57

Beyenburg, 22:35 Uhr

»Hier muss es sein.« Heike deutete auf ein großes, luxuriöses Haus, das sich an einen grünen Hang schmiegte. Unterhalb lag Beyenburg. Der See lag still da, und die spätgotische Klosterkirche St. Maria Magdalena schien über dem friedlichen Dorf zu wachen. Teile der Bruchsteinfassade waren von leistungsstarken Scheinwerfen angestrahlt, während der schmale und spitz zulaufende Glockenturm wie ein mahnend erhobener Finger in den Nachthimmel ragte. Die Fachwerkhäuser um die Klosterkirche wirkten wie Modelle einer Eisenbahnlandschaft. Nicht zu glauben, dass sie sich am Rande einer Großstadt befanden.

Kein Laut drang nach oben.

Heike deutete mit dem Daumen auf das Haus. Drinnen brannte Licht. »Die Herrschaften sind jedenfalls zu Hause.«

Kalla stoppte das Taxi am Straßenrand und blickte zum Haus. Er hatte sich nicht lange bitten lassen, als Heike ihn gebeten hatte, mit ihr nach Beyenburg zu fahren. Der Umstand, dass eine junge Frau entführt worden war, setzte den Fall in ein ganz neues Licht. »Ist doch klar, dass ich unter diesen Umständen nicht beruhigt pennen kann«, hatte Kalla gesagt, als Heike ihn angerufen hatte. »Und Licht ist auch noch an«, bemerkte er jetzt und beugte sich zur Seite. Neben dem Eingang gab es einen hölzernen Carport, unter dem zwei Fahrzeuge parkten. Ein VW Touareg und ein dunkler BMW der 7er-Reihe. Kalla drehte sich zu Heike um. »Und was genau hast du jetzt vor?«

»Wir werden Klinke ein paar Fragen stellen.«

»Ich hoffe, dass er damit kein Problem hat. Hauptsache, du kriegst keinen Ärger mit deinem Chefredakteur. Hast du mir nicht gesagt, die beiden sind so …?« Kalla legte den Mittelfinger der rechten Hand um den Zeigefinger, ein Zeichen für die feste Freundschaft der Männer. Als Chefredakteur der Wupperwelle zählte Michael Eckhardt zu den oberen Zehntausend der Stadt. Auch wenn sein Kontostand nicht an den seiner Freunde heranreichte, so war er doch, durch seinen Beruf bedingt, bekannt wie ein bunter Hund unter den einflussreichen Leuten in Wuppertal.

»Das müssen wir in Kauf nehmen, Kalla. Immerhin geht es um eine Entführung und um Mord. Entweder hat Klinke doch Dreck am Stecken, oder er wird unsere Fragen beantworten, weil er Schlimmeres vermeiden will. Es liegt also an ihm.«

»Na, dann hoffen wir mal, dass dich dein journalistischer Spürsinn diesmal nicht täuscht.« Kalla grinste schief, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Etwas zögernd marschierte er hinter Heike die Auffahrt zum Anwesen der Klinkes hinauf. Am Haus herrschte Stille. Sie hatten die Haustür erreicht. Bevor Kalla weitere Bedenken äußern konnte, hatte Heike bereits den Finger auf den Knopf gelegt. Drinnen ein Gong. Big Ben. Klang fast wie der echte Glockenturm. Es dauerte einen Augenblick, bis sich drinnen Schritte näherten. Die Türe wurde geöffnet, und sie blickten in das neugierige Gesicht einer Frau Mitte dreißig. Das schulterlange, blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Trotz Make-up wirkte sie blass und übernächtigt. Sie trug ein leichtes Sommerkleid.    

»Mein Name ist Heike Göbel, und das«, sie deutete auf Kalla, »das ist mein Kollege, Herr Weinberger. Wir kommen von der Wupperwelle.« Sie lächelte freundlich.

