Kapitel 15 - Anke

„Wir müssen reden“, sagte Tobias knapp, als wir uns einige Tage später im Garten begegneten.
Manuela und ich sahen uns wissend an und fürchteten  das nun folgende Gespräch.
„Gut, reden wir“, sprach ich zu ihm.
„Wollen wir nicht Lana hinzuziehen?“, fragte Manuela.
„Nicht nötig“, erwiderte Tobias kurz.
Das verhieß nichts Gutes. Wir gingen ins Haus und setzten uns wie immer bei Familienangelegenheiten in der Küche an den Tisch. Schon komisch, welche zentrale Rolle doch so ein Küchentisch in einem Haus spielte. Wurde das hier nun ein Tribunal?
Er machte es kurz.
„Ich weiß Bescheid“, begann er und sah mich an. „Vater, ist o.k.“, fügte er hinzu. „Du brauchst Dich nicht schuldig zu fühlen. Sie ist so. Sie will nun mal ein Kind und da ich ihr keins machen kann, sucht sie im Prinzip einen Spender dafür. Dass sie Dich gefragt hat, ist mir nicht mal peinlich. Da hätte ich auch drauf kommen können. Die ganze Situation gefällt mir nicht, aber ich kann es nun mal nicht ändern.“
„Junge“, meldete sich Manuela.
„Lass´ nur Mutter“, fuhr Tobias fort. „Unsere Auffassungen gehen da mit Sicherheit ziemlich auseinander. Das sehe ich an Eurer Reaktion. Wir sehen das heute pragmatischer. Pragmatismus war doch immer Dein Ding, Vater. Also, ...“

„Es gibt Grenzen“, meinte ich.
„Schon klar“, sagte er. „Eure Generation sieht das ein bisschen anders als wir. Ihr seht das Überleben mehr materiell und sie  eben eher biologisch. Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“
„Bitte nicht den Doc oder Gerd“, warf ich ein.
„Keine Angst“, beschwichtigte uns Tobias. „Es genügt, Euch damit behelligt zu haben. Die letzte Nacht bin ich bei Anke gewesen. Sie wird uns helfen!“
Unsere Siedlung als Insel inmitten unaufhörlicher Veränderungen, - das funktionierte offensichtlich nicht mehr so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Dabei bedeuteten die meisten dieser Veränderungen leider nichts Positives für uns.
Tobias hatte Anke am Schloss abgepasst. Sie wohnte nicht allzu weit entfernt in einem nun leer stehenden Haus auf der gegenüber liegenden Seite der Straße, welche die vor wenigen Jahren renovierte Schlosssiedlung von Schlossberg trennte. Eigentlich verbrachte sie nur die Nächte dort, weil die neuen Insassen des Schlosses keine Fremden über Nacht im Schloss duldeten.
Sie hatte sich ungemein überrascht gezeigt, als sie kurz nach dem Passieren der Wache auf Tobias traf. Der hatte sich einfach an der Torauffahrt postiert, so dass sie sich nicht verfehlen konnten.
In der leeren Stadt fiel ein Mensch inzwischen mehr auf als alles Andere. Ihre Freude war echt, denn beide hatten schon vor der Seuche ein sehr gutes Verhältnis zueinander gepflegt. Fremde konnten meinen, es handle sich um Bruder und Schwester.
Gemeinsam legten sie den kurzen Weg zu ihrer Wohnung zurück, wobei Tobias aufgefallen war, dass sich Anke immer wieder ängstlich in Richtung Stadt umblickte, als erwarte sie von dort unten Gefahr. In Ihrem Zuhause angekommen erzählten sie einander von den Ereignissen der letzten Wochen und so erfuhr Tobias Dinge über das Schloss und ihre Arbeit dort, die schlagartig alles in ein anderes Licht tauchten, als er oder wir beide vermutet hatten. Andererseits, - so falsch lagen Anke und Susanne auch nicht. Ihnen war die Art und Weise wie die Pandemie vorangeschritten war, schon immer rätselhaft erschienen. Zu ahnen, dass daran etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte und es dann zu wissen, war zweierlei.
Anke kannte auch nicht die genauen Hintergründe, hatte aber mitbekommen, dass die Sekte auf dem Schloss, die sogenannten `Kinder Noahs´, nicht die einzigen ihrer Art waren. Offenbar handelte es sich um eine weltweit ansässige Organisation, die mit wenigen Ausnahmen, wie in Afrika und einigen Inseln, Stützpunkte auf der ganzen Welt errichtet hatte.  Der Grund dafür war simpel. Den Kindern Noahs ging es um eine Erneuerung der weißen Rasse. Schwarzafrikaner spielten da in den Überlegungen keine Rolle.
