Kapitel 17 - Abgang

Seit einer Woche wechselten wir uns nun ab. Gerd, Tobias und ich lagen auf dem Dachboden des Hauses, in dem Anke wohnte und beobachteten lediglich mit einem Fernglas bewaffnet, das Geschehen in und um das Schloss, so weit wir das von unserem Beobachtungspunkt aus einsehen konnten. So in ständiger Anspannung, - das war anstrengend und nervend zugleich, weil sich um das Schloss herum nicht allzu viel ereignete. Gerd hatte von Schüssen auf die Wächter berichtet, - wieder einmal. Da diese inzwischen mehr Vorsicht walten ließen, kam es zu keinem neuen Todesfall. Dafür erschoss der unbekannte Scharfschütze einen der Betreuer. Von nun an verließen auch diese das Schloss nicht mehr und somit brach der Kontakt zu Anke endgültig ab und wir erfuhren nichts mehr aus dem Schloss.
Gerd glaubte, zu wissen, wo der Schütze sich eingenistet hatte. Seitdem niemand mehr das Schloss verließ, fühlte dieser sich offenbar sicher und wechselte nicht mehr den Standort. Überzeugt davon, von niemandem mehr entdeckt werden zu können, wurde er anscheinend nachlässig. Uns hatte er auch noch nicht bemerkt, da wir uns von Anfang an sehr vorsichtig verhielten. Die Altstadt war ein ausgezeichneter Ort, um sich unbemerkt an ein Gebäude heranzuschleichen.
Wir beschworen Gerd, nicht allein nach dem Schützen zu suchen und zu dritt trauten wir uns nicht in unseren Ausguck zum Schloss, weil wir befürchteten, so nur aufzufallen.
In der Stadt blieb es absolut ruhig, seit die Zwillinge von der Nordgang erschossen worden waren. Ihre Leute blieben jenseits des Flusses und begnügten sich mit ihren bisherigen Quellen für Nahrung und alle weiteren Güter, die sie aus den umliegenden Siedlungen herausholten.
Mir war ihre Taktik klar. Sie wollten das Schloss und die darin befindlichen Vorräte samt der Technik, in ihren Besitz bringen, ohne selbst allzu viel riskieren zu müssen.  Der Gedanke war relativ einfach, - mit einem Schlag für lange Zeit ausgesorgt. Dazu schwächten sie die Besatzung, indem sie deren Schutz nach und nach ausschalteten.
Wussten sie, dass sie ihrem Ziel schon sehr nahe gekommen waren? Vielleicht! Sie lagen genauso auf der Lauer wie wir, lediglich mit anderem Hintergrund. Wir wollten jemand lebend da herausholen. Sie wollten von denen im Schloss möglichst niemanden am Leben lassen.
Die Unit war sehr schwach geworden. Wie ein angeschossenes Tier lag sie in den letzten Zügen. Gerade deshalb bemühten wir uns, sie nicht zu unterschätzen. Wer wusste schon, was die da drinnen so alles auf Lager hatten? Also lagen wir in unserem Schlupfwinkel und blickten uns die Augen aus dem Kopf und sahen auf graue Mauern mit im Erdgeschoss vergitterten Fenstern. Da kam niemand rein! Den Gedanken hatten wir auch schon mehrfach durchgespielt, - hinein, uns den Wächtern stellen und dann … ja, was dann? Sehen wie die reagierten? ´Hy guies, nice to see you?´ oder was? Das war doch Blödsinn! Aber hier herumhängen war genauso öde.
Unsere Ablösung funktionierte nicht mehr. Gerd meldete sich nicht zurück. Ich hatte so etwas immer befürchtet. Immerhin kannte ich ihn am besten. Klar, - ich hatte die Nase von dem Heckenschützen auch gestrichen voll wie er. Dieses Versteckspiel nervte, auch wenn es uns eigentlich nicht betraf. Tobias hörte Gott sei Dank auf mich aber Gerd machte, was er für richtig hielt.
Konnten wir uns einen Tag ohne Nachricht leisten? Wir taten es, ständig in Furcht, den Auszug der Unit zu verpassen. Gerd kam nicht zurück und seine Frau drehte fast durch. Sie warf uns vor, an allem die Schuld zu tragen, wo ihre Familie doch mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun hätte.
Tja, so war das dann immer. Wenn die Leute durchdrehten, musste ein Schuldiger her, auch wenn der gar keine Schult trug. Es gab hier keine Befehlshierarchie, verdammt! Jeder war für sich selbst verantwortlich! Auch Gerd! Ich hatte ihm dringend nahegelegt, nichts zu unternehmen. Sollte der Schütze von mir aus doch einen Ami nach dem anderen dort im Schloss erledigen. Das machte die Sache für uns nur leichter.
Ihn machte der Kerl im Hinterhalt nervös. Er saß ihm wie eine Zecke im Genick. Hatte er versucht, diese Zecke auszudrücken und war dabei erwischt worden? Wahrscheinlich! Jedenfalls gab seine Frau ihn noch schneller auf als wir, packte am nächsten Wochenende ihre Habseligkeiten und verließ zusammen mit ihrer Tochter unsere Siedlung. Zur Schaumburg wollten sie gehen, zu den Anderen. Es musste ein Ende haben mit der Gewalt, meinten sie. Wir hofften es für die beiden!

Wir waren nun wieder unter uns, ganz in Familie. Der Doc mit Susanne fast die ganze Zeit auf der Schaumburg bei den Kindern, Gerd´s Frau auch fort, Lana im Schloss und wir?
- Ohne jeden Plan!
