Marienstraße, 21:50 Uhr
Es war ziemlich spät geworden, und hinter Heike lag ein langer Tag. Die Frage, ob Kalla noch auf einen Kaffee mit reinkommen wollte, um den Abend gemeinsam mit Stefan ausklingen zu lassen, lehnte der Taxifahrer mit Hinweis auf die Parkplatznot im Ölbergviertel ab. »Ich muss auch ins Bett so langsam, bin schließlich nicht mehr der Jüngste«, grinste er. »Lass uns morgen telefonieren - ich habe noch frei. Falls du ’nen Fahrer brauchst, bin ich am Start, Mädchen.«
»Danke, dass du mich noch nach Hause gebracht hast.«
Er hob zum Gruß den Daumen wie ein Pilot vor dem Start, legte den Gang ein und fuhr langsam zum Luisenviertel hinunter. Heike blickte dem Taxi nach, bis es um die spitze Linkskurve in der Nacht verschwunden war. Das Tuckern des Diesels entfernte sich, und Heike kramte in der Tasche nach dem Schlüssel zu Stefans Wohnung. Natürlich hätte sie heute genauso gut in ihre eigene, kleine Bleibe an der Germanenstraße in Wichlinghausen fahren können, doch sie sehnte sich nach Stefan. Es gab viel zu erzählen, und sie hatte ihn schon viel zu lange nicht gesehen.
Als sie die Wohnung aufschloss, stellte sie ein wenig enttäuscht fest, dass Stefan nicht zu Hause war. Sie begab sich in die Küche und schaltete das Radio ein. Wie immer war das kleine Gerät auf die Frequenz der Wupperwelle eingestellt. Heike wurde müde, doch sie konnte noch nicht schlafen gehen. Es gab noch viel zu tun. So setzte sie sich einen frischen Kaffee auf. Als die Kaffeemaschine blubberte, holte sie Stefans Laptop aus dem Schlafzimmer und fuhr das System hoch. Währenddessen blätterte sie in den Unterlagen, die Kalla ihr ausgedruckt hatte. Die Papiere waren Zündstoff pur. Wenn das, was in Borns Listen stand, ans Tageslicht gelangte, hatte Deutschland einen neuen Skandal. Born war also gestorben, weil er einflussreichen Leuten zur Gefahr geworden war. Nach ihm waren alle ermordet worden, die auch nur ansatzweise mit dem Fall zu tun gehabt hatten. Jemand ging über Leichen. Heike erschauderte. Der Gedanke, dass Stefan, sie und auch Kalla von der Korruption wussten, führte zu dem einfachen Schluss, dass sie alle auch in Lebensgefahr waren. Wenn es tatsächlich jemanden gab, der die Spur zurückverfolgte, würde dieser Jemand zwangsläufig bei ihnen landen.
Heike ging zurück in den Flur und schloss die Wohnungstür ab. Sicherheitshalber legte sie die Türkette vor. Das metallische Rasseln bohrte sich in ihren Schädel. Als sie ein knackendes Geräusch vernahm, setzte ihr Herzschlag sekundenlang aus, und Heike fühlte sich wie in der Falle. Befand sich jemand in der Wohnung? »Hallo?«, rief sie in die Stille. Natürlich bekam sie keine Antwort, doch sie war sicher, dass sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte. Heike nahm all ihren Mut zusammen und durchwanderte die ganze Wohnung und versicherte sich, dass alle Fenster geschlossen waren. Doch sie war definitiv alleine in der Wohnung. Nachdem sich ihre Nerven ein wenig beruhigt hatten, rief sie sich den Umstand ins Gedächtnis, dass sich Stefans Wohnung in einem alten Haus aus der Gründerzeit befand. Obwohl die Fassaden und Decken aufwendig mit Stuck verziert waren, so hatte man im 19. Jahrhundert mit Holz gebaut. Es gab echte Dielen und Zwischendecken im ganzen Haus. Und Holz arbeitete nun mal. Dabei knackte es auch ab und zu. Sie war sich sicher, dass es sich bei dem Geräusch, das sie gehört hatte, um das Knacken einer Diele gehandelt haben musste, und atmete tief durch. Im Wohnzimmer trat sie ans Fenster und blickte hinunter auf die Straße. War ihr der Mörder bereits auf den Fersen? Saß er in einem der geparkten Autos und lauerte nur auf eine Gelegenheit, zuschlagen zu können?
