als den »schwarzen« oder den »bunten« Fluss bezeichnet hatte. Dies war zum einen auf die zunehmende Anzahl der Haushalte, die sich am Flusslauf ansiedelten, zurückzuführen gewesen. Die Hauptursache waren jedoch die zahlreichen Textilfärbereien gewesen, die ihr Abwasser ungeklärt in den Fluss abgeleitet hatten. Damals waren Begriffe wie Wasser- oder Naturschutz völlig unbekannt gewesen, und so war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Fischerei in der Wupper der Vergangenheit angehörte. Inzwischen gab es scharfe Umweltschutzvorgaben für Industriebetriebe, die am Ufer lagen, und der Fluss lebte heute wieder. Neben fast dreißig anderen Fischarten tummelten sich heute wieder Aale, Lachse und Bachforellen in der Wupper, und der natürliche Fischfeind der heutigen Zeit war der Graureiher, der sich ab und zu mit majestätischen Flügelschwingen und lebendiger Beute im Schnabel aus dem Fluss erhob.

Das Gebäude der Industrie- und Handelskammer lag rechterhand, direkt dahinter folgte der Sparkassenturm. Die Fahrt dauerte keine drei Minuten, bis die Schwebebahn in die Station Döppersberg rollte. Sanft verzögerte der Zug.

Tauben flatterten aufgeschreckt ins Freie. Danni blickte sich im Sitz um. Niemand schien sie zu verfolgen. Sie hatte ein ungutes Gefühl, seitdem sie die geheime Akte aus der Klinik entwendet hatte. Eigentlich war sie viel zu ehrlich und viel zu feige, um irgendetwas mitgehen zu lassen, aber ihr stark ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit hatte gesiegt. Es war höchste Zeit, dass diesem Brechtmann mal jemand auf die Finger schlug. Ein Mann war gestorben, und sie wusste nicht, ob der arme Kerl das erste Opfer gewesen war.

Ihre Gedanken kreisten um die Machenschaften von Dr. Brechtmann, während die Bahn weiter in Richtung Barmen fuhr. Nachdem der orange-blaue Zug die Bundesallee überquert hatte und linkerhand das große Kino und wenig später das Schauspielhaus auftauchte, wurde es an der Station Landgericht leerer. Einige Leute stiegen gut gelaunt aus, um sich einen netten Abend im Kino zu gönnen. Danni konnte es recht sein. Vielleicht sollte sie sich auch mal wieder eine Auszeit gönnen. Ein netter Abend, ein verlängertes Wochenende in einer anderen Stadt - aber mit wem nur, fragte sie sich seufzend. Stefan wäre schon ein Kandidat, doch der war ja bereits vergeben. Nachdem sie sich heute getroffen hatten, war da gleich wieder diese Vertrautheit gewesen, die sie schon damals, als Kind, an ihm so sehr geliebt hatte. Er war ein Typ, mit dem man Pferde stehlen konnte, der einem aber auch stundenlang zuhören konnte, wenn man sein Herz ausschütten wollte. Zu schade, dass er mit Heike Göbel zusammen war. Danni kannte Heike nur aus dem Radio; ihr Name war ihr geläufig, aber persönlich war sie Stefans Herzdame noch nie über den Weg gelaufen. Vielleicht war das sogar ganz gut so, dachte sie ein wenig wehmütig.

Draußen flogen jetzt alte Fabrikgebäude am Wupperufer vorüber. Danni konnte in die hohen Räume blicken, die sich teilweise mit der Schwebebahn auf gleicher Höhe befanden. Als die Bahn schließlich in die Station »Alter Markt« einrollte, erhob sie sich, die Türen der Bahn öffneten sich, und Danni stieg aus. Sie zwang sich, Stefan zu vergessen, und freute sich auf ihre dreijährige Tochter Lena, die den Tag wie immer bei ihrer Mutter verbracht hatte, damit sie ihrem Beruf nachgehen konnte. Sie war froh über die Unterstützung der Mutter, denn ansonsten wäre sie nicht in der Lage gewesen, einen Vollzeitjob auszuüben, was wiederum mit sich gebracht hätte, dass sie finanziell auf keinen grünen Zweig gekommen wäre. Lenas Vater hatte sich noch vor der Geburt aus dem Staub gemacht, weil er mit seiner bevorstehenden Vaterrolle nicht zurechtgekommen war. Das hatte er zumindest Danni erzählt, als er Hals über Kopf seine Siebensachen gepackt und sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Danni kannte den wahren Grund: Längst schon hatte er sich eine junge Blondine angelacht, mit der er jetzt zusammen war. An seiner kleinen Tochter hatte er keinerlei Interesse, und der Unterhalt kam jeden Monat über das Jugendamt auf ihr Konto. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu Jörg, und das war auch gut so, denn immerhin hatte er sie hochschwanger sitzen lassen und sich nicht um sie gekümmert.

