Kapitel 11 - Was davon übrig
geblieben ist.
Seine Tochter
hatte im Krankenhaus gearbeitet. Nach der Evakuierung des Personals
kam sie mit anderen Überlebenden auf das Schloss, wo von der dort
ansässigen Stiftung ein Notlager eingerichtet worden war. Nur
dass es dort von Anfang an gar keine Notleidenden gab. Als sie das
merkte, war es bereits zu spät. Alle Ankommenden wurden kaserniert
und konnten das Gelände bis zum Abklingen der Erkrankungen im
Umland nicht mehr verlassen.
Eigentlich sollte das Ganze ja eine Schwesternschule sein, doch
davon schien nach allem, was inzwischen passiert war, nichts mehr
übrig zu sein.
Hier gab es plötzlich keine Schwestern mehr, vielmehr liefen die
vormaligen Insassen auf einmal mit weißen Umhängen umher. Die
Gesichter verschwanden erst hinter Schutzmasken, die später von
silbern glänzenden Gesichtsmasken abgelöst wurden, so dass die
Trägerinnen herumliefen, als wollten sie auf einen venezianischen
Maskenball gehen.
Das betraf nur die Mitglieder des internen Clubs, also der
ehemaligen Schwesternschule und deren Lehrer. Lehrer war von denen
allerdings nicht ein einziger. Es gab dort ohnehin keine Männer bis
auf das Wachpersonal. Die liefen ziemlich schnell auch mit Umhängen
herum, nur dass diese allesamt schwarz waren. Das traf auch für die
Gesichtsmasken zu, die vom gleichen Schnitt wie die der Schwestern
aber eben schwarz waren.
Über allem stand eine Oberschwester mit drei Oberinnen, die den
ganzen Laden leiteten. Sie erkannte man an den goldenen Masken.
Über allem lag bedingungsloser Gehorsam, dem die Wachmänner in
einer Weise folgten, den sich niemand der Krankenhausleute erklären
konnte. Dahinter wirkte offenbar eine Magie, die sich der
Öffentlichkeit entzog.
Nach Abklingen der Seuche blieben nur noch unbedingt notwendige
Personen aus dem Krankenhaus im Schloss.
Notwendig in den Augen der Oberschwestern hieß, -
Geburtenbetreuung, denn schnell stellte es sich heraus, dass alle
Schwestern schwanger waren, wie auch immer und von wem auch
immer.
Eine ganze Weile lief alles gut. Iris, Gerd´s Tochter, erledigte
ihren Job im Schloss, bekam anstelle Lohn Nahrungsmittel für sich
und ihre Eltern, zwar nicht genug, um ausschließlich davon zu leben
aber sie hatten ja noch andere Möglichkeiten der Selbstversorgung
aufgetan, so dass sie in dieser Zeit ganz gut hinkamen.
Plötzlich traten Probleme bei einer Schwester auf. Irgendetwas lief
schief. Der Körper der Schwester stieß das Kind im Mutterleib ab
und das war´s dann.
Es musste schleunigst Ersatz geschaffen werden. Eine neue Schwester
sollte her. Wenige Tage später brachten die Wachleute ein völlig
verängstigtes Mädchen von draußen mit, das dann von heute auf
morgen in die Schwesternschaft integriert wurde. Nachdem diese dann
wie alle anderen ihre Silbermaske trug, konnte sie niemand mehr von
den anderen unterscheiden. Sie bewegte sich wie ihre Mitschwestern
stoisch über das Gelände, kam zu den Mahlzeiten und Untersuchungen
und widmete sich sonst wie die anderen einem sonderbaren Kult,
dessen Zentrum sich in einem abgeschirmten Bereich des Schlosses
befand, zu dem kein Betreuer Zutritt hatte.
Dann traf es eine zweite Schwester!
Wieder musste schleunigst eine neue her. Die zu beschaffen, fiel
den Wachleuten offensichtlich schwer. So viele junge weibliche
Überlebende gab es im Umfeld des Schlosses und in der Stadt nicht
mehr. Gerds Tochter bekam noch rechtzeitig mit, dass sie vorgesehen
worden war, die entstandene Lücke auszufüllen. Die erstbeste
Gelegenheit nutzte sie zur Flucht. Sie wollte nach Hause, obwohl
sie genau wusste, dass sie von den Wachleuten dorthin verfolgt
werden würde.
Beim Überqueren der Gleise bleib sie hängen und brach sich das
rechte Bein. Die Wachleute fanden sie, sahen die Verletzung, ließen
sie jedoch einfach liegen und kehrten zurück zum Schloss. Iris
schleppte sich bis nach Hause, wo sie von ihren Eltern notdürftig
versorgt wurde. Die Verbindung zum Schloss war von diesem Tag an
gekappt als hätte sie es nie gegeben.
Die Zuwendungen des
Schlosses benötigten sie nicht unbedingt zum Überleben aber der
Zustand des Beines seiner Tochter verschlechterte sich. Sie hatten
das Bein zwar in eine Schiene gepackt aber offensichtlich nicht
richtig ausgerichtet. Der Bruch begann, sich zu entzünden und Iris
bekam Fieber. Gerd brauchte dringend einen Arzt für seine Tochter.
