Kapitel 11 -
 Was davon übrig geblieben ist.  

Seine Tochter hatte im Krankenhaus gearbeitet. Nach der Evakuierung des Personals kam sie mit anderen Überlebenden auf das Schloss, wo von der dort ansässigen Stiftung  ein Notlager eingerichtet worden war. Nur dass es dort von Anfang an gar keine Notleidenden gab. Als sie das merkte, war es bereits zu spät. Alle Ankommenden wurden kaserniert und konnten das Gelände bis zum Abklingen der Erkrankungen im Umland nicht mehr verlassen.
Eigentlich sollte das Ganze ja eine Schwesternschule sein, doch davon schien nach allem, was inzwischen passiert war, nichts mehr übrig zu sein.
Hier gab es plötzlich keine Schwestern mehr, vielmehr liefen die vormaligen Insassen auf einmal mit weißen Umhängen umher. Die Gesichter verschwanden erst hinter Schutzmasken, die später von silbern glänzenden Gesichtsmasken abgelöst wurden, so dass die Trägerinnen herumliefen, als wollten sie auf einen venezianischen Maskenball gehen.
Das betraf nur die Mitglieder des internen Clubs, also der ehemaligen Schwesternschule und deren Lehrer. Lehrer war von denen allerdings nicht ein einziger. Es gab dort ohnehin keine Männer bis auf das Wachpersonal. Die liefen ziemlich schnell auch mit Umhängen herum, nur dass diese allesamt schwarz waren. Das traf auch für die Gesichtsmasken zu, die vom gleichen Schnitt wie die der Schwestern aber eben schwarz waren.
Über allem stand eine Oberschwester mit drei Oberinnen, die den ganzen Laden leiteten. Sie erkannte man an den goldenen Masken. Über allem lag bedingungsloser Gehorsam, dem die Wachmänner in einer Weise folgten, den sich niemand der Krankenhausleute erklären konnte. Dahinter wirkte offenbar eine Magie, die sich der Öffentlichkeit entzog.
Nach Abklingen der Seuche blieben nur noch unbedingt notwendige Personen aus dem Krankenhaus im Schloss.
Notwendig in den Augen der Oberschwestern hieß, - Geburtenbetreuung, denn schnell stellte es sich heraus, dass alle Schwestern schwanger waren, wie auch immer und von wem auch immer.
Eine ganze Weile lief alles gut. Iris, Gerd´s Tochter, erledigte ihren Job im Schloss, bekam anstelle Lohn Nahrungsmittel für sich und ihre Eltern, zwar nicht genug, um ausschließlich davon zu leben aber sie hatten ja noch andere Möglichkeiten der Selbstversorgung aufgetan, so dass sie in dieser Zeit ganz gut hinkamen.
Plötzlich traten Probleme bei einer Schwester auf. Irgendetwas lief schief. Der Körper der Schwester stieß das Kind im Mutterleib ab und das war´s dann.
Es musste schleunigst Ersatz geschaffen werden. Eine neue Schwester sollte her. Wenige Tage später brachten die Wachleute ein völlig verängstigtes Mädchen von draußen mit, das dann von heute auf morgen in die Schwesternschaft integriert wurde. Nachdem diese dann wie alle anderen ihre Silbermaske trug, konnte sie niemand mehr von den anderen unterscheiden. Sie bewegte sich wie ihre Mitschwestern stoisch über das Gelände, kam zu den Mahlzeiten und Untersuchungen und widmete sich sonst wie die anderen einem sonderbaren Kult, dessen Zentrum sich in einem abgeschirmten Bereich des Schlosses befand, zu dem kein Betreuer Zutritt hatte.
Dann traf es eine zweite Schwester!
Wieder musste schleunigst eine neue her. Die zu beschaffen, fiel den Wachleuten offensichtlich schwer. So viele junge weibliche Überlebende gab es im Umfeld des Schlosses und in der Stadt nicht mehr. Gerds Tochter bekam noch rechtzeitig mit, dass sie vorgesehen worden war, die entstandene Lücke auszufüllen. Die erstbeste Gelegenheit nutzte sie zur Flucht. Sie wollte nach Hause, obwohl sie genau wusste, dass sie von den Wachleuten dorthin verfolgt werden würde.
Beim Überqueren der Gleise bleib sie hängen und brach sich das rechte Bein. Die Wachleute fanden sie, sahen die Verletzung, ließen sie jedoch einfach liegen und kehrten zurück zum Schloss. Iris schleppte sich bis nach Hause, wo sie von ihren Eltern notdürftig versorgt wurde. Die Verbindung zum Schloss war von diesem Tag an gekappt als hätte sie es nie gegeben.

Die Zuwendungen des Schlosses benötigten sie nicht unbedingt zum Überleben aber der Zustand des Beines seiner Tochter verschlechterte sich. Sie hatten das Bein zwar in eine Schiene gepackt aber offensichtlich nicht richtig ausgerichtet. Der Bruch begann, sich zu entzünden und Iris bekam Fieber. Gerd brauchte dringend einen Arzt für seine Tochter. Im Schloss gab es Ärzte. Also ging er zum Schloss. Schließlich hatte seine Tochter ja dort ihren Dienst versehen und gehörte seiner Ansicht nach zum Team. Die Wachleute ließen ihn nicht ein und alles Bitten nützte nichts.
