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Wipperfürth, 21:30 Uhr

Hinter dem Ortseingangsschild von Wipperfürth hatte er den Golf an den Straßenrand gelenkt, um sich auf der Karte zu orientieren. Auf das Navi verzichtete er bewusst, denn mit der geklauten Karre wollte er die Hauptstraßen meiden. Hier war Handarbeit angesagt, denn vermutlich fahndeten sie längst nach dem Wagen. Nach seinem Stopp in Remscheid war er über Bergisch Born und Wermelskirchen nach Wipperfürth gelangt. Dies war der gefährlichste Teil der Route gewesen. Jetzt gab es genügend kleine, kaum befahrene Ausweichstrecken, die durch ausgedehnte Waldgebiete führten, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.

Er hielt sich auf einer kleinen Landstraße rechts und gelangte bald schon nach Sassenbach und Niedergaul, kleinere Ortschaften tief im Oberbergischen Land. Er hatte keinen Blick für die Idylle und fuhr am Limit. Je schneller er untertauchte, umso besser. Bis zur nächsten Ortschaft waren es noch ein paar Kilometer. Langsam fragte er sich, ob die Frau noch lebte. Hatte die Kleine anfangs noch im Kofferraum herumgepoltert, so herrschte hinten seit einiger Zeit Stille. Er bekam es mit der Angst zu tun. Tot nutzte sie ihm nichts.

Er verlangsamte sein Tempo und suchte einen Forstweg. In einem Waldstück vor Breun fand er einen kleinen Abzweig. Der unbefestigte Weg führte geradewegs in eine Schonung. Er schaltete herunter, tippte das Bremspedal an und riss das Steuer nach rechts. Unsanft lenkte er den Golf auf den Forstweg. Obwohl es schon seit Tagen nicht geregnet hatte, war der Weg noch von zahlreichen tiefen Pfützen übersät. Hier kam nur selten Sonne hin. Die Reifen drehten durch und schleuderten Erdmassen in die Luft. Tiefhängende Äste kratzten mit einem Geräusch, das eine Gänsehaut bei ihm verursachte, über das Wagendach. Der rechte Außenspiegel wurde abgerissen, als er einen dicken Ast, der seitlich in den Weg ragte, zu spät sah. Glas splitterte, Plastik brach. Jetzt hing nur noch ein hässlicher Stummel an der Beifahrertür. Mehrmals schlugen die Stoßdämpfer hart bis zum Anschlag durch. Der Wagen geriet in die Fahrrinne eines Traktors, der hier vor einiger Zeit den Boden gepflügt hatte. Hart riss er am Steuer und betete, dass jetzt nicht die Ölwanne aufriss, denn mit einem Motorschaden wäre die Fahrt sofort zu Ende. Auf einer Lichtung blieb er stehen und schaltete den Motor ab.

Türe auf, Stille.

Die frische Waldluft drang in seine Lungen ein. Langsam beruhigte sich sein Puls. Er atmete tief durch und versuchte, klar zu denken. Dann stieg er aus und ging nach hinten, um sich am Kofferraum zu schaffen zu machen.

Dort lag sie, zusammengeschnürt zu einem handlichen Bündel. Mit einer Rolle Panzerband hatte er ihre Fuß- und Handgelenke fixiert. Einen Streifen hatte er ihr um den Mund geklebt. Wie er erleichtert feststellte, lebte sie. Mühsam rollte sie sich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. Sie hatte geweint. Ihre Augen wirkten glasig, die Nase war rot. Mit großen, angstgeweiteten Augen starrte sie ihn an. Beinahe hätte er Mitleid verspürt, doch für Gefühle war augenblicklich kein Platz. Er hatte einen Auftrag, und den würde er mit aller nötigen Konsequenz durchführen. Auch wenn die Entführung nicht geplant gewesen war, so war er doch wild entschlossen, sein Ding durchzuziehen. Notfalls auch im Alleingang, doch davon musste Daniela George nichts wissen. »Geht’s dir gut?«, fragte er.