Im Schloss gab es Ärzte. Also ging er zum Schloss. Schließlich
hatte seine Tochter ja dort ihren Dienst versehen und gehörte
seiner Ansicht nach zum Team. Die Wachleute ließen ihn nicht ein
und alles Bitten nützte nichts.
Von seiner Tochter wusste er, dass zur Betreuungsmannschaft auch
eine Ärztin gehört hatte, die Dr. Anke Neubert hieß. Den Namen
kannte er. Sein Kumpel aus den alten Schulzeiten hieß doch auch so.
Gab es solche Zufälle? Hatte Ralf Neubert eine Tochter, die Anke
hieß und auch auf dem Schloss ihren Dienst tat? Aber Ralf
hatte doch nichts mit einer Tankstelle zu tun, in der der Vater von
Anke jetzt lebte. Vielleicht Verwandtschaft?
Sofort suchte Gerd diesen Vater auf.
Als dessen Bruder kannte der natürlich den Schulkamerad Ralf
Neubert. Offensichtlich hatte er auch so seine Beziehungen zum
Schloss, nicht nur über seine Tochter. Ihn bat Gerd nun um Hilfe
für seine Tochter. Andreas kannte zu dieser Zeit lediglich die
Ärzte auf dem Schloss. Um an diese Ärzte heranzukommen wollte
Andreas gern vermitteln, - zu seinem damals schon üblichen Preis:
Gold oder Weiber!
Gerd wollte einfach nicht wahr haben, was für ein Mensch ihm da
gegenüber saß. Hatte er sich nicht deutlich genug ausgedrückt? Er
brauchte einen Arzt und der Kerl da forderte von ihm was zum Vögeln
oder Gold. Mit beidem konnte er nicht aufwarten. Die
heruntergekommenen Bewohner des angrenzenden Wohngebietes konnten
ihm erst recht nicht weiter helfen. Die lebten ja selbst am Rande
des Existenzminimums nachdem sie die Ressourcen des zugehörigen
Einkaufscenters aufgezehrt hatten.
Also durchquerte er die Stadt erneut in Richtung Neustadt, die sich
auf der nördlichen Uferseite des Flusses befand. Auch dort gab es
Überlebende. Die lebten ebenfalls in der Nähe eines
Einkaufscenters. Das war aber auch schon alles, was sie mit den
anderen gemeinsam hatten. Hier hatte es Gerd mit einer streng
organisierten Gang zu tun, deren Anführer sich aus Männern gebildet
hatte, denen man lieber nicht allein und unbewaffnet begegnete.
Dementsprechend fiel die Begrüßung aus. Gerd wurde ausgelacht und
erst einmal nach Strich und Faden verdroschen.
Nach diesem Erlebnis gab er die Kontakte zu den Überlebenden der
Stadt auf und zog sich in seine Gartensiedlung zurück. Sie hatten
die Hoffnung aufgegeben, ihre Tochter noch retten zu können. Der
Zustand des Beines verschlimmerte sich von Tag zu Tag, egal wie oft
sie die Kühlumschläge wechselten.
Dann trafen er mich im Dorf.
„Das mit dem Aufteilen der Schafe können wir später erledigen“,
legte ich einfach fest. „Wir müssen uns jetzt um Deine Tochter
kümmern. Das Beste wäre, wenn wir uns sofort zu uns aufmachen und
Susanne holen. Wie sieht es an der Zufahrt zur Unterführung aus?
Stehen sie dort auch durcheinander?“
Gerd winkte ab. „Was denkst Du denn? Die stehen an allen Einfahrten
zur Stadt. Da ist mit einem PKW kein Durchkommen.“
„Gut und nicht gut“, meinte ich nachdenklich. „Wo wir nicht
reinkommen, können andere auch nicht raus.“
„Wen meinst Du?“
“Na zum Beispiel die Gang von der Du geredet hast. Autos stehen
doch genug herum. Also gibt es überall Kraftstoff zum Anzapfen.
Jetzt muss jeder ein Zweirad benutzen, wenn er durch die Stadt
will. Das kann von Vorteil sein.“
„Für uns aber nicht“, gab Gerd sofort zu bedenken.
„Ich habe oben ein Motorrad“, erklärte ich. „Du wartest auf mich am
Zugang zu Eurer Wohnsiedlung. Du weißt schon, - dort an der Hütte
für Wanderer.“
„Schon klar“, sagte er.
„Gut“, fuhr ich fort. „Sobald ich oben angekommen bin, fahre ich
mit Susanne zu Dir und sie wird wissen, was danach zu tun ist.
Alles klar?“
Er nickte.
„Dann los!“, rief ich
ihm zu und wir setzten uns beide so schnell wir konnten in
Bewegung. Ich bewunderte immer wieder die Leichtigkeit, mit der er
sich beim Laufen fortbewegte. Immerhin war er fast ein Jahr älter
als ich. Regelmäßiger Sport zahlte sich eben doch aus, dachte ich
und folgte ihm so gut ich konnte, bis sich unsere Wege in der Mitte
des Fahrweges am Weidenbach trennten. Jetzt hatte ich keine Augen
mehr für die Natur. Jetzt ging es nur noch darum, schnell oben zu
sein und das brachte mich ganz schön außer Puste.
Oben angekommen sahen mich die Frauen schon kommen.
„Wo ist meine Ziege?“, fragte Susanne.
