Kapitel 9 - Normalität ?
Es war Mai geworden
und es gab uns immer noch. Manuela und ich liebten diesen Monat
vielleicht auch deshalb so sehr, weil es der Monat unserer
Geburtstage war. Entscheidender schien aber der Umstand, dass immer
im Mai die Natur geradezu explodierte. Zu keiner Zeit des Jahres
sah das Grün kräftiger aus und dann begann alles zu blühen, so dass
es einfach seine Pracht hatte, staunend vor all´ diesen
Naturwundern zu stehen und einfach nur zu staunen und auch zu
genießen.
Für Manuela wurde es jedes Mal zu einer Art Zauberei, wenn aus dem
eben noch graubraunen Waldboden überall saftig grüne Sprosse
hervorlugten und sich der Boden von Tag zu Tag mehr mit einem
sanften Blütenmeer überzog. Das nannte sie dann das
Waldwunder.
Sich über so etwas zu freuen, das gelang uns beiden immer wieder
aufs Neue. Leider standen wir mit diesem Gefühl früher ziemlich allein da. Früher, - da war es wieder, dieses schreckliche Wort. Ich
ahnte, dass dieses Wort für uns beide eine unterschiedliche
Bedeutung erlangte.
Für Manuela bedeutete es die Erinnerung an so viele gemeinsame und
schöne Begebenheiten, die es nun einfach nicht mehr geben würde,
wie beispielsweise unsere Tanzbälle und die dazugehörigen
Übungsstunden. Allein tanzen, das ging auch, - machte aber nicht so
viel Spaß wie in der Gemeinschaft mit anderen Tänzern oder auch
Bewunderern dessen, was wir in den zurückliegenden Jahren von
unseren Lehrern gelernt hatten. Ebenso fehlten die wunderbaren
Konzerte im Gewandhaus in Leipzig. Eine CD einzulegen, sich
hinzusetzen und dann einfach nur zuzuhören, - das war etwas ganz
anderes, als das Mittendrin zu sein in einem klassischen
Klangwunder.
Jetzt blieb uns leider nur die CD. Unsere eigene Stromgewinnung
machte dies möglich. Doch es blieb der fade Beigeschmack eines
Ersatzes für etwas Unersetzliches.
Da saßen wir, - ausgespuckt in eine entleerte Welt, die
offensichtlich ganz gut ohne den Menschen auskam und lauschten den
Klängen vergangener Zeiten und beinahe bei jedem Ton fühlten wir
die Endgültigkeit dessen, was nun unsere neue Existenz
darstellte.
Dabei lebten wir sicherlich, verglichen mit anderen Überlebenden,
in einem ziemlichen Luxus. Weil wir unsere eigene Energieerzeugung
hatten, konnten wir uns Musik-CD´s anhören oder abends wie
früher
eine DVD einlegen und aus der vorhandenen
Sammlung einfach Filme auswählen, nach denen uns der Sinn stand. Da
war sie dann wieder, die so gefüllte und teilweise überfüllte Welt
mit ihrem Gewimmel, ihrem Lärm, dieser Rastlosigkeit, der Jagd nach
mehr und mehr und immer mehr und das ohne Rücksicht auf Verluste.
Mahner gab es damals genug. Doch wer
hörte schon auf diese Rufer mit dem erhobenen Zeigefinger, die
forderten: - Wehe Euch, wenn Ihr so weiter macht! - .
Gut, manchmal erreichten sie das Gewissen Einzelner, die sich dann
bemühten, beim nächsten Einkauf an die Mahner zu denken, - beim
übernächsten dann schon nicht mehr.
Das gehörte der Vergangenheit an, so wie die Mahner und deren
Prognosen einer düsteren Zukunft.
So düster sah unsere Zukunft eigentlich nicht aus, - nur leer. Es
gab kein Gemeinwesen mehr, das dafür sorgte, Konsumgüter im
Überfluss bereit zu stellen, so dass ich mich nur zu bedienen
brauchte, wenn mir danach war. Nichts wurde mehr bereitgestellt.
Selbst unser augenblicklicher Luxus stellte einen Luxus auf Zeit
dar. Der Tag würde kommen, an dem ein Teil ausfiel, das ich nicht
mehr ersetzen konnte. An diesem Tag begann dann der Ausstieg aus
unserem Luxus. Dann holte uns die Realität der Leere ein.
Ich wusste nicht, ob ich mich vor diesem Tag fürchten sollte oder
nicht. Vielleicht begann gerade dann die eigentliche Zeit der
Bewährung. Da eines meiner Hauptanliegen schon immer die Vorsorge
gewesen ist, machte ich mir natürlich jeden Tag Gedanken über die
Vorbereitung auf diesen Tag und malte mir Szenarien aus, denen ich
versuchte durch vorbereitende Maßnahmen aus dem Weg zu
gehen.