In allen als Units bezeichneten Standorten stand genetisches Material zur Verfügung, aus dem neue Kinder Noahs gezeugt werden konnten. Dabei handelte es sich sowohl um ausgesuchte Samen- als auch Eizellenspender, die den Anforderungen der Sekte genügt hatten. Was dann noch fehlte, war genetisch korrigiert worden.
Zu Beginn der Seuche hatten sich etwa 50 Schwestern und ihre Betreuer auf das Schloss zurückgezogen, so wie überall auf der Welt. In ihnen wuchsen die `Kinder Noahs´, die ihnen zuvor eingepflanzt worden waren. Überzeugt, die zukünftigen Übermenschen in sich zu tragen, folgten sie gehorsam dem Willen der fernen Zentrale und den Anweisungen der Oberinnen, die jeweils einer Unit vorstanden.
Die Seuche bereitete ihnen keine Sorgen. Auf dieses Ereignis hatten sie sich offenbar hervorragend vorbereitet, so, als hätten sie im Voraus gewusst, was da auf die Menschheit zukommen würde.
Nicht nur, dass sich in den jeweiligen Standorten genügend Vorräte für mehrere Monate befanden, gestattete die installierte Technik einen autarken Betrieb der Einrichtung über einen langen Zeitraum hinweg.
Der Clou an allem war jedoch die Vorbereitung der Insassen jeder Unit auf das Ereignis. Ihnen konnte der Virus nichts anhaben. Niemand von ihnen steckte sich an oder durchlief die abgeschwächten Krankheitssymptome wie beispielsweise Manuela oder Ralf nach einer Allgemeinvorsorge.
Bevor sich der erste Mensch infizierte, trugen sie bereits das Antigen in sich. So geschützt konnten sie dem Massensterben
ringsum ohne Sorge beiwohnen. Wie das zustande gekommen war, konnte Anke Tobias nicht erklären. Aber selbst der Einfältigste wäre sofort auf den Gedanken gekommen, dass, wer das Antigen kannte, bevor die Krankheit ausgebrochen war, auch das Gen des Virus hatte kennen müssen.
Beide hegten sofort einen furchtbaren Verdacht. Konnten die `Kinder Noahs´nur deshalb überleben, weil das Virus von ihnen in die Welt gesetzt worden war? Massenmord auf höchster Stufe, um die Welt mit Übermenschen zu bevölkern und alle anderen auszurotten? Dieser Gedanke schnürte beiden den Hals zu.
Es gab schon
früher jenseits des Atlantik die absonderlichsten Zusammenrottungen im Namen Gottes, der Wissenschaft, der Reinheit der weißen Rasse aber so weit zu gehen, das sprengte jede Vorstellung. Und doch lag es eigentlich auf der Hand! Nicht ein Todesfall, während alle  anderen starben!
Alles funktionierte perfekt. Überhaupt galt Perfektion in der Unit als oberstes Gebot, vielleicht nur noch übertroffen von peinlichster Reinlichkeit. Trotzdem lief was schief.
Zunächst begann es als Einzelfall. Alle Schwestern befanden sich ungefähr im gleichen Stadium der Schwangerschaft. Um das Personal für die anstehenden Geburten zu begrenzen, lagen die Geburtstermine nur wenige Tage auseinander. Als die erste Schwester den dritten Monat erreichte, stellten sich Komplikationen ein. Bis dahin war der Embryo normal gewachsen. Dann verschlechterten sich die Blutwerte. Der Körper der Leihmutter begann sich gegen die ihm fremde gewordene Frucht zu wehren,  so als würde ein Schalter umgelegt, ohne die Möglichkeit, diesen Prozess wieder umzukehren.
Der Kampf der Betreuer gegen diesen Abstoßungsvorgang verlief von Anfang an chancenlos. Es sah weniger nach einer bekannten Autoimmun-Erkrankung der Leihmutter und des Embryos aus, vielmehr nach einer internen, genetischen Veränderung jeder Zelle des kleinen Organismus, der diesem Angriff nichts entgegenzusetzen hatte. Der Embryo starb nach wenigen Tagen und musste entfernt werden. Die Leihmutter folgte nun nicht mehr dem Gesetz der Sekte, nach der `Noahs Kinder´ jung und gesund sein mussten, um im Kreis der Schwestern zu leben. Sie hatte ein Kind Noahs verloren! Sie war krank! So wurde sie zu einer Betreuerin und musste von nun an für die anderen Schwestern sorgen.