„Um die kümmern wir
uns später“, antwortete ich. „Jetzt müssen wir einem Freund helfen
und dazu brauchen wir Dich als Ärztin.“
„Erzähle“, forderte sie mich kurzerhand auf und ich berichtete ihr,
was ich über das gebrochene Bein von Iris wusste.
Ohne lange zu überlegen, lief sie ins Haus und kam kurz darauf mit
ihrer alten Arzttasche zurück. Ich hatte inzwischen das Motorrad
fahrbereit gemacht und sie saß kurzerhand auf.
Wir fuhren den Fahrweg nach Reichenfels hinab und schlängelten uns
so gut es ging durch die herumstehenden Fahrzeuge. Auch hier bot
sich dasselbe Bild wie unten im Dorf. Es hatte nur einen Augenblick
der Unaufmerksamkeit bedurft und alle standen im Stau. Das zog sich
hin bis an die Unterführung unter die Bahnstrecke nach Rietz. Alle
wussten, dass man hier durch musste. Deshalb stand weiter nach
unten Richtung Leibling niemand mehr.
Gerd wartete wie verabredet an der Hütte. Als wir ankamen, ging er
voran und wir folgten mit dem Motorrad so gut es ging, denn auf
diesem Wegstück sollten eigentlich nur Fußgänger oder maximal
Fahrradfahrer unterwegs sein. Entsprechend eng ging es zu. Ich
kannte den Weg recht gut. Er führte zu einer kleinen
Gartensiedlung, die hinter den Gleisen ein wenig versteckt am Hang
des Flusses lag.
Mehrere der Anwohner dort hatten sich im Laufe der Zeit aus ihren
ehemaligen Wochenendhäusern Stück für Stück einen ständigen
Wohnsitz errichtet, in dem sie dann schließlich mietfrei wohnen
konnten. Da die Miete bei den meisten Menschen mehr als ein Drittel
des Einkommens verschlungen hatte, machte das schon allerhand aus,
diesen Posten einzusparen, so auch bei Gerd und seiner
Familie.
In die Siedlung führten schmale Fahrwege, die früher ebenfalls nie für PKW-Verkehr ausgelegt worden waren.
Dementsprechend schlecht war ihr Zustand. Da beinahe jeder der
Anwohner ein Auto besessen hatte, standen die Wege vor den
Eingängen der Grundstücke alle voller Fahrzeuge. Nur bei Gerd
nicht.
„Ich brauchte so was nicht“, sagte er nur, als er unsere Blicke auf
den leeren Platz vor seinem Grundstück deutete.
Im Prinzip fanden wir alles so vor, wie ich es schon erwartet
hatte. Vor uns lag halb im Gebüsch versteckt eine etwas zu groß
geratene Gartenlaube, die zwar massiv aus Stein errichtet worden
war aber trotzdem einen gestückelten Eindruck hinterließ. Das
passierte nun mal, wenn immer und immer wieder angebaut wurde. Drum
herum befanden sich mehrere Beete mit verschiedenen Gemüsesorten
und Kräutern, die in einem Haushalt so gebraucht wurden. Apfel-,
Pflaumen- und Birnenbäume rundeten die vermeintliche Idylle ab, in
die sich Gerd in den letzten Jahren zurückgezogen hatte.
Anders als bei mir oben in der Siedlung konnte ich hier keinerlei
Sicherungsmaßnahmen entdecken, die nur annähernd geeignet gewesen
wären, die Einwohner zu schützen. Als wir durch das Gartentor
traten, kam uns Gerds Frau bereits entgegen. Sie strahlte über das
ganze Gesicht, was ich mir zunächst überhaupt nicht erklären
konnte. Eigentlich hätte ich mit Besorgnis gerechnet, doch nichts
dergleichen.
„Schön, dass Du wieder zurück bist“, begrüßte sie ihren Mann. Dann
musterte sie uns. „hast ja sogar Besuch mitgebracht“, fügte sie
etwas unsicher hinzu. Dann folgte ein Leuchten über ihr Gesicht.
„Mensch Ralf, bist Du das?“ Dabei musterte sie mich erneut von oben
bis unten. „Siehst gut aus. Verändert haben wir uns ja alle. Keiner
wird jünger“, meinte sie noch.
Ich betrachtete die Frau und kramte in meinem Gedächtnis. Schön
früher machte es mich total fertig, wenn mich Leute ansprachen,
mich bei meinem Namen nannten, mich wie es aussah, seit
Jahren kannten, nur eben in den letzten Jahren nicht mehr zu
Gesicht bekommen hatten und nur ich hatte Schwierigkeiten, die vor
mir stehende und auf eine ebenso erkennende und freudige Begrüßung
wartende Person richtig einzuordnen. So auch jetzt. Bekannt kam sie
mir schon vor, doch aus welcher Zeit.
„Kennst mich nicht mehr was?“, stellte sie fest.
„Tut mir wirklich leid“, sagte ich.
„Macht ja auch nichts“, fuhr sie fort.
„Neustadtoberschule,
8. Klasse, Ferienlager auf der Burg.“
Ich sah sie an, sah Gerd an, dann klingelte es. Regina, das
Mädchen, das schon mit 15 Jahren so gebaut gewesen war, wie sonst
erst 20-ig Jährige. Sie war ein Jahr älter gewesen als ich, weil
sie in der Unterstufe mal eine Klasse wiederholen musste. Im
Ferienlager hatten dann mehrere von uns ein bisschen mit den
Mädchen rumgemacht und meine Hand landete ziemlich lüstern an
Reginas Hinterteil. Ich fasste wirklich voll zu und sie drehte sich
so zu mir, dass ich ihren Hintern in voller Pracht vor mir hatte.