Von seiner Tochter wusste er, dass zur Betreuungsmannschaft auch eine Ärztin gehört hatte, die Dr. Anke Neubert hieß. Den Namen kannte er. Sein Kumpel aus den alten Schulzeiten hieß doch auch so. Gab es solche Zufälle? Hatte Ralf Neubert eine Tochter, die Anke hieß und auch auf dem Schloss ihren Dienst tat?  Aber Ralf hatte doch nichts mit einer Tankstelle zu tun, in der der Vater von Anke jetzt lebte. Vielleicht Verwandtschaft?
Sofort suchte Gerd diesen Vater auf.
Als dessen Bruder kannte der natürlich den Schulkamerad Ralf Neubert. Offensichtlich hatte er auch so seine Beziehungen zum Schloss, nicht nur über seine Tochter. Ihn bat Gerd nun um Hilfe für seine Tochter. Andreas kannte zu dieser Zeit lediglich die Ärzte auf dem Schloss.  Um an diese Ärzte heranzukommen wollte Andreas gern vermitteln, - zu seinem damals schon üblichen Preis: Gold oder Weiber!
Gerd wollte einfach nicht wahr haben, was für ein Mensch ihm da gegenüber saß. Hatte er sich nicht deutlich genug ausgedrückt? Er brauchte einen Arzt und der Kerl da forderte von ihm was zum Vögeln oder Gold. Mit beidem konnte er nicht aufwarten. Die heruntergekommenen Bewohner des angrenzenden Wohngebietes konnten ihm erst recht nicht weiter helfen. Die lebten ja selbst am Rande des Existenzminimums nachdem sie die Ressourcen des zugehörigen Einkaufscenters aufgezehrt hatten.
Also durchquerte er die Stadt erneut in Richtung Neustadt, die sich auf der nördlichen Uferseite des Flusses befand. Auch dort gab es Überlebende. Die lebten ebenfalls in der Nähe eines Einkaufscenters. Das war aber auch schon alles, was sie mit den anderen gemeinsam hatten. Hier hatte es Gerd mit einer streng organisierten Gang zu tun, deren Anführer sich aus Männern gebildet hatte, denen man lieber nicht allein und unbewaffnet begegnete. Dementsprechend fiel die Begrüßung aus. Gerd wurde ausgelacht und erst einmal nach Strich und Faden verdroschen.
Nach diesem Erlebnis gab er die Kontakte zu den Überlebenden der Stadt auf und zog sich in seine Gartensiedlung zurück. Sie hatten die Hoffnung aufgegeben, ihre Tochter noch retten zu können. Der Zustand des Beines verschlimmerte sich von Tag zu Tag, egal wie oft sie die Kühlumschläge wechselten.
Dann trafen er mich im Dorf.
„Das mit dem Aufteilen der Schafe können wir später erledigen“, legte ich einfach fest. „Wir müssen uns jetzt um Deine Tochter kümmern. Das Beste wäre, wenn wir uns sofort zu uns aufmachen und Susanne holen. Wie sieht es an der Zufahrt zur Unterführung aus? Stehen sie dort auch durcheinander?“
Gerd winkte ab. „Was denkst Du denn? Die stehen an allen Einfahrten zur Stadt. Da ist mit einem PKW kein Durchkommen.“
„Gut und nicht gut“, meinte ich nachdenklich. „Wo wir nicht reinkommen, können andere auch nicht raus.“
„Wen meinst Du?“
“Na zum Beispiel die Gang von der Du geredet hast. Autos stehen doch genug herum. Also gibt es überall Kraftstoff zum Anzapfen. Jetzt muss jeder ein Zweirad benutzen, wenn er durch die Stadt will. Das kann von Vorteil sein.“
„Für uns aber nicht“, gab Gerd sofort zu bedenken.
„Ich habe oben ein Motorrad“, erklärte ich. „Du wartest auf mich am Zugang zu Eurer Wohnsiedlung. Du weißt schon, - dort an der Hütte für Wanderer.“
„Schon klar“, sagte er.
„Gut“, fuhr ich fort. „Sobald ich oben angekommen bin, fahre ich mit Susanne zu Dir und sie wird wissen, was danach zu tun ist. Alles klar?“
Er nickte.

„Dann los!“, rief ich ihm zu und wir setzten uns beide so schnell wir konnten in Bewegung. Ich bewunderte immer wieder die Leichtigkeit, mit der er sich beim Laufen fortbewegte. Immerhin war er fast ein Jahr älter als ich. Regelmäßiger Sport zahlte sich eben doch aus, dachte ich und folgte ihm so gut ich konnte, bis sich unsere Wege in der Mitte des Fahrweges am Weidenbach trennten. Jetzt hatte ich keine Augen mehr für die Natur. Jetzt ging es nur noch darum, schnell oben zu sein und das brachte mich ganz schön außer Puste.
Oben angekommen sahen mich die Frauen schon kommen.
„Wo ist meine Ziege?“, fragte Susanne.