Den Morgen darauf machte ich mich auf den Weg und Tobias ließ sich nicht davon abbringen, mich zu begleiten. Es liege was in der Luft, meinte er. Aus diesem Grund nahmen wir diesmal unsere spärlichen Waffen mit.
Manuela blieb allein zurück, voller Angst, hier für immer allein zu bleiben. Davor fürchtete sie sich am meisten. Immer wieder hatte sie mir eingeschärft, sie nicht allein zurück zu lassen. Ich sollte mir nicht einfallen lassen, einfach so abzukratzen. Ich versprach es, auch wenn man so etwas nie versprechen konnte, da sich die Welt in ihren Resten immer noch im Krieg befand. Wo gehobelt wird, da fallen eben auch Späne.
Wir näherten uns der Stadt wie immer über die Felder von Langenburg her. Das kleine Dorf lag im Prinzip an einer Hauptstraße mit mehreren Nebenstraßen. Bis auf ein Gewerbegebiet mit zwei Autohäusern, sowie einem Altenheim gab es in diesem Dorf nichts Nennenswertes außer einem Freibad, das schon immer zur Stadt gehört hatte.
Um Lärm zu vermeiden, benutzten wir wieder die Fahrräder, um in die Stadt zu gelangen. Das sah schon ziemlich unreal aus, wie da zwei Männer allein auf Rädern durch die leere Gegend fuhren, einer mit einer Flinte auf dem Rücken. Durch unseren Wechseldienst waren wir uns eigentlich sicher, Niemandem zu begegnen und so blieb es auch.
Am Friedhof vorbei näherten wir uns dem Schlossberg, auf dem das imposante Gebäude thronte.
Davor war noch alles richtig schön saniert worden. Die Hänge endeten zur Schlossstraße hin in sauber gefügtem Mauerwerk aus Naturstein, - für die Ewigkeit gebaut und schlecht zu ersteigen. Das Gebäude selbst trug frischen Putz und oben auf glänzte ein nagelneues Schieferdach. Die Zufahrtsstraße hatte man zuvor wieder so hergerichtet, wie sie wahrscheinlich im Mittelalter einmal ausgesehen hatte.
So sahen die Mauern aus, als führten sie zu einer alten Burg und nicht zu einem Renaissance-Schloss. Für die neuen Besitzer stellte das eine tolle Lösung ihrer Abschottungsbemühungen dar. Auf diese Weise wurde die Zufahrt gut kontrollierbar.
Noch auf dem Weg zu Ankes Wohnhaus hörten wir auf einmal ein fernes Brummen, das schnell näher kam. Hatte Tobias nicht gesagt, dass was in der Luft läge? Wir wussten beide sofort, - es ging los!
Wohin nun? Zum Schloss? Ins Wohnhaus?
So kopflos hatte ich uns beide lange nicht gesehen.
Während der Restaurierungsarbeiten hatten sich die Bauleute alle Mühe gegeben, einen ehemaligen Wehrturm, auf dem früher wahrscheinlich einmal Geschütze platziert gewesen waren, in seiner Urgestalt wieder herzurichten. Dieser befand sich am Anfang der Schlosszufahrt. Wir entschieden uns, diesen Turm einzunehmen, auch wenn wir dadurch in den Blickwinkel des Heckenschützen gerieten. Dieser hatte sich die ganze Zeit immer nur auf das Schloss konzentriert und auf dem Turm gehörten wir auch dazu. Von hier aus konnten wir allerdings exzellent die Zufahrtsstraße beobachten. Wer hier herunterkam, musste an uns vorbei.
Inzwischen dröhnte das Brummen über uns.  Wir empfanden es als derart Laut, dass wir uns beide die Ohren zuhielten und den Himmel nach dem Hubschrauber absuchten, um den es sich  handeln musste. Dann sahen wir ihn. Es näherte sich ein Riesending, wahrscheinlich ein Militärhubschrauber mit zwei Rotorblättern. In Flugrichtung ragten zwei Bordkanonen aus dem Rumpf. An der Seite prangte noch der Stern der US-Streitkräfte. Kamen jetzt etwa die GI´s? Egal. Trotzdem wurde uns ganz schön mulmig zumute. Wenn hier GI´s anrückten, wie sollten wir dann Lana rausholen?
Das ganze Unternehmen wurde immer fragwürdiger und wir kamen uns sehr hilflos und nichtig vor. Mann, die Unit hatte richtig Beziehungen, wenn sie Hilfe von Armee-Einheiten erhielt. Allmählich ging uns auf, um welche finanziellen und materiellen Mittel die Begründer der Sekte verfügen mussten, die geglaubt hatten, Gott spielen zu dürfen und dies wahrscheinlich immer noch glaubten. Lediglich die Maßstäbe hatten sich geändert. Kleiner war alles geworden, die Unit, die Ansprüche zur Erneuerung der Welt.
Etwas anderes war hingegen größer geworden, - die Welt, weil auf ihr plötzlich nicht mehr Unmassen von Menschen herumtrampelten. Auf einmal hatte der verbliebene Rest von einem mehr als genug, - Platz! Nur für die Unit, da gab es keinen Platz mehr. Hier nicht und wie ich hoffte, nirgendwo mehr.

Das Ding hing jetzt dröhnend über dem Schlosskomplex und machte alle Anstalten, im Innenhof zu landen. Also ging auch damit unsere letzte Chance dahin, Lana jemals wieder zu sehen. Wenn die drinnen zustiegen, würde niemand das Schloss auf normalem Wege verlassen.