Es gefiel ihr und mir natürlich erst recht. Also fummelte ich
ziemlich lange und intensiv an ihrem dicken Hintern herum, nicht
ahnend, dass sie sich daran sogar noch nach 45 Jahren erinnern
würde.
Wieder musterte ich sie. Der Hintern hatte im Laufe der letzten 45
Jahre wohl doch einiges an Umfang zugelegt und füllte jetzt prall
eine Jeans, deren Beine offensichtlich gekürzt worden waren, damit
die Größe der Hose zur Größe des Gesäßes passte. Trotz der größeren
Masse sah sie und das betreffende Teil aber immer noch gut aus für
eine 62-ig jährige Frau, - fand ich jedenfalls.
„Regina?“, sagte ich und dachte mit gemischten Gefühlen an das
Lagerfeuer, die Höhle im Wald und meine Hand auf ihrem Hintern und
irgendwie war mir das alles ziemlich unangenehm.
„Genau!“ Sie freute sich wirklich, mich wieder zu sehen. „Wie
kommst Du hierher?“, wollte sie noch wissen.
Dann erklärte ihr ihr Mann die Zusammenhänge.
„Wir waren mal Schulkameraden“, fügte sie seinen Worten noch hinzu
und damit war die Sache mit dem Hintern für sie und für mich dann
aber auch erledigt, weil ihr Mann das nun nicht unbedingt erfahren
musste. Was sollten auch 45 Jahre alte Kamellen. Trotz allem, - die
Welt war doch ein Dorf. Verblüffend wie und was alles so zusammen
kommt.
„Fein, dass ihr Euch kennt“, meinte Gerd. „Wie geht es unserer
Tochter“, kam er sofort zum eigentlichen Anliegen unseres
gemeinsamen Auftritts hier in ihrer Siedlung.
„Das glaubst Du einfach nicht!“, polterte sie schnell los. „Es gibt
wirklich noch Wunder. Komm´ rein und sieh selbst.
Gerd ging an ihr vorbei ins Haus. Wir folgten ihm, wobei Regina den
Abschluss bildete.
Auf einer Couch in einem kleinen Wohnzimmer lag Gerds Tochter. Sie
schien so Mitte 20 zu sein, ein nett aussehendes, zierliches
Frauenzimmer, das immer noch etwas verwirrt drein blickte, als
jetzt so viele Menschen das kleine Zimmer betraten. Nach allem, was
in den letzten Wochen passiert war, - eine ganz normale Reaktion.
Susanne und ich erkannten sofort, was alle hier verwunderte. Das
Bein des Mädchens schien frisch bandagiert worden zu sein. Sie sah
auch laut Gerds vorhergehenden Berichten wieder besser
aus.
Susanne nahm sich einen Stuhl, setzte sich neben die Couch und sah
sich den Verband an. Das Mädchen ließ es ohne Weiteres
geschehen.
„Sind sie auch
Arzt?“, wollte sie nur wissen.
Susanne blickte mich verwundert an und sah dann wieder zu dem
Verband. „Das hier ist ein Fachmann gewesen“, bemerkte sie. „Sogar
ein besserer als ich. Das hätte ich auch nicht besser hinbekommen.
Du sagtest auch Arzt? War denn ein anderer Arzt hier?“
„Genau“, meldete sich wieder Regina, ihre Mutter. „Ihr glaubt nicht
wer, der Dr. Buschner aus Pretting!“
Jetzt war es an uns, verwundert drein zu schauen. Seit mehreren
Tagen hatten wir ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Eigentlich,
seit er uns seine verletzte Tochter übergeben hatte. Damals setzte
er sich einfach auf sein Pferd und verschwand. Ich hatte noch
gedacht, dass er auf Rache wegen seiner Familie sinnen würde oder
dass er ganz einfach in Ruhe wieder zu sich selbst finden wollte.
Stattdessen tauchte er hier auf und kurierte die Leute. Nicht zu
fassen!
„Und wie ist der ausgerechnet jetzt hierher gekommen“, wollte ich
wissen.
Gerds Tochter setzte sich mit einem leichten Stöhnen etwas auf und
zuckte leicht mit den Schultern.
„Das kam mir etwas
eigenartig vor“, erzählte sie. „Man könnte denken, er hätte alles,
was vorgefallen ist, genau beobachtet. Nicht wegen mir oder uns
hier in der Siedlung. Ich meine, ich kenne ihn flüchtig aus dem
Krankenhaus, als er dort noch als Chirurg gearbeitet hat. Ein guter
übrigens. Hat keiner verstanden, weshalb er aufs Land gegangen ist.
War ja auch seine Sache. Schon damals hatte er so was
Unnahbares an sich. Hat er heute immer noch. Der schaut einen
einfach nicht an, wenn er mit einem redet. Guckt einfach vorbei der
Typ. War trotzdem cool, als er hier so auftaucht und mein Bein
verarztet. Als er damit fertig gewesen ist, packte er seinen Kram,
will nichts, braucht nichts und haut einfach ab.“
„Hat er noch was gesagt?“, fragte ich.