»Hm.« Die Frau nickte. »Es ist ziemlich spät.« Ihre Stimme klang emotionslos. Heike glaubte zu sehen, dass sie sich hinter ihrer Fassade nur versteckte. »Und wenn es um das leidige Thema geht -nein, mein Mann hat nichts mit den drei Morden zu tun.«

»Wir können Sie beruhigen, deshalb sind wir gar nicht hier«, erwiderte Heike schnell. »Wir suchen Ihren Mann, weil wir seinen sachlichen Rat benötigen. Wie gesagt, es tut uns sehr leid, dass es schon so spät ist, aber es ist sehr dringend.«

»Wie Sie meinen.«

»Ist er noch wach?«

»Ja, er sitzt in seinem Arbeitszimmer.« Ein mattes Lächeln. »Er arbeitet immer.« Gequälter Seufzer. Tür ganz auf, hereinbittende Geste. »Kommen Sie schon.« Sie ging voran und führte die Gäste durch das Erdgeschoss. Das Büro ihres Mannes lag im hinteren Teil des luxuriös eingerichteten Hauses. Sie klopfte an.

Er rief: »Herein!«

Wie beim Arzt, fand Heike und stellte mit einem Blick auf Kalla fest, dass er die Situation ähnlich empfand. Lebte und kommunizierte so ein Ehepaar?

Frau Klinke öffnete die Tür und bat den Besuch herein. Ihr Mann saß am Schreibtisch und arbeitete am Computer. Als er um den großen Flachbildmonitor herumblickte und Heike erkannte, lächelte er. »Ach«, rief er. »Meine charmante Freundin von heute Morgen.« Klinke bedachte Kalla mit einem nicht zu deutenden Blick. »Und diesmal sogar mit Verstärkung. Kommen Sie - ich beiße nicht.« Er wandte sich seiner Frau zu. »Jeanette, es ist in Ordnung. Wir kennen uns bereits.«

»Es geht um deinen BMW, richtig?« Ihre Stimme klang schneidend.         

»Nein«, beeilte sich Heike zu sagen. Sie wollte kein Benzin ins Feuer gießen und hatte keine Lust auf Ärger mit Michael Eckhardt. »Diesmal geht es nur um einen Golf. Wir haben ein paar Fragen an Sie als Fachmann, und nach dem netten Gespräch heute Morgen ist mir ganz spontan die Idee gekommen, uns an Sie zu wenden.« Heike lächelte charmant. »Und deshalb möchten wir uns jetzt noch mal für die späte Störung entschuldigen.«

»Das ist kein Problem, ich gehe immer erst spät zu Bett. Bitte -nehmen Sie doch Platz. Im Sitzen redet es sich entspannter.« Er nickte seiner Frau zu. Sie verschwand mit schleichenden Bewegungen, ohne die Besucher eines Blickes zu würdigen. Heike und ihr Begleiter setzten sich.

Reinhardt Klinke beugte sich weit über die Tischplatte und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Also«, eröffnete er das Gespräch. »Was kann ich für Sie tun?«

»Diesmal geht es um eine Entführung«, antwortete Heike, und Kalla registrierte erstaunt, dass sie keine Zeit verlieren wollte. »Wir recherchieren über dieses Thema, aus aktuellem Anlass sozusagen. Jemand hat einen VW Golf gestohlen und damit eine junge Frau entführt.«

»Das ist bedauerlich.« Kopfschütteln, sichtbar gespieltes Mitgefühl. Dann lächelte Klinke süffisant. »Und jetzt sagen Sie nur noch, dass Sie mich mit diesem Verbrechen auch in Verbindung bringen?«

»Nein«, lachte Heike und spürte, wie ihr das Blut unter die Haarspitzen schoss. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für einen ungeübten Täter einfach ist, ein relativ neues Fahrzeug zu entwenden.«

»Sie meinen, wegen der werksseitig eingebauten Wegfahrsperre?«

»Richtig. Haben Sie eine Idee, wie so etwas möglich ist, und vor allem, wer so etwas tun könnte? Hier haben wir es immerhin nicht mit einem professionellen Autodieb zu tun. Das gestohlene Auto ist nur Mittel zum Zweck - zumindest gehen wir davon aus.«

