Lennep, 11:20 Uhr
Die Straße beschrieb einen sanften Bogen und führte dann steil nach oben zur Panzertalsperre. Stefan schaltete in den zweiten Gang zurück, und dennoch brummte der Boxermotor im Heck des Käfers gequält auf. Sie hatten sich, nachdem sie Baumgart telefonisch nicht erreicht hatten, in den Käfer gesetzt und sich auf den Weg nach Remscheid gemacht. Auf der Straße war niemand unterwegs.
»Und hier soll der wohnen?«, fragte Stefan etwas missmutig. Nach der nächsten Kurve erblickten sie rechterhand einige Fachwerkhäuser, die sich an den Hang zu schmiegen schienen.
»Ist doch ganz nett hier«, erwiderte Heike grinsend. Sie beugte sich im Sitz vor und versuchte die Hausnummern zu erkennen. »Nicht so schnell«, rief sie. »Da vorne ist es schon.«
Stefan nickte und lenkte den Käfer an den Straßenrand. Hinter einem kleinen Vorgarten lag eines der für diese Gegend so typischen Fachwerkhäuser mit verschieferter Fassade. Grüne Fensterläden und eine ebenso grüne Haustür rundeten das Bild ab. Am Zaun, der das Grundstück umgab, blätterte die Farbe ab, ansonsten schien das Haus recht gut in Schuss zu sein. »Nicht gerade das, was man sich als das Heim eines Taxifahrers vorstellt.« Stefan betrachtete das Haus und schaltete den Motor des Käfers ab. Heike hatte bereits den Sicherheitsgurt gelöst und stieg aus. Es war ein sonniger, aber frischer Morgen. Auf den Wiesen glänzte der Morgentau in der Sonne. Irgendwo in der Ferne kläffte ein Hund. Es war eine fast dörfliche Stimmung. »Komm schon«, rief sie Stefan zu. »Worauf wartest du?«
»Hetz mich nicht so, ich bin ein alter Mann.« Stefan schloss den Wagen ab und marschierte hinter seiner Freundin her. Verwitterte Waschbetonplatten führten durch den Vorgarten zum Hauseingang. Moos wucherte zwischen den Fugen. Auch die Bepflanzung des Gartens machte einen heruntergekommenen Eindruck. Einen grünen Daumen hatte Baumgart anscheinend nicht.
»Die Tür steht offen«, bemerkte Heike. Überrascht blickte sie sich zu Stefan um, der die Schultern zuckte. »Vermutlich joggt er gerade eine Runde um den Block, oder er ist beim Nachbarn, Milch holen.«
Heike ging nicht auf Stefans dummen Scherz ein. Sie schüttelte stumm den Kopf und klopfte an das grüne Holz. »Herr Baumgart?« Sie lauschte mit schräg gelegtem Kopf in das Innere des alten Hauses. Stille umfing sie. Als sie einen Klingelknopf entdeckt hatte, betätigte sie ihn. Drinnen schlug eine schrille Glocke an. »Herr Baumgart, sind Sie zu Hause?«
Wieder bekam Heike keine Antwort. Sie wandte sich zu Stefan um, der die Mundwinkel fragend nach unten zog. »Was machen wir denn jetzt?«
»Rein da«, flüsterte Stefan. »Irgendwo muss er ja sein.«
Heike drückte die Tür weiter auf. Muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Sie rümpfte die Nase. »Hier könnte auch mal wieder gelüftet werden.«
»Er ist doch gerade dabei«, grinste Stefan und deutete auf die offene Haustür.
Sie betraten einen dunklen Hausflur. An den Wänden Puzzles mit Landschaftsgemälden aus den Siebzigern. Die Tapete war altmodisch und vergilbt, das hölzerne Treppengeländer, das in die oberen Stockwerke führte, war die längste Zeit weiß gewesen. Alles in diesem Haus wirkte alt und heruntergekommen. Heike fragte sich, wie man sich in einem solchen Haus wohlfühlen konnte. Neben einer grünen Holzkommode stand ein leerer Bierkasten. Oettinger. Billigbier. Nichts an diesem Haus wollte ihr so recht gefallen und zu dem passen, was sie sich vorgestellt hatte. »Herr Baumgart, sind Sie zu Hause?«, rief sie in die Stille des Hauses und erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. Täuschte sie sich, oder hatte irgendwo eine Diele geknarrt?
Sie zuckte zusammen und wirbelte auf dem Absatz zu Stefan herum. »Holz arbeitet«, bemerkte er, als er ihren Blick sah. »Das ist normal.«
»Ich weiß«, zischte sie wütend. »Und trotzdem stimmt hier etwas nicht.«
»Finden wir es heraus«, grinste Stefan und betrat einen Raum, der rechterhand von der Diele abzweigte. Heike folgte ihm. Sie befanden sich in einer relativ großen Wohnküche. Rechts eine Küchenzeile. In der Spüle türmte sich der Abwasch. Dahinter eine Fensterfront mit Blick auf Remscheid. Grüne Hügel und Täler vermittelten den Eindruck, man sei in einer landschaftlichen Idylle gelandet. Vogelgezwitscher lag über der Szenerie. Linkerhand ein Esstisch mit vier einfachen Holzstühlen davor. Eine alte Fernsehzeitung lag aufgeschlagen herum, daneben ein Aschenbecher, der bereits überquoll. Eine Glocke aus kaltem Rauch hing schwer im Raum. Von der Küche aus zweigten zwei Türen nach links ab. Im ersten Raum gab es nicht viel zu sehen -vermutlich nutzte der Hausbesitzer das Zimmer als Rumpelkammer. Ein alter Sitzsack in der Ecke, ein blecherner Computertisch neben dem Fenster und ein Wäscheständer, der unter der Last der aufgehängten Wäschestücke zu ächzen schien, beherrschten das Bild. Im zweiten Raum befand sich ein kleines Wohnzimmer. Eine verschlissene Ledercouch mit Brandflecken, ein einfacher Glastisch und ein Fernseher auf einem Sideboard. Auf dem Tisch ein leeres Glas und eine Flasche Schnaps. Whisky, wie Heike feststellte. Auch hier quoll der Aschenbecher über. Die Tapete an den Wänden wirkte vergilbt. Die Decke hätte einen neuen Anstrich gut vertragen können. Der Fernseher lief ohne Ton.
Doch sie hatten keine Gelegenheit, diese Eindrücke zu verarbeiten, denn vor dem Sofa lag eine leblose Gestalt auf dem verschlissenen, dunkelroten Teppich.
Die Gliedmaßen standen in verrenkter Haltung vom Körper ab. Die Augen des Mannes waren schreckgeweitet und blickten anklagend zur gelben Zimmerdecke. Ein feiner Blutfaden rann aus dem rechten Mundwinkel, der einen Spalt breit offen stand.
Sie hatten Jochen Baumgart gefunden. Leider zu spät.
»Scheiße, der ist tot.« Heikes Lippen bebten. Verschreckt presste sie sich an Stefans Brust.
Stefan widersprach nicht. Mit zitternden Händen angelte er nach dem Handy.