Langsam senkte sich der Helikopter in den Schlosshof, der vielleicht gerade groß genug war, um das Riesending aufzunehmen. Die Geräuschkulisse verstummte, nachdem der Helikopter  innen gelandet war.
Dann öffnete sich wider Erwarten das Haupttor. Wir blickten angespannt in das dunkle Loch der Toreinfahrt, die sonst immer von Wächtern in ihren weißen Umhängen bewacht worden war.
Die Wächter fehlten. Dafür erschienen jetzt mehrere Menschen in ebenso weißen Umhängen, wie sie die Schwestern getragen hatten.
Als die ersten von ihnen das Dunkel des Tores durchschritten, fielen kurz hintereinander drei Schüsse und die Getroffenen stürzten  lautlos zu Boden. Dafür schrien die anderen um so mehr und stürzten in Panik zurück ins Schloss.
Das Tor blieb offen. Die Schlossauffahrt blieb leer. Der Schütze bekam keine neuen Ziele. Aus dem Schlosshof konnten wir aufgeregtes Schreien hören, das auf ein heillosen Durcheinander schließen ließ. Niemand bemühte sich um die drei Verletzten oder Toten. Die lagen immer noch dort, wo sie zu Boden gestürzt waren.
Im Hof drehten sich nun wieder die Rotoren des Helikopters und erhöhten langsam die Drehzahl. Das Ding startete wieder. Um den Laden da zu evakuieren, erschien uns die Zeitdauer der Landung viel zu kurz. Die konnten doch unmöglich schon fertig sein!
Das Gebrüll der Rotoren erhob die Maschine jetzt über die
Mauern des hufeisenförmigen Gebäudekomplexes und diese drehte sich langsam in Richtung der Wohngebäude gegenüber der Schlossstraße, in der sich auch Ankes Haus befand. Ganz langsam schwenkte die Spitze des Helikopters von einem Ende der Gebäudereihe zur anderen, so, als würde er die Gebäude absuchen.
Wir hatten beide genug Hollywood-Filme gesehen, um zu wissen, das die Insassen dieser Transport- und Kampfmaschine nichts anders taten, als die Gebäude zu scannen. Wärmebildkameras suchten nach lebenden Objekten, so wie sie
früher weltweit stets lediglich nach Objekten gesucht hatten, kalt, gefühllos, den Job erfüllend. Auch hier geschah nichts anderes. Männer erfüllten einen Job. Sie mussten ein lästiges Insekt loswerden, das sie bei der Erledigung ihres Jobs behinderte.
Tobias sah mich mit geweiteten Augen an und wir wussten in diesem Moment beide um unser Glück im Unglück. Drüben, in unserem Ausguck, hätten sie uns ausgemacht und ausgeschaltet. Von dort war geschossen worden. Dort suchten sie und würden fündig werden und wenn nicht, auch egal, dann  eben eine volle Breitseite, die uns mit hinweggefegt hätte.
Der Heckenschütze dachte das offensichtlich nicht, denn die Maschine blieb jetzt in der Luft stehen. Man hatte das Ziel ausgemacht. Kurz darauf zischte es unter einer der Landekufen auf und eine kleine Rakete flog auf eines der Häuser zu. Für eine Flucht war es jetzt viel zu spät. Selbst der Gedanke daran war vielleicht der letzte Gedanke des so nervigen Heckenschützen. Die Rakete flog in das Obergeschoss des zu treffenden Hauses und explodierte mit ohrenbetäubendem Knall. Im gleichen Augenblick wölbte sich das Dach samt Obergeschoss auf wie in einer Flammenblase und zerflog in alle Himmelsrichtungen. Übrig blieb ein Haustorso, der aussah, als wäre sein Inneres nach außen gekehrt worden.
Noch immer stand der Helikopter dröhnend über dem Schloss und scannte nochmals die Häuserreihe, um ganz sicher zu
gehen, dass sich nicht noch ein Schütze oder auch Nichtschütze darin verbergen würde. Erst dann senkte sich das Fluggerät wieder langsam in den Schlosshof hinab. Diesmal ließen die Insassen die Rotoren bei geringerer Drehzahl laufen.
In der Toreinfahrt ließen sich nun auch wieder Menschen in den weißen Umhängen sehen, vorsichtig noch, es könnte ja sein, dass wieder auf sie geschossen wurde. Dann, als Sicherheit um sich griff, als man erkannte, dass die Jungs wieder mal ihren Job gut erledigt hatten, liefen sie erstaunlich schnell die Schlosseinfahrt herunter, so als bemühten sie sich, ihren bisherigen Aufenthaltsort so schnell als möglich hinter sich zu lassen.
Nachdem der Helikopter nun nicht mehr über dem Gebäudekomplex stand und uns hätte entdecken können, wagten wir uns hinter der Balustrade des Wehrturmes hervor und gaben uns den nun auf uns zu laufenden ehemaligen Schwestern zu erkennen.
Keine von ihnen trug mehr die sonst übliche Maske und alle wirkten total verunsichert. Als sie uns auf unser Rufen hin bemerkten, wichen sie aus wie ängstliche Kinder und liefen rasch den Schlossberg hinunter in die Stadt.
Bis auf eine!
Inmitten der Weißkittel verlangsamte eine der Schwestern ihren Schritt, riss sich die weiße Kutte wie etwas Lästiges vom Leib und warf sie zu Boden. Ihr Gesicht strahlte in einem befreiten Lächeln, als sie uns auf dem Turm erblickte. Wir hatten sie ebenfalls entdeckt und gestikulierten wie wild mit unseren Armen, wobei wir immer wieder ihren Namen riefen.