„Um die kümmern wir uns später“, antwortete ich. „Jetzt müssen wir einem Freund helfen und dazu brauchen wir Dich als Ärztin.“
„Erzähle“, forderte sie mich kurzerhand auf und ich berichtete ihr, was ich über das gebrochene Bein von Iris wusste.
Ohne lange zu überlegen, lief sie ins Haus und kam kurz darauf mit ihrer alten Arzttasche zurück. Ich hatte inzwischen das Motorrad fahrbereit gemacht und sie saß kurzerhand auf.
Wir fuhren den Fahrweg nach Reichenfels hinab und schlängelten uns so gut es ging durch die herumstehenden Fahrzeuge. Auch hier bot sich dasselbe Bild wie unten im Dorf. Es hatte nur einen Augenblick der Unaufmerksamkeit bedurft und alle standen im Stau. Das zog sich hin bis an die Unterführung unter die Bahnstrecke nach Rietz. Alle wussten, dass man hier durch musste. Deshalb stand weiter nach unten Richtung Leibling niemand mehr.
Gerd wartete wie verabredet an der Hütte. Als wir ankamen, ging er voran und wir folgten mit dem Motorrad so gut es ging, denn auf diesem Wegstück sollten eigentlich nur Fußgänger oder maximal Fahrradfahrer unterwegs sein. Entsprechend eng ging es zu. Ich kannte den Weg recht gut. Er führte zu einer kleinen Gartensiedlung, die hinter den Gleisen ein wenig versteckt am Hang des Flusses lag.
Mehrere der Anwohner dort hatten sich im Laufe der Zeit aus ihren ehemaligen Wochenendhäusern Stück für Stück einen ständigen Wohnsitz errichtet, in dem sie dann schließlich mietfrei wohnen konnten. Da die Miete bei den meisten Menschen mehr als ein Drittel des Einkommens verschlungen hatte, machte das schon allerhand aus, diesen Posten einzusparen, so auch bei Gerd und seiner Familie.
In die Siedlung führten schmale Fahrwege, die
früher ebenfalls nie für PKW-Verkehr ausgelegt worden waren. Dementsprechend schlecht war ihr Zustand. Da beinahe jeder der Anwohner ein Auto besessen hatte, standen die Wege vor den Eingängen der Grundstücke alle voller Fahrzeuge. Nur bei Gerd nicht.
„Ich brauchte so was nicht“, sagte er nur, als er unsere Blicke auf den leeren Platz vor seinem Grundstück deutete.
Im Prinzip fanden wir alles so vor, wie ich es schon erwartet hatte. Vor uns lag halb im Gebüsch versteckt eine etwas zu groß geratene Gartenlaube, die zwar massiv aus Stein errichtet worden war aber trotzdem einen gestückelten Eindruck hinterließ. Das passierte nun mal, wenn immer und immer wieder angebaut wurde. Drum herum befanden sich mehrere Beete mit verschiedenen Gemüsesorten und Kräutern, die in einem Haushalt so gebraucht wurden. Apfel-, Pflaumen- und Birnenbäume rundeten die vermeintliche Idylle ab, in die sich Gerd in den letzten Jahren zurückgezogen hatte.
Anders als bei mir oben in der Siedlung konnte ich hier keinerlei Sicherungsmaßnahmen entdecken, die nur annähernd geeignet gewesen wären, die Einwohner zu schützen. Als wir durch das Gartentor traten, kam uns Gerds Frau bereits entgegen. Sie strahlte über das ganze Gesicht, was ich mir zunächst überhaupt nicht erklären konnte. Eigentlich hätte ich mit Besorgnis gerechnet, doch nichts dergleichen.
„Schön, dass Du wieder zurück bist“, begrüßte sie ihren Mann. Dann musterte sie uns. „hast ja sogar Besuch mitgebracht“, fügte sie etwas unsicher hinzu. Dann folgte ein Leuchten über ihr Gesicht. „Mensch Ralf, bist Du das?“ Dabei musterte sie mich erneut von oben bis unten. „Siehst gut aus. Verändert haben wir uns ja alle. Keiner wird jünger“, meinte sie noch.
Ich betrachtete die Frau und kramte in meinem Gedächtnis. Schön früher machte es mich total fertig, wenn mich Leute ansprachen, mich bei meinem Namen nannten, mich wie es aussah,  seit Jahren kannten, nur eben in den letzten Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten und nur ich hatte Schwierigkeiten, die vor mir stehende und auf eine ebenso erkennende und freudige Begrüßung wartende Person richtig einzuordnen. So auch jetzt. Bekannt kam sie mir schon vor, doch aus welcher Zeit.
„Kennst mich nicht mehr was?“, stellte sie fest.
„Tut mir wirklich leid“, sagte ich.