Dann starb der zweite Embryo!
Es handelte sich um dieselben Symptome wie bei der ersten Fehlgeburt. Das kleine Wesen veränderte sich im Leib der Leihmutter, so, als wäre es von einem tödlichen Virus befallen worden und starb.

Nach dem dritten Fall ahnten alle, dass es sich um eine Serie handeln musste, die am Ende alle Schwestern treffen würde. Die Ärzte aus dem ehemaligen Krankenhaus konnten sich das, was da in jeder Schwester abzulaufen schien, nicht erklären. Ihnen waren ja die genauen Umstände nie zugänglich gemacht worden. Alles, was vor der Empfängnis gelegen hatte, blieb von Anfang an im Dunkel.
Im Bewusstsein, letztendlich womöglich alle Kinder in den Schwestern zu verlieren, verfielen die Oberinnen darauf, sich neue Schwestern aus der Umgebung der Unit zu holen. Um dem Prinzip der Arche zu genügen, hatten diese jung und gesund zu sein. Davon gab es so gut wie keine mehr.
Zu gründlich hatte die Seuche gewütet.
Zu wenige Wächter standen den Oberinnen zur Verfügung, um den Suchradius zu vergrößern.
Zu ohnmächtig sahen sie sich zum Scheitern verurteilt!
Anke hatte das während der letzten Wochen immer stärker auf die Immunisierung der Schwestern vor Ausbruch der Seuche zurück geführt und die Kollegen teilten ihre Ansicht. Wandte sich jetzt das Antigen im Körper der Leihmütter gegen die Embryos, die dieses Gen nicht in sich trugen? Wurde die so rätselhafte Vorsorge jetzt zum Fluch und sorgte so dafür, dass es am Ende keine `Kinder Noahs´ geben würde, keine Übermenschen?
Aus ehemaliger Überlegenheit wurde tiefe Ratlosigkeit und Verzweiflung.
In dieser Situation kam Tobias und berichtete Anke von Lanas Kinderwunsch und dass er diesen allein nicht würde erfüllen können. Wenn die Unit im Schloss mehr als alles andere junge und gesunde Frauen suchte, war dann Lana nicht genau die Richtige, um eines dieser Kinder zur Welt zu bringen? Wen interessierte es, wer der biologische Vater war. Sie würden ein Kind haben und es würde ihr Kind sein! Sah so die Lösung aller Probleme aus?
Anke konnte beide verstehen, teilte aber Tobias Vorstellungen nicht ohne weiteres. Bisher hatte es sich im Schloss um einen geschlossenen Kreis von Schwestern gehandelt, die abgeschottet und behütet dem Tag der Geburt entgegen lebten. Dieser Kreis konnte nun aufgebrochen werden. Noahs Regeln waren einfach. Wer diese erfüllte, konnte dazu gehören. Den Status der neuen Schwestern kannte sie noch nicht.
Machte sich Tobias da nicht etwas vor. Würde es wirklich ihr Kind sein? War es nicht zuerst und vor allem das Kind der Unit, ein Kind Noahs, wer auch immer sich dahinter verbarg, vor allem jetzt, wo den Begründern der Unit der Nachschub ausging? Zählte da nicht jede gesunde Geburt doppelt? Ob es eine gesunde Geburt werden konnte, war noch lange nicht gesagt. Versuche in diese Richtung hatte es nicht gegeben und dass hier die Lösung liegen würde, basierte lediglich auf Spekulationen.
Frauen, welche die Seuche ohne genetische Immunisierung durchlebt und überlebt hatten, trugen die Reste des Anti-Gens nicht mehr in sich, waren also vielleicht gegenüber den Schwestern nicht nur gesund, sondern rein. Diese Eigenschaft bekam nun eine ganz neue Wertigkeit.
Leider hatte in der Unit niemand mit einer derartigen Entwicklung gerechnet. Auf so etwas hatten sie sich nicht vorbereitet und nachholen ließ sich dieser Mangel nicht mehr. Zwar handelte es sich bei den Kindern Noahs um eine weltweite Organisation, doch nach der Pandemie existierten die Warenströme nicht mehr, die eine Neuausrichtung der Unit möglich gemacht hätten. Auch sie mussten mit dem Vorhandenen auskommen, in dem Falle mit der rar gewordenen Ressource Mensch.
Anke hatte den Oberinnen vom Anliegen Lanas berichtet und die hatten nichts dagegen, wenn Lana die Eintrittsuntersuchungen der Unit bestehenwürde.
