Klinik Wiesenhang, 13:00 Uhr
»Ach, Herr Dr. Brechtmann?« Birgitt Mergelsmann hob einen Finger und winkte den hochgewachsenen Leiter der Klinik an den Empfangstresen.
Brechtmann war soeben aus der Mittagspause gekommen und auf dem Weg in sein Büro im anderen Gebäudetrakt. Er hasste es, wenn man ihm nachrannte. »Was gibt es, Frau Mergelsmann?« Eine Augenbraue hatte er erwartungsvoll hochgezogen.
»Da war ein junger Mann, der wollte unsere Frau George sprechen. Herr Seiler.«
»Was ist so Besonderes daran?«
»Der Mann kam vom Radio. Wupperwelle.« Sie machte eine wahnsinnig wichtige Miene. »Ich habe seinen Namen gegoogelt, deshalb weiß ich, wer er ist. Sein Name und die Stimme kamen mir gleich so bekannt vor - er ist Radioreporter, und ich kenne ihn von der Wupperwelle, die ich jeden Mögen höre.«
»Hat er sein Anliegen vorgetragen?« Brechtmanns Neugier erwachte. Die Presse war so ziemlich das Letzte, was er im Augenblick hier in der Klinik gebrauchen konnte.
»Nein, er hat nur nach Frau George gefragt. Dann sind die beiden gemeinsam rausgegangen und haben sich dort unterhalten -worüber auch immer.« Wichtige Miene, nervöses Jonglieren mit einem silbernen Kugelschreiber.
»Hat er denn nicht angedeutet, worum es geht?« In seiner Stimme schwang Ungeduld mit. Normalerweise nutzte er jede Art von Medienkontakt, denn jeder Beitrag, der über seine Arbeit und über seine Klinik berichtete, war Werbung für sein Haus. Werbung bedeutete Patienten, und Patienten bedeuteten Umsatz. Augenblicklich ging er den Vertretern der Presse aber aus dem Weg -soweit es sich einrichten ließ.
»Nein, hat er nicht. Plötzlich ist er verschwunden.« Sie bedeutete ihm mit wichtiger Miene, noch näher zu rücken. Brechtmann tat ihr den Gefallen und beugte sich tief zu ihr herunter. Dass sein Blick dabei in ihren Ausschnitt fiel, ließ sich gar nicht verhindern. Frau Mergelsmann fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Sie waren nicht lange draußen, vielleicht zehn Minuten, maximal eine Viertelstunde.«
Das war unter Umständen eine Viertelstunde zu viel, dachte er grimmig. Immerhin war die junge Assistenzärztin dabei gewesen, als ihm Dahlhaus quasi unten den Händen gestorben war. Möglicherweise war sie eine undichte Stelle im System. Er musste Maßnahmen ergreifen. »Wissen Sie, wie der Mann hieß?«
»Seiler. Nachdem er mit Frau George draußen war, ist er ganz schnell verschwunden.«
Klar, er hatte sich seine Informationen geholt, dachte Brechtmann grimmig und ballte die rechte Hand zu einer Faust, die er auf den Tresen niederschmetterte. Oder sie hatte ihn informiert. Dann wurde er sich seines emotionalen Ausbruchs bewusst und setzte ein freundliches Lächeln auf. Eine Schwester, die gerade an ihm vorbeiging, blickte sich verwundert um. So hatte sie den Klinikleiter wohl noch nie erlebt.
»Na ja«, murmelte Brechtmann und war um Freundlichkeit bemüht. »Da kann man nichts machen. Wenn es wichtig war, wird sich der Reporter sicherlich noch einmal bei mir melden. Danke erst mal, Frau Mergelsmann.« Er wandte sich vom Empfangstresen ab und suchte eilig sein Büro auf. Dort angekommen, setzte er sich an den Schreibtisch und fuhr sich mit der flachen Hand durch das Gesicht. Sein Gehirn funktionierte präzise wie ein Computer. Nach einer Minute beugte er sich vor, nahm das Telefon und tippte eilig eine abgespeicherte Nummer ein. Es dauerte einen Augenblick, bis sich der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung meldete.
»Ich bin’s. Wir haben ein Problem. Vor einer Viertelstunde war ein Radioreporter hier, der eine junge Ärztin getroffen hat, und ich werde den Verdacht nicht los, dass sie ihm etwas erzählt haben könnte, was ihn nichts angeht. Es ist nur ein Verdacht, aber sie war dabei, als ich das Mittel zum ersten Mal an einem Patienten getestet habe. Der Mann starb an den Folgen. Das darf auf keinen Fall rauskommen.«
Der Gesprächspartner stellte eine Frage, Brechtmann nickte. »Ja, aber dezent. Und Finger weg von dem Radiomenschen, das wäre zu auffällig. Kümmer dich um meine Mitarbeiterin, ich will nicht, dass sie … ja, natürlich. Warte. George heißt sie. Daniela George. Ich will, dass du dich um sie kümmerst.« Brechtmann lauschte. »Halt sie im Auge und sag Bescheid, wenn du mehr über sie weißt. Ach, eins noch: Sie hat eine kleine Tochter, ist alleinerziehend. Vielleicht ist das ein wunder Punkt, an dem du ansetzen kannst.« Er legte auf und stierte ins Leere. Die redselige Ärztin würde schweigen, so viel stand jetzt fest.