Lana! Lana!
Wir hatten sie wieder!
Sie stürmte auf uns zu. Die Anderen beachteten uns gar nicht. Unter dem Umhang trug sie einen eng anliegenden, grauen Hosenanzug, eine Art Unterzeug, über das sie einen T-Shirt gestreift hatte, der gar nichts amerikanisches an sich hatte, eher aus einem Discount stammte. An ihrem linken Unterarm fiel uns ein kleiner Verband auf. Tobias und Lana lagen sich in den Armen. Immerhin hatte er sie Monate nicht mehr gesehen.
Ehe wir Fragen stellen konnten, und Fragen gab es genug an sie, wehrte sie alles ab und wies auf die anderen Schwestern.

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, sagte sie kurz. „Ehe die Oberinnen, die Wächter und die drei schwangeren Schwestern einstiegen, haben sie uns mit den Worten freigegeben, wir sollten die nächsten Minuten nutzen, um die nähere Umgebung des Schlosses zu verlassen. Deshalb laufen alle Richtung Stadt. Das sollten wir auch tun.“
„Und Anke?“, wollte Tobias wissen.
„Ist bei denen geblieben“, antwortete sie und wies auf den Helikopter, der nun wieder über dem Schloss schwebte.
„Wir müssen hier weg“, drängte sie wieder. „Die haben was vor. Was Schlimmes wird passieren! Los weg hier!“
Mit diesen Worten zog sie Tobias mit sich fort. Ich folgte ihnen.
Tobias lief in Richtung des naheliegenden Friedhofes. Dort hatten wir unsere Fahrräder versteckt. Sie sollten dort auf mich warten, weil ich noch einmal das Haus aufsuchen wollte, in dem Anke gewohnt hatte. Ich wusste, dass im Keller des Hauses ihr Rad stand und wir benötigten drei, um schnell zu unserer Siedlung zu gelangen.
Am Haus angekommen blickte ich noch einmal zu dem über dem Schloss schwebenden Ungetüm. Es hatte an Höhe gewonnen und schwebte nun weit über dem Hof, in dem sich nun wahrscheinlich niemand mehr befand.
`Was hatten die vor?´, fragte ich mich. `Weshalb flogen sie nicht einfach weg. Ihre Leute befanden sich ja nun in Sicherheit.´
In diesem Moment durchfuhr mich ein eisiger Schreck! Es durchrieselte mich geradezu und ließ mir die Haare zu Berge stehen.
Ich kannte das, was da gerade mit mir geschah nur zu gut. Schließlich passierte es nicht das erste Mal.
`Nicht jetzt´, sagte ich mir. `Bitte nicht jetzt!´
Doch dieses Flehen würde nicht s nützen, das war mir voll bewusst. Aufmerksam horchte ich in mich hinein, suchte nach Anhaltspunkten, die mir zeigen würden, dass es sich nicht um eine Nierenkolik handeln würde, doch ich kannte die Anzeichen nur zu gut. Jeder, der so etwas schon einmal durchgemacht hatte, wusste sofort, was los ist.
In meinem Leib machte sich allmählich anschwellend ein Ziehen bemerkbar. Ich fürchtete dieses Ziehen. Es würde immer mehr werden, dass wusste ich nur zu genau. Langsam bewegte ich mich in das Innere des Hausflurs. Hinter mir schlug die schwere Holztür zu. Vor mir lag die alte Holztreppe, die in die oberen Geschosse führte. Alles glänzte wie neu, wie es sich für ein frisch restauriertes Haus nun mal gehörte. Auf diese Holzstufen setzte ich mich.
Pulsierend arbeitete sich der Schmerz voran und begann, Macht über mich zu gewinnen. War es erst einmal so weit gekommen, dass ich dieses Pulsieren spürte, wusste ich, dass auch kein Flehen mehr helfen würde.
Es ging los! Vielleicht noch 30 Sekunden oder weniger und es würde mich das erste Mal wie eine Keule treffen.
Wie früher auch schon lehnte ich mich zurück und zog die Beine an den Körper. In dieser Hockstellung ließen sich die Krämpfe besser aushalten.
Beim letzten Mal hatte es mich aus heiterem Himmel während eines Landausfluges auf einer Kreuzfahrt erwischt. Keine 500 Meter vom Hafen entfernt schmetterte mich
damals vor gerade mal zwei Jahren eine Kolik zu Boden, ausgelöst von einem winzigen Partikel, gerade mal 2,5 x 3mm groß.
Damals hatte ich Glück. Auf dem Schiff wusste der Arzt sofort, was zu tun war. Ich bekam professionelle Hilfe und ein chirurgischer Eingriff blieb mir erspart. Schon am nächsten Tag fühlte ich mich fast wieder topfit.
`Sie müssen prophylaktisch immer Medikamente bei sich

führen´, hatte mir der Arzt damals eingeschärft.
Dass es wieder passieren würde, früher oder später, war mir wohl bewusst. Den Rat des Arztes befolgte ich wohl, nur es erging mir wie mit einer Lesebrille, - wenn man sie brauchte, hatte man keine zur Hand.
Trotzdem durchsuchte ich meine Taschen, - nichts. Es war einfach nur zum Kotzen! Die Welt war zum Teufel gegangen und wir hatten alles überlebt. Uns ging es gut. Die Kinder lebten. Alles sah ganz danach aus, als würde alles gut werden. Und dann? Dieser Mist hier!