»Ich verstehe.« Klinke nickte und dachte einen Moment lang angestrengt nach. »Es gibt nicht viele Möglichkeiten, die automatische Wegfahrsperre zu umgehen.«

»Was geschieht, wenn die Wegfahrsperre aktiviert wird? Geht der Motor während der Fahrt aus, nach einigen Kilometern vielleicht? Oder springt der Motor gar nicht erst an, wenn man die Sperre nicht umgeht?«

»Bei Volkswagen ist es so, dass der Motor zwar anspringt, aber unmittelbar nach dem Startvorgang wieder ausgeht. Es gibt ein Steuergerät, das befindet sich meist im Motorraum, und es gibt ein Lesegerät, das sitzt beim Zündschloss. Der Zündschlüssel verfügt über einen Chip, der dem Lesegerät einen Code übermittelt. Das Lesegerät im Auto leitet den Code weiter ans Steuergerät. Zwischenzeitlich aber springt der Motor an. Jetzt sagt das Steuergerät, dass der Schlüssel keinen oder einen falschen Code übermittelt hat, und stoppt die Kraftstoffzufuhr - der Motor geht wieder aus.

Dieses Spielchen könnte man zigmal wiederholen, ohne dass das Fahrzeug auch nur einen Meter dabei fährt.«

»Das heißt, Sie würden es keinem Amateur Zutrauen, ein solches Fahrzeug zu stehlen?« 

»Nein. Mit dem einfachen Kurzschließen der Zündung ist es schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr getan. Insofern setze ich voraus, dass der Dieb sich einen codierten Zweitschlüssel beschafft hat, oder dass er über die technische Ausrüstung verfügt, einen angefertigten Schlüsselrohling zu codieren und mit dem Steuergerät des Fahrzeugs zu synchronisieren. Den Dieben, zumindest den Gelegenheitsdieben, wird das Leben schwer gemacht, wenn Sie so wollen.« Ein gewinnendes Lächeln, er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Profis freilich verfügen über die entsprechenden Gerätschaften. Oder sie dringen in das Haus des Fahrzeugbesitzers ein und entwenden zunächst den Autoschlüssel. Das gab es vor ein paar Jahren schon mal hier in Wuppertal. Man nannte es neudeutsch Carjacking, doch ich fand den Begriff furchtbar.«

»Das war es schon.« Heike nickte Kalla zu und erhob sich.

»So ähnlich hatte ich das auch in Erinnerung, es ist schön, dass wir das aus fachlicher Quelle noch einmal hören konnten, Meister. Danke noch mal.« Kalla stand auf und folgte Heike. Sie sah Kalla an, dass der Autohändler für ihn schwer zu durchschauen war. Er traute seiner aufgesetzten Freundlichkeit nicht über den Weg. Mit einem letzten Gruß verließen sie Klinkes Arbeitszimmer. »Wir finden nach draußen, bitte keine Mühe.«

Klinke nickte und blickte den Besuchern nachdenklich hinterher. Heikes und Kallas Weg zur Tür führte am Wohnzimmer vorbei. Jeanette Klinke hockte auf der Lehne des Sofas und hatte ein Bein angewinkelt. Sie telefonierte und bemerkte die Besucher nicht. »Übertreib es nicht.« Kurzes, gurrendes Lachen. »Alle - ja. Deshalb sagte ich ja eben, dass … ja. Pass also auf dich auf.« Als sie die Besucher bemerkte, nahm sie das Telefon vom Ohr, drückte den roten Knopf und lächelte. »Und?«, fragte sie. »Haben Sie alles erfahren, was Sie wissen wollten?«

Täuschte Heike sich, oder lag da Spott in ihrer Stimme? Sie fand keine Zeit, denn Kalla schob Heike dezent zum Ausgang des Hauses. »Aber klar doch. Gute Nacht auch!«, rief er über die Schulter nach hinten. Kalla hatte genug gehört.