Heike erschauderte bei dem Gedanken.
Sie zuckte zusammen, als sie im Hauseingang gegenüber eine Bewegung wahrnahm. Nichts als einen huschenden Schatten, der sich ins Dunkel der Haustüre drückte. Heike stand minutenlang regungslos am Fenster und versuchte, mit Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Immer wieder glaubte sie, auf der anderen Straßenseite eine Bewegung wahrzunehmen. Irgendwann löste sich die Gestalt aus dem Dunkel. Es waren zwei Personen, ein junges Paar. Eng umschlungen setzten sie ihren Weg in Richtung Luisenstraße fort, blieben immer wieder stehen und küssten sich leidenschaftlich.
Heike seufzte und kam sich plötzlich furchtbar albern und hysterisch vor.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie am Fenster eines hell erleuchteten Zimmers förmlich auf dem Präsentierteller stand. Sie atmete tief durch und zog die Gardinen ruckartig zu. Sie holte sich das Telefon aus der Ladestation und tippte Kallas Handnummer ein. Es dauerte nicht lange, bis er sich meldete. Stichwortartig berichtete Heike ihm, was sie dachte. »Pass bloß auf dich auf, Kalla. Wir sind Insider und wissen jetzt das, was schon Peter Born, seiner Frau und auch schon deinem Kollegen zum Verhängnis wurde. Dieser Killer hat keine Hemmungen, jeden aus dem Weg zu räumen, der zu viel weiß.« Mit dem schnurlosen Gerät am Ohr wanderte sie durch die leere Wohnung und erreichte schließlich die Küche, wo sie sich am Tisch niederließ.
»Mach dich nicht verrückt, Mädchen.« Kallas Bass klang väterlich und beruhigend. »Mich haut so schnell nichts um. Aber was ist mit dir, hast du Angst? Dann komme ich zu dir zurück und warte da, bis Stefan kommt.«
»Du bist ein Engel.« Heike musste unwillkürlich schmunzeln. »Aber das wird nicht nötig sein. Ich habe die Bude verrammelt und schon überall nachgesehen, ich bin alleine. Lieb gemeint, aber ich komme klar. So lange dauert es bestimmt nicht mehr, bis Stefan nach Hause kommt. Er muss morgen auch früh raus, hat ja die Frühsendung.«
»Wie du meinst. Nicht, dass mir morgen Klagen zu Ohren kommen.«
»Nein, dank dir noch mal. Aber bitte sei du auch vorsichtig.«
»Ich habe vorgesorgt, schließlich hänge ich an meinem Leben, Mädchen.« Er lachte amüsiert. »Schlaf gut und meld dich, wenn es Neuigkeiten gibt.«
»Du auch, Kalla. Bis morgen.«
Die Kaffeemaschine röchelte asthmatisch. Heike sprang auf und goss den Kaffee in einen der großen, bunten Pötte, die im Regal neben dem Küchenfenster standen. Sie pustete in die Tasse und trank in kleinen Schlucken. Dann stand sie auf, holte ihre Handtasche und nahm eine Selbstgebrannte CD-ROM heraus. Kalla hatte ihr eine Kopie der Daten von Peter Born gebrannt. Sie legte die Silberscheibe in das Laufwerk des Notebooks ein. Vielleicht sollte sie Ulbricht die Daten zumailen. Bei ihm waren die Listen sicherlich in guten Händen. Sofort wählte sie sich per W-Lan ins Internet ein und rief die überarbeitete Homepage des Wuppertaler Polizeipräsidiums auf.