„Macht ja auch nichts“, fuhr sie fort. „Neustadtoberschule,
8. Klasse, Ferienlager auf der Burg.“
Ich sah sie an, sah Gerd an, dann klingelte es. Regina, das Mädchen, das schon mit 15 Jahren so gebaut gewesen war, wie sonst erst 20-ig Jährige. Sie war ein Jahr älter gewesen als ich, weil sie in der Unterstufe mal eine Klasse wiederholen musste. Im Ferienlager hatten dann mehrere von uns ein bisschen mit den Mädchen rumgemacht und meine Hand landete ziemlich lüstern an Reginas Hinterteil. Ich fasste wirklich voll zu und sie drehte sich so zu mir, dass ich ihren Hintern in voller Pracht vor mir hatte. Es gefiel ihr und mir natürlich erst recht. Also fummelte ich ziemlich lange und intensiv an ihrem dicken Hintern herum, nicht ahnend, dass sie sich daran sogar noch nach 45 Jahren erinnern würde.
Wieder musterte ich sie. Der Hintern hatte im Laufe der letzten 45 Jahre wohl doch einiges an Umfang zugelegt und füllte jetzt prall eine Jeans, deren Beine offensichtlich gekürzt worden waren, damit die Größe der Hose zur Größe des Gesäßes passte. Trotz der größeren Masse sah sie und das betreffende Teil aber immer noch gut aus für eine 62-ig jährige Frau, - fand ich jedenfalls.
„Regina?“, sagte ich und dachte mit gemischten Gefühlen an das Lagerfeuer, die Höhle im Wald und meine Hand auf ihrem Hintern und irgendwie war mir das alles ziemlich unangenehm.
„Genau!“ Sie freute sich wirklich, mich wieder zu sehen. „Wie kommst Du hierher?“, wollte sie noch wissen.
Dann erklärte ihr ihr Mann die Zusammenhänge.
„Wir waren mal Schulkameraden“, fügte sie seinen Worten noch hinzu und damit war die Sache mit dem Hintern für sie und für mich dann aber auch erledigt, weil ihr Mann das nun nicht unbedingt erfahren musste. Was sollten auch 45 Jahre alte Kamellen. Trotz allem, - die Welt war doch ein Dorf. Verblüffend wie und was alles so zusammen kommt.
„Fein, dass ihr Euch kennt“, meinte Gerd. „Wie geht es unserer Tochter“, kam er sofort zum eigentlichen Anliegen unseres gemeinsamen Auftritts hier in ihrer Siedlung.
„Das glaubst Du einfach nicht!“, polterte sie schnell los. „Es gibt wirklich noch Wunder. Komm´ rein und sieh selbst.
Gerd ging an ihr vorbei ins Haus. Wir folgten ihm, wobei Regina den Abschluss bildete.
Auf einer Couch in einem kleinen Wohnzimmer lag Gerds Tochter. Sie schien so Mitte 20 zu sein, ein nett aussehendes, zierliches Frauenzimmer, das immer noch etwas verwirrt drein blickte, als jetzt so viele Menschen das kleine Zimmer betraten. Nach allem, was in den letzten Wochen passiert war, - eine ganz normale Reaktion. Susanne und ich erkannten sofort, was alle hier verwunderte. Das Bein des Mädchens schien frisch bandagiert worden zu sein. Sie sah auch laut Gerds vorhergehenden Berichten wieder besser aus.
Susanne nahm sich einen Stuhl, setzte sich neben die Couch und sah sich den Verband an. Das Mädchen ließ es ohne Weiteres geschehen.

„Sind sie auch Arzt?“, wollte sie nur wissen.
Susanne blickte mich verwundert an und sah dann wieder zu dem Verband. „Das hier ist ein Fachmann gewesen“, bemerkte sie. „Sogar ein besserer als ich. Das hätte ich auch nicht besser hinbekommen. Du sagtest auch Arzt? War denn ein anderer Arzt hier?“
„Genau“, meldete sich wieder Regina, ihre Mutter. „Ihr glaubt nicht wer, der Dr. Buschner aus Pretting!“
Jetzt war es an uns, verwundert drein zu schauen. Seit mehreren Tagen hatten wir ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Eigentlich, seit er uns seine verletzte Tochter übergeben hatte. Damals setzte er sich einfach auf sein Pferd und verschwand. Ich hatte noch gedacht, dass er auf Rache wegen seiner Familie sinnen würde oder dass er ganz einfach in Ruhe wieder zu sich selbst finden wollte. Stattdessen tauchte er hier auf und kurierte die Leute. Nicht zu fassen!
„Und wie ist der ausgerechnet jetzt hierher gekommen“, wollte ich wissen.
Gerds Tochter setzte sich mit einem leichten Stöhnen etwas auf und zuckte leicht mit den Schultern.

„Das kam mir etwas eigenartig vor“, erzählte sie. „Man könnte denken, er hätte alles, was vorgefallen ist, genau beobachtet. Nicht wegen mir oder uns hier in der Siedlung. Ich meine, ich kenne ihn flüchtig aus dem Krankenhaus, als er dort noch als Chirurg gearbeitet hat. Ein guter übrigens. Hat keiner verstanden, weshalb er aufs Land gegangen ist. War ja auch seine Sache. Schon damals hatte er so was Unnahbares  an sich. Hat er heute immer noch. Der schaut einen einfach nicht an, wenn er mit einem redet. Guckt einfach vorbei der Typ. War trotzdem cool, als er hier so auftaucht und mein Bein verarztet. Als er damit fertig gewesen ist, packte er seinen Kram, will nichts, braucht nichts und haut einfach ab.“
„Hat er noch was gesagt?“, fragte ich.