In diesem Augenblick erwischte mich der erste Krampfanfall. Wie immer kam er nicht als Schlag, sondern als sanfter, quälender Begleiter, der sich anschickte, für mehrere Minuten ein ausdauernder, weniger sanfter Begleiter zu werden, den ich durch nichts abschütteln konnte. Ich begann, noch leise vor mich hin zu stöhnen und hoffte inständig, dass es bald vorbei sein würde. Es verschwand nie ganz. Immer blieb ein quälender Rest dessen übrig, das einen ausgewachsenen Mann binnen Minuten zu einem zusammengekrümmten Stück voller Schmerz fällte.
Diesmal gab es keinen Arzt, der mir helfen würde.
Diese Erkenntnis bemächtigte sich meiner, als die erste Kolik sich anschickte, der zweiten Platz zu machen. Für einen Moment existierte in meinem Kopf der Platz für Gedanken an das, was mit mir demnächst unter Umständen geschehen würde oder könnte und ich erkannte die völlig andere und keinesfalls bessere Lage, in der ich mich im Vergleich zum letzten Mal befand.
Tobias und Lana warteten auf mich am Friedhof und ich hatte keine Chance mehr, aus eigenen Kräften zu ihnen zu gelangen. Fahrrad fahren ging sowieso nicht. Es gab zunächst nur eine Rettung, - ich brauchte meine Medizin!
Ein dumpfer Schlag fuhr durch die Luft. Unmittelbar darauf wurde die Haustür aus den Angeln gerissen und stürzte an mir vorbei in den Hausflur. Instinktiv kroch ich sofort unter die Treppe, als eine heiße Wolke aus Staub in den Hausflur drang und mir die Sicht und den Atem nahm. Ich rang nach Luft, vergaß in diesem Moment sogar die Schmerzen in meinem Leib, da mein Gehirn auf einmal die Prioritäten tauschte. Ohne Luft war man nun mal eher hinüber als durch eine Nierenkolik. Immer und immer wieder wollte ich Luft holen, selbst diesen staubigen Dunst hier. Es reichte nicht! Gerade noch merkte ich, dass ich zur Seite rutschte, dann war alles weg.

Wie lange ich so unter der Treppe gelegen hatte, wusste ich nicht mehr, als ich wieder zu mir kam. Sofort spürte ich wieder den Dämon in meinem Leib, der in mir erneut bohrte, so, als wolle er sich nach draußen fressen.
Das war der Wecker gewesen, der mich wieder ins Bewusstsein zurück gebracht hatte. Leise vor mich hin stöhnend und irgendwelche kindlichen Melodien säuselnd kämpfte ich mit mir selbst. Der Platz unter der Treppe bot Schutz. Also krümmte ich mich dort wieder zusammen und hoffte auf ein Wunder.
Die Luft war besser geworden. Gegenüber vorhin fiel das Atmen wieder bedeutend leichter, auch wenn es stark nach Rauch schmeckte. Wie hatte Lana gesagt? `Die haben was vor!´ Stammte das alles, was eben geschehen war von denen aus dem
Helikopter? Musste wohl so sein. Wer sonst hatte die Macht, hier so etwas auszulösen.
Minuten vergingen und mir kamen sie wie Stunden vor. Das Wunder geschah nicht. Wie sollte es auch gerade für jemanden geschehen, der sonst nie an Wunder geglaubt hatte? Manche Menschen in meiner Situation begannen in solchen Momenten, an Gott zu glauben oder sie flehten diesen Gott an, ihnen zu helfen. Wenn es einen Gott gab, so interessierte er sich wohl am wenigstens für meine Nierenkolik!
Während früherer Vorfälle war ich eigentlich immer ziemlich stolz darauf gewesen, alles, was mit dieser Sache zu tun hatte, sowohl vorher als auch danach, so mutig wie möglich zu ertragen. Über meine Lippen kam nie das markerschütternde Geschrei eben noch toller und absolut cooler Typen, die sich in der Urologie gebärdeten wie kleine Kinder. Auch jetzt wollte ich es einfach nur ertragen. Ich hatte ja keine Wahl. Ich musste es! So schaukelte ich stöhnend in Hockstellung vor mich hin, wissend, dass dies auch mein Ende bedeuten konnte.
Von draußen hörte ich plötzlich Geräusche. Schritte bahnten sich den Weg durch Geröll und Scherben. Stimmen riefen etwas oder suchten nach einer Antwort. Da draußen war jemand. Vielleicht suchte sogar jemand nach mir? Tobias? Er lebte und suchte nach mir?
Ich wollte es einfach wahr haben!
Es musste so sein!
Angestrengt versuchte ich mich zu überwinden, nicht mehr einfach nur krampfhafte Stöhnlaute von mir zu geben, sondern zu rufen. Es wurde nicht mehr als eine lallende Variation dessen, was ich seit einiger Zeit nur noch von mir gab.
Die Stimmen kamen trotzdem näher. Jetzt erkannte ich sie. Kein Zweifel, - es waren Lana und Tobias, die nach mir suchten. Mit dem Aufbäumen der Verzweiflung warf ich mich nach vorn und lag nun ausgestreckt mitten im Hausflur. Dann sah ich meinen Sohn im leeren Türrahmen stehen, streckte die Hand nach ihm aus und krümmte mich doch sofort wieder zusammen.
„Lana!. Er ist hier!“, rief er voller Freude, mich gefunden zu haben. Dann lief er schnell zu mir.
„Vater!“, rief er neben mir und versuchte mich, der als gekrümmtes Bündel dalag, umzudrehen. „Was ist passiert? Wo bist Du nur gewesen? Wir dachten schon, die Explosion hat Dich
erwischt!“
„Hallo Junge“, würgte ich keuchend hervor. „Pech gehabt“, sagte ich und es klang gar nicht lustig. „Nierenkolik!“
Er blickte mich ungläubig an.