Schon am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg. Wir hatten uns nicht eingemischt. Sicherlich hätte das auch keinen Sinn gemacht. Die beiden hatten ihren Entschluss für sich getroffen, auch wenn das für beide eine Trennung bedeutete, denn vom Augenblick der Einpflanzung an, hatte Lana bis zur Geburt des Kindes auf dem Schloss zu leben. Offenbar war sie bereit, alles auf sich zu nehmen, nur um ihren Kinderwunsch erfüllt zu sehen.
Sie verließen uns auf den Fahrrädern über die Felder in Richtung Langenburg und verschwanden allmählich im leuchtenden Gelb der blühenden Rapsfelder. Diese umringten unsere kleine Siedlung wie ein gelbes Meer, das uns nahezu lückenlos umgab.
Dazwischen lagen wie hingestreut vereinzelte Bauminseln oder Feldwege, die mit ihren Hecken und Bäumen grüne Linien in das gelbe Einerlei zauberten.
Jeden Sommer wiederholte sich dieses Spiel. Jeden Sommer färbte der Pollenflug der Rapsfelder Ostdeutschland gelb und jeden Sommer war man froh, es wieder einmal überstanden zu haben.
Jetzt verschluckte dieser gelbe Raps unsere Kinder und wir wussten nicht, was die beiden im Schloss erwartete. Wir ließen sie gehen und zogen uns in unsere Festung zurück, in der wir hofften, den Halt und die Geborgenheit zu finden, die wir in unserem neuen Leben so vermissten.
In der Nacht wurde dann wieder geschossen. Das Echo des sich in der Stadt wiederholenden Kampfes wälzte sich Schuss für Schuss zu uns auf den Berg und ließ uns jedes Mal zusammenzucken. Bei den drei verschiedenen Gruppen im Stadtgebiet existierten gar nicht so viele Möglichkeiten, wer da gegen wen zu Felde zog.
Tobias blieb wieder über Nacht weg und kehrte am späten Nachmittag des nächsten Tages wieder zurück. Auf dem zweiten Fahrrad begleitete ihn zu unserer Überraschung Anke. Als sie vor unserem Zaun stand wirkte sie doch etwas unsicher. Lange hatten wir uns nicht mehr gesehen. Wenn so etwas passiert, schwindet der Gesprächsstoff und ein ehemals gutes Verhältnis hat sich dann automatisch ziemlich abgekühlt.
Wir öffneten unsere Sperren und ließen beide ein.
„Welch´ seltener Besuch“, empfing ich Anke an unserem Treppenaufgang.
„Hallo Onkel!“, rief sie hinauf.
Diese Anrede kam mir schon immer komisch vor, erst recht, wenn es sich um eine Frau Mitte Dreißig handelte.
Manuela drängelte sich an mir vorbei und stürmte auf Tobias zu.
„Gott sei Dank, dass Du wieder da bist“, empfing sie ihn.
„Als Du nicht zurück gekommen bist, ahnten wir schon, dass Du die Nacht wieder bei Anke verbringen wirst, so wie das letzte Mal.“
Er winkte nur kurz ab. So richtig zufrieden mit der neuen Situation schien er nun auch wieder nicht zu sein.
„Deswegen habe ich sie diesmal gleich mitgebracht“, meinte er kurz.
Nachdem wir uns alle gedrückt und umarmt hatten, gingen wir ins Haus und dort wie immer in die Küche. Jetzt, bei angenehmen Außentemperaturen fand das Leben aber wie von früher her gewohnt, zumeist im Freien statt. Also setzten wir uns auf die Terrasse, die sich an den Küchendurchgang anschloss.
Zunächst saßen wir alle beisammen und blickten mehr oder weniger unschlüssig hin und her, so als wolle niemand den Anfang machen. Alle wussten, worum es im Prinzip ging, doch herrschte eine unausgesprochene Scheu davor, dieses Thema auch anzusprechen.
Manuela brachte uns was zu Trinken mit hinaus und brach das Schweigen.
„Dich hier zu sehen sagt mir, dass alles gut abgelaufen ist“, stellte sie gegenüber Anke fest, die sich sichtlich erleichtert zeigte, auf diese Weise zum Erzählen aufgefordert worden zu sein.