„Nicht viel, nur, dass er alles im Auge behalten wird und nicht
zulässt, dass Unschuldige leiden müssen.“ Jetzt lächelte Gerds
Tochter sogar wieder.
Doktor Robin Hood, dachte ich. Na Freund, da hast Du Dir aber was
vorgenommen. Was leichteres schien für ihn nicht in Frage gekommen
zu sein. Der einsame Rächer zu sein erschien mir bedeutend
einfacher als der einsame Retter. Andererseits musste ich mir jetzt
keine Sorgen mehr machen, dass unser Doc psychisch auf der Strecke
bleiben würde. Ich wusste nicht, was dazu geführt hatte.
Irgendetwas musste passiert sein, da war ich sicher.
„Können wir sie hierlassen?“, fragte ich Susanne.
„Kein Problem, antwortete sie, während sie ihre Sachen wieder
einpackte. „Der Bruch ist gut gerichtet und stabilisiert. Das Mädel
ist noch jung. Das wird schon wieder. Ich schau´ mir das jede Woche
mal an. Falls Dr. Buschner hier wieder aufkreuzen sollte, dann sagt
ihm, seine Tochter braucht ihren Vater und wir freuen uns auch,
wenn er wieder zu uns findet.“
Dann ließ sie den beiden Frauen noch was gegen Schmerzen da,
riet ihnen, sich möglichst nicht zu bewegen, stand auf und ging
raus. So war sie nun mal, - kurz und bündig,
staubtrocken.
Regina blieb bei ihrer Tochter. Gerd folgte Susanne nach draußen,
wo wir uns verabschiedeten.
„Was wird jetzt aus unserer Nahrungssuche?“, fragte ich ihn
scherzhaft. Gerd konnte nun auch endlich wieder lächeln.
„Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich mit einem ganzen Schaf
anfangen soll. Das verdirbt uns doch nur. Einfach was abschneiden
und den Rest wegwerfen, - das ist doch zu schade, oder? Hühner gib
es keine mehr. Die haben sich die Füchse geholt. Weißt Du was, ich
lasse die Viecher am Leben.“
Mir gefiel diese Antwort. Trotzdem fragte ich: „Verfügt ihr über
elektrischen Strom?“ Eigentlich wusste ich die Antwort schon
vorher. Ich hatte in seinem Grundstück nichts dergleichen gesehen,
was darauf schließen ließ, dass er wie wir mittels Sonnenenergie,
Strom erzeugte.
„Nein“, bestätigte er
meine Annahme. „Ist doch eigentlich ein Witz oder? Da habe ich
Elektrotechnik studiert und lebe in einem Steinzeithaushalt
bei Holzfeuer und Kerzenlicht. Na ja, war auch alles eine
Frage des Geldes, das wir nie so üppig hatten. Wenn einer Stütze
vom Amt bezieht, können zwei nicht so weit springen. Ich denke mal,
bei Dir sah das anders aus?“
In diesem Augenblick fühlte ich die Erleichterung, ausgerechnet in
meinem Freund Gerd den Elektriker gefunden zu haben, den ich so
dringend für unsere Anlage und deren Wartung brauchte.
„Du kennst mich sicher noch ein bisschen von früher. In einer
Hinsicht habe ich mich nicht groß verändert. Autarkie ist schon
immer so eine Macke von mir gewesen. Ganz haben wir das nicht
geschafft aber in wichtigen Teilen. Was mir allerdings fehlt, ist
teilweise das Fachwissen. Mit elektrischen Strom stehe ich etwas
auf Kriegsfuß. Da brauche ich bestimmt irgendwann Hilfe.“
„Kein Problem“, sagte er. „Unter Freunden hilft man sich
doch.“
„Freunde sind in diesen Zeiten knapp geworden“, meinte ich nur.
„Weißt Du, es ist schwer geworden, noch jemandem zu trauen, wenn
nicht mal auf den eigenen Bruder Verlass ist.“
Gerd nickte mit wissendem Verständnis. „Schlimm das mit Deinem
Bruder“, stimmte er deshalb zu. „Was soll´s. Jeder sollte nach
seiner Fasson selig werden, solange er mich dabei in Ruhe lässt.
Bisher hatte ich mit ihm nichts weiter zu tun und was er im
Stadtgebiet zusammen mit seinen Söhnen anstellt, ist seine
Sache.“
Jetzt hörte ich interessiert auf. Neuigkeiten von meinem Bruder?
Das wollte ich wissen.Nach seinem unrühmlichen Besuch hatten wir
nichts mehr von ihm gehört, ohne darüber besonders traurig zu
sein.
„Was stellt er denn so an?“, fragte ich deshalb.
Gerd sah so aus, als wollte er darauf nicht unbedingt antworten.
„Ich weiß nicht“, meinte er. „Schließlich ist es ja Dein Bruder.
Für seine Verwandten kann man ja schließlich nichts.“
„Komm´ rück´ schon raus“, drängelte ich. „Ich erwarte keine
Lobeshymnen, wenn es um ihn geht. Er hat sich sehr verändert.