„Nicht viel, nur, dass er alles im Auge behalten wird und nicht zulässt, dass Unschuldige leiden müssen.“ Jetzt lächelte Gerds Tochter sogar wieder.
Doktor Robin Hood, dachte ich. Na Freund, da hast Du Dir aber was vorgenommen. Was leichteres schien für ihn nicht in Frage gekommen zu sein. Der einsame Rächer zu sein erschien mir bedeutend einfacher als der einsame Retter. Andererseits musste ich mir jetzt keine Sorgen mehr machen, dass unser Doc psychisch auf der Strecke bleiben würde. Ich wusste nicht, was dazu geführt hatte. Irgendetwas musste passiert sein, da war ich sicher.
„Können wir sie hierlassen?“, fragte ich Susanne.
„Kein Problem, antwortete sie, während sie ihre Sachen wieder einpackte. „Der Bruch ist gut gerichtet und stabilisiert. Das Mädel ist noch jung. Das wird schon wieder. Ich schau´ mir das jede Woche mal an. Falls Dr. Buschner hier wieder aufkreuzen sollte, dann sagt ihm, seine Tochter braucht ihren Vater und wir freuen uns auch, wenn er wieder zu uns findet.“
Dann ließ sie  den beiden Frauen noch was gegen Schmerzen da, riet ihnen, sich möglichst nicht zu bewegen, stand auf und ging raus. So war sie nun mal, - kurz und bündig, staubtrocken.
Regina blieb bei ihrer Tochter. Gerd folgte Susanne nach draußen, wo wir uns verabschiedeten.
„Was wird jetzt aus unserer Nahrungssuche?“, fragte ich ihn scherzhaft. Gerd konnte nun auch endlich wieder lächeln.
„Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich mit einem ganzen Schaf anfangen soll. Das verdirbt uns doch nur. Einfach was abschneiden und den Rest wegwerfen, - das ist doch zu schade, oder? Hühner gib es keine mehr. Die haben sich die Füchse geholt. Weißt Du was, ich lasse die Viecher am Leben.“
Mir gefiel diese Antwort. Trotzdem fragte ich: „Verfügt ihr über elektrischen Strom?“ Eigentlich wusste ich die Antwort schon vorher. Ich hatte in seinem Grundstück nichts dergleichen gesehen, was darauf schließen ließ, dass er wie wir mittels Sonnenenergie, Strom erzeugte.

„Nein“, bestätigte er meine Annahme. „Ist doch eigentlich ein Witz oder? Da habe ich Elektrotechnik studiert und lebe in einem Steinzeithaushalt bei  Holzfeuer und Kerzenlicht. Na ja, war auch alles eine Frage des Geldes, das wir nie so üppig hatten. Wenn einer Stütze vom Amt bezieht, können zwei nicht so weit springen. Ich denke mal, bei Dir sah das anders aus?“
In diesem Augenblick fühlte ich die Erleichterung, ausgerechnet in meinem Freund Gerd den Elektriker gefunden zu haben, den ich so dringend für unsere Anlage und deren Wartung brauchte.
„Du kennst mich sicher noch ein bisschen von früher. In einer  Hinsicht habe ich mich nicht groß verändert. Autarkie ist schon immer so eine Macke von mir gewesen. Ganz haben wir das nicht geschafft aber in wichtigen Teilen. Was mir allerdings fehlt, ist teilweise das Fachwissen. Mit elektrischen Strom stehe ich etwas auf Kriegsfuß. Da brauche ich bestimmt irgendwann Hilfe.“
„Kein Problem“, sagte er. „Unter Freunden hilft man sich doch.“
„Freunde sind in diesen Zeiten knapp geworden“, meinte ich nur. „Weißt Du, es ist schwer geworden, noch jemandem zu trauen, wenn nicht mal auf den eigenen Bruder Verlass ist.“
Gerd nickte mit wissendem Verständnis. „Schlimm das mit Deinem Bruder“, stimmte er deshalb zu. „Was soll´s. Jeder sollte nach seiner Fasson selig werden, solange er mich dabei in Ruhe lässt. Bisher hatte ich mit ihm nichts weiter zu tun und was er im Stadtgebiet zusammen mit seinen Söhnen anstellt, ist seine Sache.“
Jetzt hörte ich interessiert auf. Neuigkeiten von meinem Bruder? Das wollte ich wissen.Nach seinem unrühmlichen Besuch hatten wir nichts mehr von ihm gehört, ohne darüber besonders traurig zu sein.
„Was stellt er denn so an?“, fragte ich deshalb.