„Kann man so sagen“, meinte sie. „Ist wie immer schön bei Euch“, fuhr sie fort und sah sich im Garten um. „Fast könnte man annehmen, es sei nichts passiert, mal abgesehen von Eurem Eingang. Mein Vater erzählte mir davon, dass es Euch gut gehen würde, besser als allen Anderen.“
„Ach ja, Andreas“, bemerkte ich. „Wie geht es Deinem Vater?“, wollte ich jetzt wissen und vermied dabei, das Wort Bruder zu benutzen.
„Wie soll es ihm schon gehen“, antwortete Anke und es klang schon eigenartig gleichgültig, wie sie von ihrem Vater sprach.
„Ihr kennt ihn ja. Früher ist er auch nicht der Aktivste gewesen. Daran hat sich nichts geändert. Er existiert noch, das erklärt es vielleicht am besten. Leben kann man das meiner Ansicht nach nicht nennen. Seit er sich in der Tankstelle verkrochen hat, gammelt er so vor sich hin. Der Vorfall hier bei Euch hat die Situation nur noch verschlimmert. Niemand kann mehr mit ihm reden. Er hockt nur noch da, flucht auf alles und jeden, am meisten auf Euch alle hier und leert eine Flasche nach der anderen. Irgendwann wird er seinen Vorrat leer gesoffen haben, wenn er sich auf diese Weise nicht vorher selbst umbringt.“
„Schlimm“, meinte Manuela. „Ich kam mal gut mit ihm aus, weißt Du? Ist nur schon verdammt lange her.“
Anke blickte traurig ins Leere.
„Ich weiß“, sagte sie nur. „Mein Vater war schon so, als Mutter noch lebte. Jetzt ist alles nur noch viel schlimmer. Euch trifft daran die geringste Schuld. Er ist da irgendwie rein gerutscht, mit jedem Jahr mehr. Erst die Schulden, dann dieser Stumpfsinn von Arbeit, mit der er unsere Familie über Wasser hielt und die Schulden abzahlte. Als das Chaos über uns alle hereinbrach, dachte ich für einen Moment, dass es mit ihm besser werden würde, dass er wieder aktiv werden würde aber von wegen. Saufen hilft da am allerwenigsten. Was er bei Euch abgezogen hat, kann ich mir gut vorstellen. Ich kenne die Sache ja nur aus seiner Sicht. Aber dass reicht mir eigentlich schon. Jetzt hat er seine Strafe weg und hasst Euch deswegen wie die Pest. Dabei ist doch alles nur seine eigene Schuld. Wie konnte er nur ...“
„Hast Du mit ihm darüber gesprochen?“, fragte ich sie.
Sie winkte ab. „Vergiss es. Momentan kann niemand mehr mit ihm reden. Dabei hatte ich immer einen guten Draht zu ihm. Ihr wisst ja, Väter und Töchter. Ist aber auch wirklich was dran. Aber das war einmal. Er lässt keinen mehr an sich ran, auch die Jungs nicht. Seit die Vorräte in der Tankstelle aufgebraucht sind, plündern sie die Stadt und geraten immer häufiger mit Mitgliedern der Nord-Gang aneinander. Irgendwann gibt es Tote.“
„Wir haben die Schießereien letzte Nacht gehört“, erklärte Manuela.
„Ja, ja, das geht jetzt ununterbrochen so. Manchmal kommt es mir so vor, als suchen dort alle die Auseinandersetzung. Ist ja auch leichter so“, bemerkte Anke resigniert.
„Was weißt Du über die im Norden?“, fragte ich.
„Nicht viel. Es sind einfach nur Chaoten, die zu nichts nutze sind. Ziehen herum und holen sich, was sie so brauchen. Noch lagern ja in vielen Häusern Vorräte an Konserven und Getränken, die nicht verderben. Wird aber auch weniger, sonst würden sie nicht verstärkt ins Stadtgebiet über den Fluss kommen. Früher galt der mal als Grenze, jetzt nicht mehr. Jetzt lauern sie sich gegenseitig auf. Meine Brüder haben da eigentlich keine Chance und sie wissen das. Seit die Gang über Schusswaffen verfügt, ist es eigentlich aus. Es sind zu viele. Die halten meine Brüder nicht auf. Vater kann ihnen nicht mehr helfen, seit er nur noch säuft. Die in der Nachbarsiedlung warten nur darauf, es ihm zu zeigen. Es ist einfach nur zum Heulen.“
Sie verbarg ihren Kopf in den Händen.Tobias nahm sie mitfühlend in den Arm und zog sie an sich. Für ihn war Anke schon immer so etwas wie eine Ersatzschwester gewesen und so behandelte er sie auch in diesem Augenblick.