„Das ist jetzt nicht Dein Ernst?“, fragte er.
„Und wie ernst!“, gab ich zurück.
„So ein Scheiß!“, entfuhr es ihm. „Und was machen wir jetzt? Wir brauchen einen Arzt!“
Für einen Moment ließ mich mein Dämon etwas los und ich nutzte diese Pause.
„Da gibt es keinen Arzt, Junge“, sagte ich schnell. „Ich brauche meine Medizin! Du musst nach Hause! Schnell! Mutter weiß, welche Tabletten es sind. Geh! Schnell!“
Tobias blickte mich verzweifelt an. Inzwischen hockte auch Lana neben ihm.
„Um Gottes Willen“, sprach sie langsam. „Was hat er?“
„Vater hat Koliken! Seine Nieren. Das hatte er schon früher. Ich muss nach Hause. Du bleibst bei ihm!“
Mit diesen Worten stand er auf und rannte nach draußen. Sie blieb einfach neben mir sitzen und hielt meine Hand. Sie wusste nicht, was sie tat, denn im nächsten Moment begann ich diese so zu drücken, dass sie schmerzvoll das Gesicht verzog. Als ich sie wieder losließ, war das Blut aus den Fingern gewichen.
„Verzeih“, hauchte ich zwischen den Schlägen meines Dämons.
„Schon gut“, meinte sie und rieb sich die gequetschten Finger. Sie scheute sich, mich anzusehen. Zwischen uns stand immer noch die Geschichte von damals, bevor sie ins Schloss gegangen war.
„Und?“, fragte ich sie. „Hast Du das Kind?“
Sie sah mich an, suchte nach einer Spur des Vorwurfs von damals, den sie sich wahrscheinlich oft genug selbst gemacht hatte. „Ja, ich habe es!“, antwortete sie und es klang glücklich.
„Dann ist alles gut“, sprach ich noch, bevor es mich wieder

erwischte.

Es dauerte eine Weile, bis Tobias zurückkehrte. Schließlich

musste er etwa vier Kilometer hin - und zurückfahren. Von fern hörten wir das Geräusch eines Motorrades, bis es vor dem Haus verstummte. Tobias kam schneller als erwartet zurück. Jede frühere Vorsicht außer Acht lassend ließ er für den Rückweg das Fahrrad liegen, nahm das Motorrad und brachte mir meine ersehnten Pillen.
Gierig schluckte ich die Buscopan und Ibuprofen hinter, lehnte mich an die Wand und erwartete die Linderung, die nun bald eintreten musste. Das klappte. Das wusste ich von früher und noch ehe die Wirkstoffe die Blutbahn erreicht hatten, fühlte ich mich besser. Dadurch spürte ich sofort die Kälte und begann zu zittern. Offensichtlich sah ich furchtbar aus, denn aus den Gesichtern der beiden sprach immer noch tiefe Besorgnis.
„Geht wieder“, bemerkte ich knapp. „Gleich vorbei!“
„Wirklich?“, fragte Tobias.
„Wirklich“, bestätigte ich. „Mir ist kalt! Ich muss raus aus den Klamotten. Die sind alle klatschnass.“
Das war immer so. Schmerz erzeugte Stress und Stress ließ den Schweiß fließen, manchmal literweise. Das hatte ich alles schon erlebt. Unser Gehirn arbeitet so, dass es die unangenehmen Seiten des Lebens gern und schnell verdrängt und so denkt man nicht mehr an den letzten Tiefschlag. Dafür ist dann alles sofort wieder da, wenn sich die Vorfälle wiederholen.
„Klar“, sagte Tobias. „Mutter hat das gewusst. Ich bringe frische Sachen für Dich mit. Warte, wir helfen Dir.“
Dann wechselten beide meine Sachen und zogen mich aus wie ein kleines Kind. Ich ließ es einfach geschehen und da war nichts von Scham vor der jungen Frau, die dabei stand und plötzlich nicht mehr das Mädchen war, die Tobias in unsere Familie gebracht hatte, sondern eine Pflegerin, die alles richtig machte. Mit den trockenen Sachen am Leibe, ging es mir sofort besser. Ich fror nicht mehr. Die Entkrampfung – und Schmerzmittel wirkten. Nur schwach fühlte ich mich, - unglaublich schwach und müde.
„Kannst Du aufstehen?“wollte Tobias jetzt wissen. „Wir müssen Dich irgendwie nach Hause bringen, das heißt, Du musst auf´s Motorrad!“
Mit beider Hilfe gelang es mir, wieder auf die Beine zu kommen, auch wenn meine Knie unter der Last des Körpers zitterten. Tobias übergab mich Lana, die mich, zerbrechlich, wie sie eigentlich war, mit aller Kraft stützte. Er setzte sich auf´s Motorrad, stützte dieses fest mit den Beinen ab, damit ich aufsitzen konnte. Mit Lanas Hilfe gelang mir das leichter als erwartet.
„Wir schaffen das, Vater!“, sagte er aufmunternd.
„Klar Junge“, meinte ich. Es sollte locker klingen, wirkte aber eher zittrig, wie von einem Greis.
Sie hatten wirklich an alles gedacht. Lana beförderte ein Gurtband aus dem Seitengepäckträger, mit dem wir
früher Lasten auf dem Dachgepäckträger befestigt hatten. Mit diesem Ding band sie mich einfach an Tobias fest, damit ich ja nicht herunterfallen würde, wenn wir Richtung Leibling fuhren. Sie würde mit dem Fahrrad folgen. Dann ging es los.