Gerd sah so aus, als wollte er darauf nicht unbedingt antworten. „Ich weiß nicht“, meinte er. „Schließlich ist es ja Dein Bruder. Für seine Verwandten kann man ja schließlich nichts.“
„Komm´  rück´ schon raus“, drängelte ich. „Ich erwarte keine Lobeshymnen, wenn es um ihn geht. Er hat sich sehr verändert. Vielleicht liegt das an den neuen Umständen.“
Gerd wehrte ab. „Quatsch! Wer so ist, war schon früher ein Arsch!  Jetzt denken manche Typen, dass sie sich ohne Regeln alles erlauben können. Solange sie auf ihrer Seite bleiben, ist mir das egal. Überschreiten sie die Linie zu unserer Siedlung, bekommen sie es mit mir zu tun. Seit Jahren halte ich mir eine bestimmte Sorte Mensch vom Leibe. Daran werde ich jetzt auch nichts ändern. Dein Bruder gehört zu dieser Sorte.“
„Du meinst diejenigen, die für ihre eigenen Interessen über Leichen gehen und dann jedes Maß verlieren?“, drängte ich nochmals auf ihn ein.
„Genau die“, bestätigte Gerd jetzt. „“Du kannst Dir nicht vorstellen, wie es mich ankotzt, dass ausgerechnet diese Typen immer wieder durchkommen. Selbst nach diesem Mist hier hat sich daran nichts geändert. Wieder bestimmen die Leute wo´s langgeht, die ständig nur Unfrieden sähen. Das hört wahrscheinlich nie auf.“
Man merkte ihm an, dass er immer noch Rücksicht zu nehmen versuchte. Deshalb erzählte ich ihm vom Besuch meines Bruders in unserem Haus. Gerd schüttelte nur verständnislos den Kopf.

„Wie ich schon sagte. Die verändern sich nie.“
„Vielleicht, weil sich ihnen kaum jemand in den Weg stellt.“ Dabei musste ich an viele Begebenheiten meines bisherigen Lebens denken, bei denen genau das immer wieder passiert war. Wahrscheinlich lag es in der Natur des menschlichen Zusammenlebens, dass es immer wieder zu Rangordnungskämpfen kommen musste. Da hatten wir Menschen mit dem Affenrudel manchmal mehr gemein, als vielen lieb gewesen wäre. Irgendwann in der menschlichen Entwicklung schien es einen Knacks gegeben zu haben. Danach lief alles genau in Richtung des derzeitigen Schlamassels. Von dem Moment an, als es galt, etwas zu besitzen, dieses zu bewahren, zu verteidigen und vor allem, - diesen Besitz immer weiter zu vermehren, lief alles schief. Es konnte von der Regel ausgegangen werden, - je größer der Besitz, desto verbogener der Charakter! Gier frisst Hirn und wenn das Hirn dann aufgefressen ist, wo sollte dann ein vernünftiger Gedanke herkommen?
Da lagen sich Nachbarn in unsäglichen Streitfällen in den Haaren, bei denen es um nichts ging, um rein gar nichts. Banalitäten führten zu verbissen ausgefochtenen Grabenkämpfen über Jahre hinweg und dabei ging es doch allen eigentlich verdammt gut. Was würde passieren, wenn es solchen Menschen erst einmal richtig schlecht ergehen sollte?
Damals wollte ich gar nicht erst daran denken. Heute steckte ich mitten drin. Bloß gut, dass nicht mehr allzu viele davon übrig waren, dachte ich in diesem Moment wieder.
In diesem anscheinend ewig währenden Kampf derer, die auf Grund irgendeiner ungemein wichtigen persönlichen Position Gehorsam einforderten und denen, die sich solchen Despoten einfach nicht beugen wollten, hatten Gerd und ich unterschiedliche Wege mit ähnlichem Ergebnis gewählt. Beide hatten wir ein gewisses Maß an Ruhe vor diesen Typen erreichen können.
Ich hatte mir materiell die Möglichkeit erarbeitet, einfach über diesem ganzen Zirkus zu stehen, was hieß, ich bestimmte fortan meine Regeln selbst und wer was von mir wollte, hatte gefälligst anzuklopfen und höflich zu fragen. Und wenn nicht, dann konnte er mich gepflegt am Arsch lecken! Fertig!
Gerd hatte sich zurückgezogen, war in Deckung gegangen, tauchte ab bis zur Bedeutungslosigkeit, so dass er in der Illusion leben konnte, von solchen Schädlingen, nicht entdeckt zu werden. Das war aber lediglich Wunschdenken. Er wusste es, doch er verdrängte diese Tatsache, da er seit vielen Jahren nicht mehr kämpfen wollte.
„Wer soll das machen, sich ihnen entgegenstellen? Ich vielleicht?“, wollte er deshalb von mir wissen. „Oder stellst Du Dicht gegen Deinen Bruder, wenn er und seine Söhne auf Streifzug sind, um zu plündern?“
„Wie meinst Du das?“
„Na ja, ich habe da so was mitbekommen. Wir leben hier  in unserer Siedlung ja ziemlich isoliert. Als ich um Hilfe für meine Tochter gebeten habe, klang bei den Leuten in der Plattensiedlung in seiner Nachbarschaft so was an. Sie meinten, dass die drei in Ihrer Raffsucht die Wohnungen durchstöbern, um dort vorrangig nach Goldgegenständen zu suchen. Die im Schloss akzeptieren wohl Gold als Zahlungsmittel für alles, was sie aus ihrem Bestand entbehren können wie beispielsweise Medikamente.“
„Daran kann ich noch nichts Schlimmes sehen“, meinte ich. „Inzwischen bedienen wir uns ja auch von den Dingen, welche die anderen für uns übrig gelassen haben.“
„Mag sein“, warf er ein. „Da gibt es aber einen kleinen und feinen Unterschied. Wir nehmen, um zu leben. Wir holen uns das, was wir und unsere Familien brauchen. Ich wollte nicht in diese Situation geraten, weiß Gott nicht. Ich habe mir das nicht rausgesucht. Jetzt ist jeder selbst für die Regeln zuständig, mit denen er leben will. Das ist der entscheidende Punkt, Ralf. Regeln! Es muss immer Regeln geben.Alles andere ist Anarchie. Die führt nur noch tiefer ins Chaos. Menschen, die alle Regeln ablegen, nur weil es ihnen gerade eben so passt, sind für mich keine Menschen mehr. Dein Bruder ist kein Mensch mehr!“

Ich hatte nicht gerade die beste Meinung von meinem nächsten Verwandten aber das jetzt von einem eigentlich Fremden zu hören, erstaunte mich schon.