Vielleicht liegt das an den neuen Umständen.“
Gerd wehrte ab. „Quatsch! Wer so ist, war schon früher ein
Arsch! Jetzt denken manche Typen, dass sie sich ohne Regeln
alles erlauben können. Solange sie auf ihrer Seite bleiben, ist mir
das egal. Überschreiten sie die Linie zu unserer Siedlung, bekommen
sie es mit mir zu tun. Seit Jahren halte ich mir eine bestimmte
Sorte Mensch vom Leibe. Daran werde ich jetzt auch nichts ändern.
Dein Bruder gehört zu dieser Sorte.“
„Du meinst diejenigen, die für ihre eigenen Interessen über Leichen
gehen und dann jedes Maß verlieren?“, drängte ich nochmals auf ihn
ein.
„Genau die“, bestätigte Gerd jetzt. „“Du kannst Dir nicht
vorstellen, wie es mich ankotzt, dass ausgerechnet diese Typen
immer wieder durchkommen. Selbst nach diesem Mist hier hat sich
daran nichts geändert. Wieder bestimmen die Leute wo´s langgeht,
die ständig nur Unfrieden sähen. Das hört wahrscheinlich nie
auf.“
Man merkte ihm an, dass er immer noch Rücksicht zu nehmen
versuchte. Deshalb erzählte ich ihm vom Besuch meines Bruders in
unserem Haus. Gerd schüttelte nur verständnislos den
Kopf.
„Wie ich schon sagte.
Die verändern sich nie.“
„Vielleicht, weil sich ihnen kaum jemand in den Weg stellt.“ Dabei
musste ich an viele Begebenheiten meines bisherigen Lebens denken,
bei denen genau das immer wieder passiert war. Wahrscheinlich lag
es in der Natur des menschlichen Zusammenlebens, dass es immer
wieder zu Rangordnungskämpfen kommen musste. Da hatten wir Menschen
mit dem Affenrudel manchmal mehr gemein, als vielen lieb gewesen
wäre. Irgendwann in der menschlichen Entwicklung schien es einen
Knacks gegeben zu haben. Danach lief alles genau in Richtung des
derzeitigen Schlamassels. Von dem Moment an, als es galt, etwas zu
besitzen, dieses zu bewahren, zu verteidigen und vor allem, -
diesen Besitz immer weiter zu vermehren, lief alles schief. Es
konnte von der Regel ausgegangen werden, - je größer der Besitz,
desto verbogener der Charakter! Gier frisst Hirn und wenn das Hirn
dann aufgefressen ist, wo sollte dann ein vernünftiger Gedanke
herkommen?
Da lagen sich Nachbarn in unsäglichen Streitfällen in den Haaren,
bei denen es um nichts ging, um rein gar nichts. Banalitäten
führten zu verbissen ausgefochtenen Grabenkämpfen über Jahre hinweg
und dabei ging es doch allen eigentlich verdammt gut. Was würde
passieren, wenn es solchen Menschen erst einmal richtig schlecht
ergehen sollte?
Damals wollte ich gar nicht erst daran denken. Heute steckte ich
mitten drin. Bloß gut, dass nicht mehr allzu viele davon übrig
waren, dachte ich in diesem Moment wieder.
In diesem anscheinend ewig währenden Kampf derer, die auf Grund
irgendeiner ungemein wichtigen persönlichen Position Gehorsam
einforderten und denen, die sich solchen Despoten einfach nicht
beugen wollten, hatten Gerd und ich unterschiedliche Wege mit
ähnlichem Ergebnis gewählt. Beide hatten wir ein gewisses Maß an
Ruhe vor diesen Typen erreichen können.
Ich hatte mir materiell die Möglichkeit erarbeitet, einfach über
diesem ganzen Zirkus zu stehen, was hieß, ich bestimmte fortan
meine Regeln selbst und wer was von mir wollte, hatte gefälligst
anzuklopfen und höflich zu fragen. Und wenn nicht, dann konnte er
mich gepflegt am Arsch lecken! Fertig!
Gerd hatte sich zurückgezogen, war in Deckung gegangen, tauchte ab
bis zur Bedeutungslosigkeit, so dass er in der Illusion leben
konnte, von solchen Schädlingen, nicht entdeckt zu werden. Das war
aber lediglich Wunschdenken. Er wusste es, doch er verdrängte diese
Tatsache, da er seit vielen Jahren nicht mehr kämpfen
wollte.
„Wer soll das machen, sich ihnen entgegenstellen? Ich vielleicht?“,
wollte er deshalb von mir wissen. „Oder stellst Du Dicht gegen
Deinen Bruder, wenn er und seine Söhne auf Streifzug sind, um zu
plündern?“
„Wie meinst Du das?“
„Na ja, ich habe da so was mitbekommen. Wir leben hier in
unserer Siedlung ja ziemlich isoliert. Als ich um Hilfe für meine
Tochter gebeten habe, klang bei den Leuten in der Plattensiedlung
in seiner Nachbarschaft so was an. Sie meinten, dass die drei in
Ihrer Raffsucht die Wohnungen durchstöbern, um dort vorrangig nach
Goldgegenständen zu suchen. Die im Schloss akzeptieren wohl Gold
als Zahlungsmittel für alles, was sie aus ihrem Bestand entbehren
können wie beispielsweise Medikamente.“
„Daran kann ich noch nichts Schlimmes sehen“, meinte ich.