Erst jetzt registrierte ich das Chaos um uns herum. Sämtliche Scheiben waren aus den Fenstern gedrückt worden und Tobias hatte alle Mühe, das Motorrad durch die Scherben zu steuern, ohne die Reifen zu beschädigen. Schwarzer Ruß hing an den Hauswänden. Die Bäume am Schlosshang trugen keine Blätter mehr. Das Schloss selbst stand zwar noch, besaß aber kein Dach mehr, so als wäre es in einem Stück abgeschlagen worden. Im Inneren des Schlosshofes und in den nun entblößten Mauern des einst so stolzen Gebäudes brannten immer noch vereinzelte Feuer, deren Rauch über dem gesamten Komplex eine Rauchsäule bildete, so als qualme hier der Schlot eines Vulkans. Die Unit war ausgezogen und hatte eine Ruine zurück gelassen.
Verbrannte Erde! Nach ihnen die Sintflut!
Wie so oft
davor atmete ich befreit durch, als wir die geschundene Stadt hinter uns ließen und über die Feldstraße fuhren, die uns von Langenburg aus direkt in unsere Siedlung brachte. Von fern grüßte das Einkaufscenter und dann konnte ich unser Haus sehen. Fast wie  früher, aber eben nur fast.
Manuela erwartete uns am Zaun vor dem Grundstück und obwohl ich jetzt keine Tränen sah und sie sich bemühte, fröhlich zu wirken, sah ich, dass sie geweint hatte. Sie kannte die Gefahr ebenso wie ich sie kannte. Uns blieb noch Zeit!
Schweigend, weil wissend, trat sie zu uns, strich mir über den Kopf wie sie es
früher bei Tobias getan hatte und drückte ihre Stirn gegen meine. Dann band sie mich los. Sie führten mich ins  Haus und legten mich im Wohnzimmer auf die als Krankenlager vorbereitete Couch.
„Hast Du noch Schmerzen“, wollte sie wissen und setzte sich neben mich.
„Im Moment nicht. Aber sie werden wiederkommen“, sagte ich.
„Ich weiß“, bestätigte sie niedergeschlagen. „Wie gehen wir vor? Das ganze Programm?“
„Genau“, meinte ich lakonisch. „Also Trinken und nochmals Trinken, Tabletten schlucken, die Treppe hoch – und herunterhüpfen und hoffen, dass das Ding abgeht. Mehr kann ich nicht tun!“
„Und wenn  nicht?“ Es klang wie eine Drohung, die unausgesprochen im Raum stand.
Ich nahm ihre Hand und spürte, dass sie trotz aller zur Schau getragenen Fassung zitterte.
„Das sehen wir dann“, schloss ich ab, weil ich selbst nicht daran denken wollte.
Schon am nächsten Morgen ging es los. Ich würgte einen Krug Wasser nach dem anderen hinunter, pinkelte mir die Seele aus dem Leib, hüpfte die Treppen auf und ab wie ein Bekloppter, kontrollierte die Filtertüten nach der erhofften Hinterlassenschaft des mich so quälenden Steins und verschob die Hoffnung auf den nächsten Tag, mit dem die mir verbleibende Frist dem Ende entgegenging, von dem ich nun wirklich nichts wusste, weil es noch nie zur Debatte gestanden hatte.
Alle gaben sich große Mühe, unwahrscheinlich nett zu sein. So erzählte mir Lana von ihrer Zeit bei den Schwestern, der Geduld, die sie hatte aufbringen müssen, der Gängelei, der ewigen Kontrollen ihrer Schwangerschaft. Jeden Tag immer dasselbe! Trost spendete ihr lediglich der Kontakt zu Anke, durch die sie von Tobias erfuhr und über die sie Nachrichten an ihn weiterleiten konnte.
Sie erlebte die Verzweiflung der Schwestern, als eine nach der anderen das Kind verlor, an dem doch so unglaubliche Hoffnungen gehangen hatten. Die `Kinder Noas´ starben und mit ihnen der Glaube an die höhere Bestimmung, die höhere Stufe der Evolution, für die sie alles und alle geopfert hatten. Jetzt blieben sie zurück als leere Hüllen, die nicht mehr benötigt, sondern lediglich noch geduldet wurden.
Um so mehr sorgten sich alle um die drei neuen und fremden Schwestern, die ohne den Fehler von
früher hoffentlich das Leben in die Welt setzen würden, auf das die Unit so gesetzt hatte. Es blieben drei und würden auch nicht mehr werden.
Es ging nach Hause. Zurück in `gods own homeland´, wie es die Schwestern nannten und keine von ihnen ahnte, dass es nicht eine von ihnen betreffen würde. Sie trauerten in der Gewissheit, nie wieder ein Kind empfangen zu können aber sie fühlten sich in der Unit geborgen. Es war ihre Gemeinschaft gewesen. Sie gehörten doch dazu!
Anke hatte schnell begriffen, wie alles enden würde. Nachdem die Nachricht durchgesickert war, dass die Unit im Schloss aufgelöst werden sollte, stand ihr Plan fest.
Inzwischen lebte niemand aus ihrer Familie mehr. Die Mutter an der Seuche gestorben, der Vater aufgehängt von einem sich rächenden Mob, die Brüder abgeschossen wie Zielscheiben in einem bösen Spiel, das Zuhause erledigt für immer! Hier wollte sie nicht bleiben, auf keinen Fall! Raus hier, egal wohin, Hauptsache raus und Lana spielte eine Hauptrolle dabei.