Nachdem sie Ulbrichts E-Mail-Adresse herausgefunden und ihm die Daten von CD übertragen hatte, machte sie sich daran, MM Pharma zu googeln. Und das, was sie in einigen Foren über den Arzneimittelhersteller las, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Sie schreckte von der Arbeit hoch, als das Telefon klingelte. Heike zog das Handy aus der Tasche hervor und stellte mit einem Blick auf das Display fest, dass Stefan sie anrief. »Hi«, rief sie überrascht. »Wo steckst du denn? Ich warte sehnsüchtig. Und ich habe dir so viel zu erzählen!«
»Ich furchte, das muss warten, Heike.« Er klang ernst, seine Stimme war belegt.
»Was ist denn los mit dir?«
»Danni wurde entfuhrt. Und der Entführer hat mich angerufen.« Stichwortartig berichtete er ihr, was in der Zwischenzeit passiert war. »Ich werde jetzt mit Ulbricht und Heinrichs losziehen. Die Fahndung nach dem Wagen läuft - er ist übrigens als gestohlen gemeldet. Ein dunkler Golf, aber davon gibt es ja Millionen.«
»Soll ich mitkommen?«
»Um Gottes willen, nein«, rief Stefan. »Ich habe schon mit Engelszungen auf Ulbricht einreden müssen, damit er mich mitnimmt. Schließlich konnte ich ihn überreden, weil ich für den Entführer die Kontaktperson bin. Wenn er weitere Forderungen stellt, werde ich es wohl zuerst erfahren. Bleib du in Wuppertal und halte die Stellung.«
»Wird gemacht.« Heike biss sich auf die Zunge und überlegte, ob das der richtige Zeitpunkt war, Zweifel anzumelden. Schließlich rang sie sich doch dazu durch. »Ich hatte gleich so ein blödes Gefühl«, murmelte sie leise.
»Wovon redest du?«
»Na ja… mit dieser Danni. Du kennst sie schon so lange. Natürlich hat sie dir die geheime Krankenakte zugespielt, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie das getan hat, weil sie dich … mag.«
Am anderen Ende der Leitung kehrte Schweigen ein. Dann seufzte Stefan. »Hör zu«, sagte er. »Das ist jetzt nicht der Moment, um über Eifersüchteleien zu diskutieren. Danni weiß von den Dingen, die in der Klinik vorgehen, sie war bei einem Eingriff anwesend, bei dem ein Mann starb. Und jetzt ist sie entführt worden. Das alles vermutlich nur, weil ich meine Nase in Dinge gesteckt habe, die mich nichts angehen, anstatt gleich zur Polizei zu gehen. Ich mache mir ehrlich gesagt schwerste Vorwürfe und bin heilfroh, wenn Danni den ganzen Mist übersteht. Mach dir einfach keinen Kopf über solche Dinge, ja?«
Heike biss sich auf die Zunge. Sie hatte es gewusst. Aber wie so oft hatte sie ihre Gefühle nicht im Griff, und Eifersucht konnte ein schreckliches Gefühl sein, das sich einfach nicht beherrschen ließ. »Ist gut«, erwiderte sie nach einer kleinen Ewigkeit. »Pass bloß auf dich auf, Stefan.«
»Versprochen.«
»Und … hey, ich liebe dich!« Tränen sammelten sich in Heikes Augen. Sie war wütend auf sich selbst, dass sie ihm in einem solchen Moment mit ihren Vorwürfen kommen musste.
»Ich liebe dich auch.« Er seufzte. »Ich melde mich, sobald es Neuigkeiten gibt. Mach dir bitte keine Sorgen. Weder um mich, noch um Danni, hörst du?«
»Ist gut.« Sie unterbrach die Verbindung und starrte sekundenlang auf das Handy in ihrer Hand, als würde sie sich wundern, wie das Telefon überhaupt dorthin gekommen war. Sie verdrängte den Gedanken an Daniela und die Vorstellung, dass sie ein Auge auf Stefan geworfen hatte, und fasste einen Plan. Jetzt war nicht der richtige Augenblick für Eifersüchteleien. Es gab viel zu tun.