„Wir hatten die gleichen Eltern“, versuchte ich abzuschwächen. „Nicht jeder ist von Grund auf schlecht.“
„Wer Leichen fleddert schon!“
Ich konnte die Abscheu in Gerds Gesicht sehen.
„Gut, ich bin nicht dabei gewesen“, fuhr er fort. „Aber wenn´s stimmt, ist es eine ausgemachte Sauerei. Wenn er wirklich den Toten die Ringe von den bleichen Knochen zieht oder sogar die Zähne aus den Schädeln bricht, dann hört es für mich auf.“
Ich stand da und schluckte erst einmal. So was musste man erst einmal verarbeiten. Wie so oft, versuchte ich, mich in eine solche Situation zu versetzen. Diesmal wollte mir das nicht gelingen. Es war einfach zu grausig. Hatte er nicht zu allen möglichen Gelegenheiten betont, dass wir beide vom gleichen Baum abstammen würden? Der Stolz, der in diesen Worten mitschwang, nährte sich vorrangig  daran, dass er vielleicht dasselbe erreicht hätte, wie Manuela und ich, wenn er nur nicht immer so vom Pech verfolgt gewesen wäre. Pech hatte jeder Mal. Einige traf es da mit Sicherheit sehr hart. Wir hatten auch Pech gehabt, wenn man so will.
Für viele Menschen ist die Ausgangsposition ihres Lebens bereits eine entscheidende Stelle, an der sich entscheidet, ob man später Pech hat oder nicht. Alles Quatsch! Viele fühlen sich auch wohl im Pech. Zu jenen gehörte allem Anschein nach mein Bruder.
Gemessen an unserer
damaligen Situation lebte Andreas mit seiner Frau wie die Made im Speck, nur er sah es nicht so. Manche Menschen sind eben blind für das eigene Glück und bleiben so blind ein Leben lang. Glück haben dann nämlich immer die, denen es besser geht und wenn es nur ein kleines bisschen besser ist. Sie selbst sind dann diejenigen, die es wieder mal verpasst haben, denen übel mitgespielt worden ist, - die falsche Frau, die falschen Kinder, den falschen Job, das falsche Auto, das falsche Leben! Alles Scheiße!
Für eine solche Einstellung gab es für mich nur eine Erklärung, - solche Menschen liebten ihr vermeidliches Unglück, denn dadurch hatten sie auf ewig was zum Jammern. Oh, wie Manuela und ich dieses Gejammere satt hatten. Uns grauste vor Familienfesten, bei denen genau das dann immer wieder auf´s Neue zelebriert wurde.
Meine Manuela hatte für so was immer ihre Sprüche. Die hatten manchmal regelrecht was Weises. Sie sagte dann beispielsweise, - Weniger ist meistens mehr! - oder – Erledige Dinge dann, wenn Du sie erledigen kannst und nicht erst, wenn Du sie erledigen musst! -
Ich fand diese Sprüche einfach toll und versuchte, danach zu leben, wenn es irgendwie ging. Gerd hatte schon Recht, - Regeln waren notwendig. Das Problem an ihnen ist zu allen Zeiten die Freiwilligkeit gewesen, was hieß, es mussten sinnvolle, einsehbare Regeln sein, die keinem Diktat folgten. Selbst dann bleibt die Befolgung von Regeln stets eine häufig lästige Angelegenheit, was heißt, wenn es ohne bequemer ist, dann wird der bequemere Weg beschritten.
Dann muss es eben immer mehr sein, auch wenn es das zur Verfügung stehende Budget nicht hergibt.
Dann sehen wir doch erst einmal, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, dass andere für uns notwendige Arbeiten erledigen oder die Sache sich von selbst erledigt.
Das Ergebnis ist immer dasselbe, - irgendwann ist man pleite oder ein Jammerlappen, der in seinem Leben nichts erreicht hat. Und ausgerechnet einen solchen Charakter trifft das Geschenk, dass sämtliche Regeln auf einmal außer Kraft gesetzt worden sind, weil die Gesellschaft, welche die Befolgung von Regeln kontrolliert und darauf achtet, dass wenigstens ein gewisser Rahmen eingehalten wird, nicht mehr existiert. Das ist für einen schwachen Geist schon eine ziemliche Herausforderung, der
früher  ganz andere Leute unterlegen sind, als mein werter Bruder, der es nun allem Anschein nach darauf abgesehen hatte, sich zu bereichern, in dem er Leichen fledderte. In diesem Augenblick schämte ich mich für ihn.