„Anke ist ganz schön fertig, wisst Ihr?“, versuchte er uns die Situation zu erklären. „Irgendwie bleibt alles an ihr hängen. Alle  Kerle hier machen einen auf Macho und sie allein versucht, vernünftig zu bleiben. Dabei wird sie zerrieben. Wir dachten, auf Teneriffa dem Irrsinn entronnen zu sein und geraten mitten in einen neuen Wahnsinn. Mir gefällt das alles überhaupt nicht. Das nervt hier. Überall nur Aggressivität, Gewalt, Feindschaft, selbst unter Brüdern. Sobald Lana bereit ist, hauen wir hier ab, das sage ich Euch.“
„Und wohin?“, fragte ich und es klang leider wieder mal eine Spur schärfer, als beabsichtigt. „Es sieht doch überall gleich aus oder was denkst Du?“
„Mag sein“, entgegnete er. „Vielleicht sind wir Deutschen mit unserer Einstellung zum Leben einfach nicht für das Neue geschaffen. Als ob es nicht schon furchtbar genug wäre, das alles um uns herum zerbrochen ist, machen wir aus dieser Situation noch eine Extrahölle. Jeder ist dem Anderen sein Teufel. Gab es da früher nicht dieses Geschwafel von Nächstenliebe, das jedes Weihnachten in diese  Rührseligkeit ausartete?  Dahinter verbarg sich doch nichts anderes, als das schlechte Gewissen des vergangenen Jahres durch eine Geschenkorgie zum Jahresende zu beschwichtigen? Alles o.k. bis zum Neujahrstag und dann beginnt der ganze Mist wieder von vorn. So ähnlich läuft das jetzt doch auch wieder ab. Wo ist sie denn hin, diese Nächstenliebe?“
„Nicht so hart sein Junge“, versucht ihn Manuela zu beruhigen. „Nicht alle Menschen verhalten sich gleich, - auch jetzt nicht. Einige halten zusammen. Schau´ uns doch hier oben an. Hier herrscht kein Krieg. Wir helfen uns gegenseitig. Es geht uns gut.“
„Wie lange denn noch?“, brauste Tobias erneut auf. „In dem Moment, in dem diese Nord-Gang die Stadt beherrscht, habt Ihr sie hier oben auf dem Hals. Dann ist Schluss mit Frieden.“
Tobias sprach im Prinzip das aus, was ich schon lange dachte und wovor ich mich ehrlich gesagt auch fürchtete. Was? Wenn? Immer wieder die gleichen Fragen.
Was wussten wir von den Anderen? Eigentlich so gut wie nichts! Gut, Gerd hatte auf Anhieb schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht, ebenso unser Doc. Was sollte man von einer Gemeinschaft halten, deren Organisation auf Gewalt basierte? Solange die menschliche  Zivilisation bestand, standen sich Plünderer und Sesshafte feindlich gegenüber. Am Ende hatten die Sesshaften den Sieg davon getragen, weil sie über die besseren Ressourcen verfügt hatten. Ewige Plünderei ohne etwas zu schaffen erschöpfte sich ziemlich schnell. 
Noch gab es uns und einige andere in unserem Umfeld, aber wie lange noch? Was hatten wir alle zusammen der Gewalt entgegen zu setzen?
„Wir werden sehen“, entgegnete ich trotzdem. „Wer sich im Voraus wappnet, kann nicht mehr überrascht werden. Vielleicht ist es an der Zeit, unsere kleine Siedlung etwas besser zu schützen?“
Tobias winkte ab.
„Aus einer kleinen Festung eine größere machen, meinst Du das?“, sagte er.
„So ähnlich“, bestätigte ich.
„Also läuft alles wieder auf dasselbe hinaus, - Krieg und immer wieder Krieg!“platzte er heraus.
„So ist das mit dem Überleben“, sagte ich. „Einer droht und ein Anderer wehrt sich. Das ist doch ganz einfach. Wehrst Du Dich nicht, musst Du Dich den Anderen ergeben, bloß weil sie die größere Keule besitzen? Das ist kein Leben für mich. Gegen solche Idioten habe ich mich mein ganzes Leben gewehrt. Die gibt es immer und überall. Die sterben offensichtlich nie aus. Es sei denn, man sorgt dafür, dass es weniger werden. Das wäre dann mein Job.“
„Du kannst die Gesellschaft nicht immer nach Deiner Fasson  gestalten“, widersprach Tobias.
„Ich muss es aber versuchen“, wendete ich ein.