Nach einem knapp zehnminütigen Fußmarsch erreichte sie ihre Wohnung, die im Dachgeschoss eines Altbaus an der Sedanstraße lag. Im Briefkasten eine Zeitung und zwei Rechnungen, nichts Besonderes. Sie erklomm die Stufen nach oben. Im zweiten Stock spielte einer der Nachbarn überlaut Musik. Kid Rock plärrte mit All Summer long durch das Treppenhaus, und der Bewohner der Wohnung, ein mindestens fünfunddreißigjähriger Student mit langen Haaren, grölte den Refrain Sweet home Alabama mit. Das knochige Gitarrensolo war mindestens so prägnant wie bei Smoke on the Water von Deep Purple, fand Daniela lächelnd. Eine Etage weiter oben roch es nach angebranntem Fisch.

Als sie vor ihrer Wohnungstür angekommen war, erschrak sie. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Zwischen der Tür und dem Rahmen hatte sich jemand mit einem Gegenstand zu schaffen gemacht und das Schloss ausgehebelt. Dabei musste er entweder sehr geschickt vorgegangen sein oder einen Heidenlärm veranstaltet haben. Daniela wunderte sich darüber, dass niemand der Nachbarn etwas von dem Einbruch mitbekommen hatte. Eigentlich war Daniela ein sehr vorsichtiger Mensch. Wie immer, so hatte sie sich auch heute Morgen vergewissert, die Tür abgeschlossen zu haben. Ihr wurde heiß. Zitternd setzte sie einen Fuß in die Wohnung, hielt den Atem an und lauschte. Drinnen herrschte Ruhe. Möglicherweise hatte sie den oder die Einbrecher auf frischer Tat ertappt, und die Diebe befanden sich noch in ihrer Wohnung. Sie versuchte keinen Lärm zu machen, trat ein und lauschte in die Wohnung hinein. Nichts, kein Geräusch drang an ihre Ohren. Es dauerte einen Moment, bis sie sich an das schummrige Licht in der kleinen Diele gewöhnt hatte.

»Hallo?«, rief sie und erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. »Hallo, ist hier jemand?« Sie zitterte am ganzen Leib. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Nachdem sich niemand meldete, blickte sie in die Küche und erschrak. Jemand hatte ganze Arbeit geleistet. Die Schränke standen sperrangelweit offen, die Einbrecher hatten den Inhalt auf dem Boden zerstreut. Geschirr war zu Bruch gegangen. Sogar den Abwasch in der Spüle hatte man zu Boden gefegt. Der Kaffeefilter war umgekippt und bildete einen hässlichen braunen Kranz auf den Fliesen. »Oh nein«, entfuhr es Danni. Es schien, als wäre nichts mehr heil geblieben. Danni presste eine Hand vor das Gesicht und wagte kaum, einen Blick in die anderen Zimmer zu werfen. Als sie das Wohnzimmer betrat, bot sich ein Bild der Verwüstung. Der große Flachbildfernseher lag auf dem Boden, man hatte ihr die Polster der Couch mit einem Messer aufgeschlitzt. Das Innenleben quoll heraus. Tisch und Sessel hatten die Einbrecher ebenfalls umgeworfen. Die Angst wurde von einer ohnmächtigen Wut verdrängt. Sie würde Wochen brauchen, bis wieder alles hergerichtet war. Das Mobiliar zahlte die Versicherung, aber sie war sicher, dass auch persönliche Erinnerungsstücke unwiederbringlich zerstört worden waren. Danni war sicher, dass die Einbrecher etwas ganz Bestimmtes gesucht hatten. Und sie hatten es nicht bei ihr gefunden. Die Akte hatte sie bereits an Stefan weitergegeben, und der hatte sie wiederum an Kommissar Ulbricht übergeben. Die Einbrecher waren zu spät gekommen; sie hatten ihr Heim völlig unnötig kurz und klein geschlagen.

Danni glaubte nicht an einen Zufall.

Sie wühlte in der Tasche nach dem Handy herum. So schnell wie möglich musste sie Stefan warnen. Er befand sich in Gefahr, und er besaß die Kontakte zur Polizei. Mit zitternden Fingern hielt sie das Telefon in der Hand. Da sie Stefans Nummer zuletzt gewählt hatte, musste sie nur die Wahlwiederholung drücken. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das Freizeichen ertönte. »Mach schon, mach schon«, flehte sie und zuckte zusammen, als sie direkt hinter sich ein Geräusch vernahm.     

Daniela wirbelte auf dem Absatz herum und sah einen großen Schatten, der sich bedrohlich vor ihr aufbaute. Noch bevor sie zu einem Schrei ansetzen konnte, spürte sie einen harten Schlag am Kopf. Ein kehliger Laut kam über ihre Lippen, und sie fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Das Handy fiel zu Boden und zerbarst in seine Einzelteile. Lichtblitze explodierten für den Bruchteil einer Sekunde vor ihren Augen. Dann wurde es dunkel um sie herum.