Unsere Eltern hatten uns in einem einfachen Haushalt ein sorgenfreies Leben ermöglicht und dafür gesorgt, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung nach ihren Fähigkeiten erhielten. Das Ende von allem war ihnen dann aber doch erspart geblieben. Manchmal ist es leider besser, Eltern erleben gewisse Entwicklungen ihrer Sprösslinge nicht mehr.
Gerd sah mir an, dass ich mich schämte.
„Du kannst nichts für Deinen Bruder, Ralf“, versuchte er die Sache abzuwiegeln.

„Stimmt, weil ich keinen Bruder mehr habe“, würgte ich hervor.
Er blickte mich nachdenklich an.
„Das ist hart“, sagte er.
„Ja, das ist hart“, bestätigte ich. „Gerd, wir waren früher mal Freunde“, lenkte ich jetzt ab. „Ich hoffe, wir können  auf diese Freundschaft heute wieder aufbauen?“
„An mir soll es nicht liegen“, rief er mir zu.
„Gut.“ Ich atmete tief durch und danach war mir, als ob ich etwas Lästiges abgeschüttelt hätte.
„Susanne und ich kehren zurück in unsere Siedlung. Mein Angebot an Dich und Deine Familie steht. Falls ihr hier nicht mehr zurecht kommt, dann nehmen wir Euch oben bei uns auf. Luxus gibt es nirgendwo mehr aber vielleicht ein einfaches, gutes Leben. Wir verfügen dort oben über elektrischen Strom mit den damit verbundenen Annehmlichkeiten von früher. Wir geben gern davon ab. Es stehen dort Häuser leer, in die ihr einziehen könnt. Je mehr wir sind, desto einfacher für alle. Denkt darüber nach.“
Gerd streckte mir seine Hand entgegen.
„Freunde!“, sagte er und lächelte. „Danke für Eure Hilfe und für das Angebot. Sobald es meiner Tochter besser geht, lassen wir Euch wissen, wie wir uns entschieden haben. Vielleicht kannst Du verstehen, weshalb wir nicht gleich Hurra schreien und umziehen. Wir leben jetzt schon so lange Zeit in unserer kleinen Hütte hier, dass es schwer fällt, sich ein anderes Leben vorzustellen, auch wenn es vielleicht angenehmer ist. Der Mensch ist nun mal so. Was er kennt, stuft er als sicher ein. Alles Fremde verunsichert. Wir bleiben in Kontakt, ich hier in meinem Versteck und Du dort oben auf dem Berg. `Der Alte vom Berge´, - klingt nicht schlecht.“ Er lachte und es war kein Spott darin enthalten.
„Hör´ auf“, wehrte ich ab. „Da habe ich vielleicht etwas angerichtet. Woher weißt Du davon?“
„Manche Sachen sprechen sich schnell herum. Bei Deinem Bruder lebt eine junge Frau. Muss ein ganz schönes Aas sein. Tut so, als könne sie nicht bis Drei zählen und hat es faustdick hinter den Ohren. Sie hat Dich in Aktion erlebt. Das hat ihr einen ziemlichen Schreck eingejagt. Jetzt fürchtet sie sich vor Dir und erzählt allen weiter, was Du für ein Schlächter bist. Sogar die  in der Neustadt sprechen mit Respekt von Dir.“
„Die hatten Ihre Chance“, wehrte ich ab. „Als ihre Kumpels sich zwischen mich und das Leben stellten, hatten sie ihre Wahl getroffen und ich auch. Daran sehe ich nichts, was Respekt verdient. Fürchten sollte sich die junge Dame weniger vor mir als vor unserem Doc. Der hat eine dicke, offene Rechnung mit ihr zu begleichen.“
Er winkte ab. „Das sehen die Kerle da draußen anders. Für Leute, die nur das Faustrecht kennen, bist Du ein harter Brocken, den sie besser meiden wollen. Erinnert mich an Jack Londons Wolf Larson“
Jetzt lachte ich in mich hinein.
„Dann ist es gut so“, schloss ich ab, da mir dieses Thema nicht angenehm war.
„Susanne!“, rief ich ins Haus. „Können wir?“
Die Gerufene trat jetzt heraus.
„Hier ist alles in Ordnung. Manuela hatte vorhin noch eine gute Idee. Wir liegen doch nicht weiter als 3 km voneinander entfernt. Da reicht ein Walke-Talky. Sie hat mir eins mitgegeben. So bleiben wir direkt in Verbindung, falls es dem Mädchen wieder schlechter gehen sollte.“
„Klasse Idee“, meinte ich und stieg auf das Motorrad. Auch Susanne saß auf. Bevor wir losfuhren  rief ich noch: „Wir hören voneinander!“ Dann fuhren wir den Fahrweg zurück, wieder vorbei an all´ den Zeugnissen eines falsch verstandenen Wohlstandes, die nun herrenlos dem Rost anheimfielen.