„Inzwischen bedienen wir uns ja auch von den Dingen, welche die
anderen für uns übrig gelassen haben.“
„Mag sein“, warf er ein. „Da gibt es aber einen kleinen und feinen
Unterschied. Wir nehmen, um zu leben. Wir holen uns das, was wir
und unsere Familien brauchen. Ich wollte nicht in diese Situation
geraten, weiß Gott nicht. Ich habe mir das nicht rausgesucht. Jetzt
ist jeder selbst für die Regeln zuständig, mit denen er leben will.
Das ist der entscheidende Punkt, Ralf. Regeln! Es muss immer Regeln
geben.Alles andere ist Anarchie. Die führt nur noch tiefer ins
Chaos. Menschen, die alle Regeln ablegen, nur weil es ihnen gerade
eben so passt, sind für mich keine Menschen mehr. Dein Bruder ist
kein Mensch mehr!“
Ich hatte nicht
gerade die beste Meinung von meinem nächsten Verwandten aber das
jetzt von einem eigentlich Fremden zu hören, erstaunte mich
schon.
„Wir hatten die gleichen Eltern“, versuchte ich abzuschwächen.
„Nicht jeder ist von Grund auf schlecht.“
„Wer Leichen fleddert schon!“
Ich konnte die Abscheu in Gerds Gesicht sehen.
„Gut, ich bin nicht dabei gewesen“, fuhr er fort. „Aber wenn´s
stimmt, ist es eine ausgemachte Sauerei. Wenn er wirklich den Toten
die Ringe von den bleichen Knochen zieht oder sogar die Zähne aus
den Schädeln bricht, dann hört es für mich auf.“
Ich stand da und schluckte erst einmal. So was musste man erst
einmal verarbeiten. Wie so oft, versuchte ich, mich in eine solche
Situation zu versetzen. Diesmal wollte mir das nicht gelingen. Es
war einfach zu grausig. Hatte er nicht zu allen möglichen
Gelegenheiten betont, dass wir beide vom gleichen Baum abstammen
würden? Der Stolz, der in diesen Worten mitschwang, nährte sich
vorrangig daran, dass er vielleicht dasselbe erreicht hätte,
wie Manuela und ich, wenn er nur nicht immer so vom Pech verfolgt
gewesen wäre. Pech hatte jeder Mal. Einige traf es da mit
Sicherheit sehr hart. Wir hatten auch Pech gehabt, wenn man so
will.
Für viele Menschen ist die Ausgangsposition ihres Lebens bereits
eine entscheidende Stelle, an der sich entscheidet, ob man später
Pech hat oder nicht. Alles Quatsch! Viele fühlen sich auch wohl im
Pech. Zu jenen gehörte allem Anschein nach mein Bruder.
Gemessen an unserer damaligen Situation
lebte Andreas mit seiner Frau wie die Made im Speck, nur er sah es
nicht so. Manche Menschen sind eben blind für das eigene Glück und
bleiben so blind ein Leben lang. Glück haben dann nämlich immer
die, denen es besser geht und wenn es nur ein kleines bisschen
besser ist. Sie selbst sind dann diejenigen, die es wieder mal
verpasst haben, denen übel mitgespielt worden ist, - die falsche
Frau, die falschen Kinder, den falschen Job, das falsche Auto, das
falsche Leben! Alles Scheiße!
Für eine solche Einstellung gab es für mich nur eine Erklärung, -
solche Menschen liebten ihr vermeidliches Unglück, denn dadurch
hatten sie auf ewig was zum Jammern. Oh, wie Manuela und ich dieses
Gejammere satt hatten. Uns grauste vor Familienfesten, bei denen
genau das dann immer wieder auf´s Neue zelebriert wurde.
Meine Manuela hatte für so was immer ihre Sprüche. Die hatten
manchmal regelrecht was Weises. Sie sagte dann beispielsweise, -
Weniger ist meistens mehr! - oder – Erledige Dinge dann, wenn Du
sie erledigen kannst und nicht erst, wenn Du sie erledigen musst!
-
Ich fand diese Sprüche einfach toll und versuchte, danach zu leben,
wenn es irgendwie ging. Gerd hatte schon Recht, - Regeln waren
notwendig. Das Problem an ihnen ist zu allen Zeiten die
Freiwilligkeit gewesen, was hieß, es mussten sinnvolle, einsehbare
Regeln sein, die keinem Diktat folgten. Selbst dann bleibt die
Befolgung von Regeln stets eine häufig lästige Angelegenheit, was
heißt, wenn es ohne bequemer ist, dann wird der bequemere Weg
beschritten.
Dann muss es eben immer mehr sein, auch wenn es das zur Verfügung
stehende Budget nicht hergibt.
Dann sehen wir doch erst einmal, ob es nicht eine Möglichkeit gibt,
dass andere für uns notwendige Arbeiten erledigen oder die Sache
sich von selbst erledigt.
Das Ergebnis ist immer dasselbe, - irgendwann ist man pleite oder
ein Jammerlappen, der in seinem Leben nichts erreicht hat. Und
ausgerechnet einen solchen Charakter trifft das Geschenk, dass
sämtliche Regeln auf einmal außer Kraft gesetzt worden sind, weil
die Gesellschaft, welche die Befolgung von Regeln kontrolliert und
darauf achtet, dass wenigstens ein gewisser Rahmen eingehalten
wird, nicht mehr existiert. Das ist für einen schwachen Geist schon
eine ziemliche Herausforderung, der früher ganz andere Leute unterlegen sind, als mein werter
Bruder, der es nun allem Anschein nach darauf abgesehen hatte, sich
zu bereichern, in dem er Leichen fledderte. In diesem Augenblick
schämte ich mich für ihn.