Sie nickte stumm. Er beugte sich über sie und löste den Knebel. »Was haben Sie mit mir vor?« Angst lag in ihren Augen, und sie streckte die steifen Knochen.

»Als wenn du das nicht wüsstest«, antwortete er. »Du hast dich ein Stück zu weit aus dem Fenster gelehnt, deshalb leistest du mir jetzt Gesellschaft. Du kannst froh sein, dass ich dich nicht…«

»… umgebracht habe?« Dannis Augen versprühten Funken. »So wie Sie die anderen umgebracht haben?«

»Was redest du da für einen Stuss?« Er schüttelte den Kopf und schlug ihr ins Gesicht. Ihr Kopf wurde zurückgeworfen, und sicherlich fühlte es sich für die junge Frau an, als wollte er ihr den Kopf von den Schultern reißen. Doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Seine fünf Finger zeichneten sich auf ihrer Wange ab. Sie rieb sich die schmerzende Stelle. »Ich bin kein Mörder, hörst du?«, blaffte er sie an und drückte sie in den engen Kofferraum des Golf zurück. Bevor sie sich wehren konnte, schlug er die Heckklappe zu. Er musste sich eingestehen, dass die Entführung ihn überforderte. Jetzt musste er Zusehen, dass er das Beste aus der Situation machte. Er ging nach vorn und nahm die Karte vom Beifahrersitz. Die Namen der Dörfer in dieser Pampa waren ihm völlig unbekannt. Bis Lindlar war es nicht mehr weit. Von da aus würde er sich irgendwie nach Bergisch Gladbach durchschlagen und dort unterschlüpfen. Der Rest war Spielerei.

Er zuckte zusammen, als sich das Handy meldete. In der Stille des Waldes klang es unnatürlich laut.

Das Telefon hatte auf dem Beifahrersitz gelegen, war aber wohl durch die rasante Fahrt über den Waldweg in den Fußraum gefallen. Er beugte sich in den Wagen, kniete auf dem Fahrersitz und bückte sich nach dem Handy. »Unbekannter Teilnehmer«, las er auf dem Display. Er zögerte. Sollte er sich melden? Vielleicht erhielt er neue Anweisungen, vielleicht wollte man ihn warnen.

Grüner Knopf, Handy ans Ohr. »Hallo?«

»Wer ist denn da?« Eine Männerstimme, mittleres Alter, ein wenig rauchig.

»Wer will das wissen?«, fragte er barsch zurück und spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten. »Wer sind Sie, verdammt noch mal?«

Hinten rührte sich etwas. Daniela George polterte im Kofferraum herum. Von einer Sekunde zur anderen brüllte sie los, fast so, als hätte er sie verprügelt. »Ruhe, verdammte Scheiße!«, brüllte er nach hinten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

»Ich glaube, ich habe mich verwählt.« Da war er wieder. »Haben Sie die Nummer 0177 / 34 …«

»Nein, habe ich nicht!«, unterbrach er den Anrufer. Ohne eine Antwort abzuwarten, unterbrach er die Verbindung und warf das Telefon auf den Beifahrersitz. Er war in eine Falle gegangen, durchzuckte es ihn siedendheiß. Am liebsten hätte er sich selbst verprügelt. Fluchend klemmte er sich hinter das Steuer und startete den Motor. Er kurbelte wie wild am Lenkrad und wendete den Golf auf der Lichtung. Ohne Rücksicht auf das Material preschte er den Waldweg hinunter zur Straße zurück. Äste peitschten über den Lack. Sie hatten eine Fangschaltung eingerichtet, um das verdammte Handy orten zu können. Er trat das Bremspedal bis zum Bodenblech durch. Der Golf schlidderte über den unbefestigten Waldweg. Er beugte sich nach rechts, nahm das Telefon und warf es aus dem Fenster. In hohem Bogen flog es ins Gebüsch. Er glaubte, es klingeln zu hören. Vermutlich waren es wieder die Bullen, die ihn orten wollten. Sollten sie, dachte er triumphierend und setzte die Fahrt fort. Jetzt konnten sie ihn orten. So leicht ließ er sich nicht aufs Glatteis fuhren.