„Du vergisst, wie alt Du bist, Vater“, gab Tobias jetzt zu bedenken und er hatte nicht ganz unrecht damit. „Wer hilft Dir dabei? Der Doc ist doch mehr auf der Schaumburg als hier in Leibling. Dein Freund schottet sich am liebsten ab, bis es ihn auch erwischt hat und die Frauen sind dann eine willkommene Beute für die Sieger.“
„Was schlägst Du vor?“, wollte ich wissen.
„Weggehen“, meinte er. „Das Wichtigste zusammenpacken und einen Platz suchen, an dem wir ohne Gewalt leben können. Es muss solche Orte geben. Die Menschen im Süden denken anders.“
„Wir fahren dann aber nicht in den Urlaub, mein Sohn“; sagte ich. „Das hier wird was ganz anderes! Außerdem habe ich immer gesagt, dass man mich hier nur mit den Füssen voran hinaus bekommt. Daran hat sich nichts geändert.“
„Dann musst Du hier bleiben“; stellte Tobias fest. „Ich für meinen Teil muss das nicht.“
„Richtig!“, schloss ich dieses leidliche Thema ab, da ich bemerkte, wie der Tonfall allmählich angezogen hatte. Streit konnten wir jetzt am Allerwenigsten gebrauchen.
Manuela fiel deshalb sofort in unseren Disput ein.
„Klärt das, wenn es soweit ist“, meinte sie. „Im Moment ist mir Lana wichtiger. Wie geht es ihr?“, richtete sie die Frage an Anke, die sich bisher aus unserem Wortwechsel herausgehalten hatte und gedankenverloren in den Garten blickte.
„Ich denke ganz gut“, sagte sie so hin. „Sie gehört jetzt zu den Schwestern.“
„Das heißt?“, bohrte Manuela nach.
„Das heißt, sie wollte es so“, fuhr Anke fort. „Ich habe ihr erklärt, was es bedeutet, sich einen Spross Noahs einsetzen zu lassen. Es ging hier nie darum, sich so einfach befruchten zu lassen. Zu den Schwestern gehören heißt, einen Embryo eingepflanzt zu bekommen. Das ist etwas ganz anderes. Das ändert die Besitzverhältnisse, versteht ihr? Ihr so ersehntes Kind gehört der Unit. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob Lana das in ganzem Umfang kapiert hat. Ihr ging es vorrangig darum, mit Sicherheit schwanger zu werden. Das wird sie schaffen, denke ich. Sie ist gesund und kräftig und sie wurde nicht immunisiert wie die anderen Schwestern. Jetzt stellt Lana für die Unit etwas ganz Besonderes dar. Sie ist jetzt ein Hoffnungsträger.“
„Alles Quatsch“, fiel Tobias ein. „Sie bekommt ein Kind und wenn es geboren worden ist, ist es unser Kind und fertig. Schließlich hat sie es in sich getragen und genährt. Da diskutiere ich auch nicht.“
„Wenn Du Dich damit mal nicht irrst“, gab Anke zu bedenken. „Solche Diskussionen gab es schon früher. Am Ende bekam immer der Recht, der das Geld hatte oder die Macht, seinen Anspruch durchzusetzen. Daran hat sich nichts geändert.“
„Dann ändere ich die Regeln“, sagte Tobias.
Anke lächelte.
„Du bist genauso wie Dein Vater, auch wenn Du immer anders sein willst. Am Ende ein und dasselbe Kaliber.“
„Und was ist daran falsch?“, fragte er.
„Eigentlich nichts“, antwortete Anke. „Du solltest Dich nur nicht so häufig dagegen wehren, dann würdet ihr zwei Euch besser vertragen.“
Ich sagte nichts dazu. Anke sprach aus, was ich in letzter Zeit immer häufiger erkennen musste, - unser Sohn wurde älter und veränderte sich. Aus dem jungen Kerl war ein Mann geworden und diese Veränderung gefiel mir gut. Die Sache mit Lana gefiel mir allerdings überhaupt nicht gut. Worauf hatten sich die beiden da eingelassen? Oh Mann, wenn Weiber sich was in den Kopf gesetzt hatten!
„Verstehe ich das richtig?“, fragte ich. „Lana ist jetzt auf dem Schloss gefangen?“
„Gefangen ist vielleicht ziemlich hart ausgedrückt“, meinte Anke. „Und wenn, ist es eine angenehme Gefangenschaft.“
Sie erklärte uns, wie die nächsten Wochen für Lana ablaufen würden und das bedeutete wirklich den ununterbrochenen Aufenthalt auf dem Schloss in der Unit.