Mitten im Durcheinander des Aufbruchs, der hilflosen Erkenntnis der Schwestern, einfach so zurück gelassen zu werden, der Aussichtslosigkeit ihrer Existenz, in dem Moment, als der Hubschrauber über dem Schlosshof schwebte, schnitt Anke Lana den Ship heraus und tauschte ihn gegen den ihren. Daher rührte der kleine Verband an Lanas Arm.
Während diese das Schloss verließ, um zu ihrem Tobias zurückzukehren, passierte Anke, nun verborgen unter dem wehenden weißen Umhang der Schwesternschaft, das Gesicht versteckt hinter der weißen Maske der Unschuld, die Kontrolle am Helikopter, streckte den nur leicht blutenden Arm mit Lanas Ship aus, was niemand weiter beachtete und betrat somit die Passage in eine neue Welt, von der sie hoffte, das sie dort eine Art Ersatz für das verlorene Leben hier würde finden können. Unsere Wünsche und unsere Dankbarkeit begleiteten sie.
Am nächsten Morgen besuchte uns unser Doc. Tobias hatte ihn auf der Schaumburg aufgesucht und gleich mitgebracht. Besorgt untersuchte er meinen Bauch und stellte wie ich fest, dass er durch die ständigen Krämpfe angespannt war, auch wenn mich die Schmerzen dank der Ibuprofen nicht mehr so fertig machten wie noch vor zwei Tagen.
„Wie sieht´s aus Doc?“, fragte ich trotzdem und versuchte, optimistisch zu wirken.
Er sah mich mit sehr ernstem Gesicht an. Das tat er eigentlich immer aber jetzt war etwas Neues hinzu gekommen. Wir waren Freunde geworden!
„Mann, Neubert“, sprach er. „Wie soll´s aussehen? Sie würden sagen, beschissen, was auch stimmt. Nur beschissen reicht nicht mehr. Es ist viel ernster als das. Die Medikamente helfen ihnen, mit den Koliken fertig zu werden. Aber das kennen sie ja. Sie sind ja in dieser Hinsicht ein alter Hase. Ich denke mal, Sie nehmen die Buscopan, trinken, was das Zeug hält und machen
Häschen-Hüpf, damit das Ding abgeht?“
„Und wie!“, bestätigte ich.
„O.k. , wann fing alles an?“, wollte er jetzt wissen.
„Das ist jetzt der dritte Tag“, antwortete ich.
Wieder sah er nachdenklich in die Luft, so wie er das immer machte. Nur
früher hatte mich das belustigt, - heute nicht.
„Dann haben wir noch drei bis vier Tage. Bis dahin muss der Stein raus sein. Sie haben bereits jetzt eine stauende Niere. Sie wissen, was das bedeutet?“
Als ich ihm antwortete, blickte ich ihn nicht an. Ich wollte von ihm hören, dass er einen Ausweg wüsste und ihn dabei nicht ansehen, weil ich nicht beabsichtigte, ihn bei einer Lüge zu ertappen.
„Ist mir klar“, sagte ich mit trockener Kehle. „Nach sechs Tagen treten nicht reparable Schäden am Nierengewebe ein, was bedeutet, - die Niere stirbt.“
„Genauso ist es“, meinte der Doc mit einer Ruhe in der Stimme, die einen schon zur Verzweiflung bringen konnte.
„Haben Sie eine Idee?“, fragte ich wider besseres Wissens.

„Bedaure nein“, antwortete er und es klang wie ein Todesurteil.
„Waren Sie nicht mal Chirurg?“, flehte ich ihn förmlich an.
„Stimmt, aber nicht in der Urologie. Außerdem fehlt uns das ganze Equipment, das OP-Team, einfach alles. Keine Chance Neubert, wirklich!“
So einfach wollte ich nicht aufgeben.
„Gibt es denn keinen mehr, der so was kann?“, bohrte ich erneut nach.
Wieder blickte er in die Luft, so als stände dort die Antwort geschrieben. Tief durchatmend blickte er mich wieder eindringlich an.
„Hier nicht“, sagte er. „Vielleicht in der Landeshauptstadt. Dort gab es eine große Klinik und einige Kollegen haben sich noch während der Pandemie dorthin auf den Weg gemacht, als hier alles zusammenbrach. Aber wie wollen Sie in Ihrem Zustand dorthin kommen? Das wird nichts!“
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, wehrte ich ab. „Welche Möglichkeiten bleiben uns denn sonst noch?“
„Wenn Ihnen dort nicht geholfen werden kann, werden Sie sterben!“
Jetzt war es heraus und ich dankte ihm eigentlich dafür. Drum herum zu reden, war nicht mein Ding. Mann, ich war nun 60 Jahre alt. Es waren 60 gute Jahre. Wer hatte die schon? Eine gute Frau, einen guten Jungen, ein gutes Leben voller Erfolge.
Schafften wir es trotz allem, noch ein paar Jahre dran zu hängen, o.k., wenn nicht, dann sollte es wohl so sein, oder?
Sorgen machte ich mir um Manuela. Ich hatte ihr versprechen müssen, sie nie allein zurück zu lassen. Versprechen sind das Eine, Schicksal das Andere. Da konnte ich versprechen, was ich wollte. Das lag dann nicht mehr in meiner Macht.
Aber noch war es nicht so weit.
Mir blieben noch einige Tage des Kampfes und ich würde mir alle Mühe geben, ihn zu bestehen, wenn es dieses Teufelsding in mir erlaubte.