Unsere Eltern hatten uns in einem einfachen Haushalt ein
sorgenfreies Leben ermöglicht und dafür gesorgt, dass ihre Kinder
eine gute Ausbildung nach ihren Fähigkeiten erhielten. Das Ende von
allem war ihnen dann aber doch erspart geblieben. Manchmal ist es
leider besser, Eltern erleben gewisse Entwicklungen ihrer
Sprösslinge nicht mehr.
Gerd sah mir an, dass ich mich schämte.
„Du kannst nichts für Deinen Bruder, Ralf“, versuchte er die Sache
abzuwiegeln.
„Stimmt, weil ich
keinen Bruder mehr habe“, würgte ich hervor.
Er blickte mich nachdenklich an.
„Das ist hart“, sagte er.
„Ja, das ist hart“, bestätigte ich. „Gerd, wir waren früher mal
Freunde“, lenkte ich jetzt ab. „Ich hoffe, wir können auf
diese Freundschaft heute wieder aufbauen?“
„An mir soll es nicht liegen“, rief er mir zu.
„Gut.“ Ich atmete tief durch und danach war mir, als ob ich etwas
Lästiges abgeschüttelt hätte.
„Susanne und ich kehren zurück in unsere Siedlung. Mein Angebot an
Dich und Deine Familie steht. Falls ihr hier nicht mehr zurecht
kommt, dann nehmen wir Euch oben bei uns auf. Luxus gibt es
nirgendwo mehr aber vielleicht ein einfaches, gutes Leben. Wir
verfügen dort oben über elektrischen Strom mit den damit
verbundenen Annehmlichkeiten von früher. Wir geben gern davon ab.
Es stehen dort Häuser leer, in die ihr einziehen könnt. Je mehr wir
sind, desto einfacher für alle. Denkt darüber nach.“
Gerd streckte mir seine Hand entgegen.
„Freunde!“, sagte er und lächelte. „Danke für Eure Hilfe und für
das Angebot. Sobald es meiner Tochter besser geht, lassen wir Euch
wissen, wie wir uns entschieden haben. Vielleicht kannst Du
verstehen, weshalb wir nicht gleich Hurra schreien und umziehen.
Wir leben jetzt schon so lange Zeit in unserer kleinen Hütte hier,
dass es schwer fällt, sich ein anderes Leben vorzustellen, auch
wenn es vielleicht angenehmer ist. Der Mensch ist nun mal so. Was
er kennt, stuft er als sicher ein. Alles Fremde verunsichert. Wir
bleiben in Kontakt, ich hier in meinem Versteck und Du dort oben
auf dem Berg. `Der Alte vom Berge´, - klingt nicht schlecht.“ Er
lachte und es war kein Spott darin enthalten.
„Hör´ auf“, wehrte ich ab. „Da habe ich vielleicht etwas
angerichtet. Woher weißt Du davon?“
„Manche Sachen sprechen sich schnell herum. Bei Deinem Bruder lebt
eine junge Frau. Muss ein ganz schönes Aas sein. Tut so, als könne
sie nicht bis Drei zählen und hat es faustdick hinter den Ohren.
Sie hat Dich in Aktion erlebt. Das hat ihr einen ziemlichen Schreck
eingejagt. Jetzt fürchtet sie sich vor Dir und erzählt allen
weiter, was Du für ein Schlächter bist. Sogar die in der
Neustadt sprechen mit Respekt von Dir.“
„Die hatten Ihre Chance“, wehrte ich ab. „Als ihre Kumpels sich
zwischen mich und das Leben stellten, hatten sie ihre Wahl
getroffen und ich auch. Daran sehe ich nichts, was Respekt
verdient. Fürchten sollte sich die junge Dame weniger vor mir als
vor unserem Doc. Der hat eine dicke, offene Rechnung mit ihr zu
begleichen.“
Er winkte ab. „Das sehen die Kerle da draußen anders. Für Leute,
die nur das Faustrecht kennen, bist Du ein harter Brocken, den sie
besser meiden wollen. Erinnert mich an Jack Londons Wolf
Larson“
Jetzt lachte ich in mich hinein.
„Dann ist es gut so“, schloss ich ab, da mir dieses Thema nicht
angenehm war.
„Susanne!“, rief ich ins Haus. „Können wir?“
Die Gerufene trat jetzt heraus.
„Hier ist alles in Ordnung. Manuela hatte vorhin noch eine gute
Idee. Wir liegen doch nicht weiter als 3 km voneinander entfernt.
Da reicht ein Walke-Talky. Sie hat mir eins mitgegeben. So bleiben
wir direkt in Verbindung, falls es dem Mädchen wieder schlechter
gehen sollte.“
„Klasse Idee“, meinte ich und stieg auf das Motorrad. Auch Susanne
saß auf. Bevor wir losfuhren rief ich noch: „Wir hören
voneinander!“ Dann fuhren wir den Fahrweg zurück, wieder vorbei an
all´ den Zeugnissen eines falsch verstandenen Wohlstandes, die nun
herrenlos dem Rost anheimfielen.