Nach der hormonellen Vorbehandlung folgte die Einpflanzung und in dieser Zeit die Integration in die Gemeinschaft der Schwestern. Sie sollte zu einer der Ihren werden. Das war das Ziel für alle Fremden, die aufgenommen worden waren. Viele betraf das nicht. Allmählich kehrten sich die Verhältnisse um. Das bedeutete, dass die Zahl der Betreuerinnen inzwischen höher lag, als die Zahl der Schwestern. Wie das schließlich enden würde, wussten in der Unit alle, aber niemand sprach es aus. Bisher hatte ja noch keine der neuen Schwestern den ominösen dritten Monat hinter sich gebracht.
Ein inzwischen klein gewordenes Team von Medizinern betreute die schwangeren Frauen. Ihre Zahl war der realen Zahl der verbliebenen Schwestern einfach angepasst worden. Es sah ganz so aus, als hätten sich die entlassenen Mediziner in die Landeshauptstadt abgesetzt. Die befand sich in 40 km Entfernung, - war also durchaus selbst mit einfachsten Mitteln, wie einem Fahrrad, erreichbar. Dort sollte es noch eine große Klinik geben, die Fachkräfte aufnahm. Dieses Gerücht musste ausreichen, um den so freigesetzten Kollegen Hoffnung nach dem Leben mit der Unit zu geben. Weshalb ausgerechnet Anke nicht hatte gehen müssen, blieb ihr selbst rätselhaft. Vielleicht, weil sie eine Frau war und so besser in die Gemeinschaft der Oberinnen und Schwestern der Unit hinein passte.
Sie hatte sich vorgenommen, Lana ganz besonders im Auge zu behalten. Durch sie verlor ihre Arbeit die bisherige Anonymität. Diese war immer seitens der Unit erwünscht gewesen. Die Oberinnen gestatteten keine engeren Kontakte der Betreuer zu den Schwestern. Je mehr frühere Schwestern allerdings in den Status einer Betreuerin fielen, desto weniger konnte verhindert werden, dass den verbliebenen schwangeren Frauen eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Dadurch fiel es kaum auf, wenn Anke und Lana mehr Zeit miteinander verbrachten, als sonst üblich gewesen wäre.
Viel Zeitvertreib gab es ohnehin nicht. Die Schlossanlage verfügte innerhalb der gesicherten Mauern über keine Gärten oder Außenbereiche, die einen angenehmen Aufenthalt im Freien gestatteten. Als ein großes Hufeisen umgaben die Hauptgebäude einen kahlen quadratischen Hof mit zwei Zugängen, von denen der eine unter dem mittleren Hauptgebäude versperrt worden war, um den anderen in der Zugangsmauer besser bewachen zu können. Von dort führte eine Auffahrt von der Hauptverkehrsstraße hinauf zur ersten Sperranlage des Schlosskomplexes, der inzwischen für die Insassen viel zu groß bemessen war.
Jeweils zwei schwer bewaffnete Wächter sorgten dafür, dass kein Unbefugter die Schlossanlage betreten konnte. Ebenso wenig war es möglich, die Sperranlage ohne Freigabe zu durchschreiten. Alle innerhalb des Komplexes trugen  einen implantierten Identitätschips im linken Arm, - auch die auswärtigen Betreuer wie Anke. Niemand außer ihnen erhielt Zugang zum Schloss und das auch nur zu festgelegten Zeiten.
Es herrschte Ordnung in der Unit, das musste man ihnen lassen. Wenn möglich, wurde nichts dem Zufall überlassen und ausgerechnet denen passierte die Panne mit dem Anti-Gen. Sie hatten sich darauf verlassen, dass alles so funktionieren würde wie immer, - perfekt! Dabei hatte ausgerechnet ihr Heimatland gerade für so einen Vorfall das beste Sprichwort, - Shit happens!
Nichts war mehr so, wie am Anfang. Die Unit taumelte dem Ende entgegen, das wussten alle. Ohne schwangere Schwestern, - ohne Kinder Noahs keine Unit.
Lana hatte vielleicht den letzten Moment erwischt, sich auf diese Weise ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Solange die Oberinnen die Hoffnung nährten, genügend neue Schwestern zu finden, lief der Laden weiter. Da die Oberinnen aber keinen Kontakt zur Außenwelt pflegten und auch nie in diese Richtung gedacht hatten, schätzten sie die Situation im Umfeld völlig falsch ein. Etwas ahnen, hieß nicht, es zu wissen. Und so nahmen sie Lana mit offenen Armen auf.