Verrückt werden konnte man dabei, denn es ergaben sich immer wieder
Unwägbarkeiten, an die vorab zu denken, einfach unmöglich war.
Außerdem gestaltete es sich als ein Unding, all´ das zu
horten, was irgendwann einmal nötig sein würde.
Eine solche Sache waren Batterien und Akkus. Von denen lagerten
schön trocken und geordnet alle erforderlichen Größen in
Mon-Cheri-Kunststoffschachteln. Dies war dann jedoch ein Verlust,
der mir nun wirklich wehtat. Mon Cheri konnte schon süchtig machen
und wie viele Männer war auch ich eine ausgesprochene
Naschkatze.
Ähnlich wie bei Batterien bestand ein stetiger Bedarf an Glüh- oder
Halogenlampen. Laufend wurde hier Ersatz notwendig, da die
verkaufsorientierte Industrie dafür gesorgt hatte, die Lebensdauer
dieser Produkte so zu begrenzen, dass ein fortwährender Bedarf an
diesen Artikeln bestand, ganz zu schweigen vom Unsinn der
sogenannten Energiesparlampen. Auf
solch´ einen Einfall musste erst einmal einer kommen, einem ganzen
Kontinent per Gesetz den Austausch der günstigen und
umweltfreundlichen aber verbrauchsintensiven Glühlampen gegen teure
und im Zerstörungsfalle (der in 90% aller Fälle die Regel war)
umwelt- und gesundheitsschädliche Energiesparlampen zu verordnen.
Was für ein geiles Geschäft !
Wir setzten deshalb auf Halogenlampen. Im Gegensatz zu Batterien
verfielen diese allerdings nicht. Wenn Batterien die Lebensdauer
ablief, egal ob angeschlossen oder nicht, dann war Schluss.
Das heißt, uns blieben allein für diesen Artikel noch 3 – 4 Jahre
des alten Lebens in unserer Enklave. Da ich mir nun nicht mehr
vorstellen konnte, wer danach neue herstellte und lieferte, stellte
diese Zeitspanne einen ziemlich endgültigen Zeitpunkt
dar.
Akkumulatoren, wenngleich größere, gehörten auch zu unserer
Stromerzeugungsanlage. An das Danach wollte ich lieber gar nicht denken, denn dann begann
wirklich das Mittelalter, das heißt, das Zeitalter von Kerze und
Fackel. Aber wie sagte Manuela immer so schön, - nicht heute über
die Zukunft verrückt machen, wenn das Morgen noch vor uns liegt und
wir heute vielleicht noch einen schönen Tag vor uns haben -
.
Heute war ein wunderschöner Maitag. Die Frühlingssonne fühlte sich
schon richtig kräftig warm an und forderte uns förmlich auf, den
Tag im Freien zu verbringen. Das hatten wir immer so gehalten. Wenn
die Sonne hoch genug stand, nahmen wir das Frühstück in der extra
dafür eingerichteten Sitzecke ein.
Manuela stand am Fenster, blickte hinaus und sagte einfach: „Heute
frühstücken wir draußen! Was meinst du?“ Dann blickte sie mich mit
einem wunderbaren Schalk im Gesicht an und lächelte mir
zu.
Seit mehreren Wochen verkrochen wir uns nun schon im Haus, sahen in
jedem Geräusch eine Bedrohung, sicherten uns ab und lebten wie in
einem Bunker. Hatte sie einfach vergessen, was geschehen war oder
siegte ihre nicht klein zu kriegende Lebensfreude. Was würde ich
nur ohne sie machen? Wahrscheinlich würde ich mich bis ans Ende der
Tage verkriechen und zu Tode langweilen.
Nach wie vor sahen wir nachts die einzelnen Lichtnester am Rande
der Stadt und wussten dadurch, dass es die Anderen auch noch gab.
Zu Gesicht bekamen wir keinen von ihnen. Offen gesagt hatten wir
nach der Gewaltorgie im Einkaufscenter auch keinen Bedarf nach
weiteren Begegnungen. Der im Anschluss an dieses Erlebnis
eingetretene Alltag genügte uns.
Claudia ging es wieder gut. Sie hatte sich dank ihrer Jugend
sehr schnell erholt, obgleich der Schock des Erlebten immer noch
tief saß. Sie wohnte in Susannes Haus und der medizinische
Hintergrund ihres Lebens schien beide Frauen zu verbinden. Susanne
hockte nun wenigstens nicht mehr allein im Haus. Das war doch auch
was. Sie richteten sich für das weitere Zusammenleben ein, wie wir
das auch getan hatten.
Am besten gefiel uns beiden daran, dass wir uns so gegenseitig in
Ruhe ließen und jetzt keinen auf Kommune machten. Unser Leben hatte
bisher nicht so ausgesehen und so viel wir von Susannes bisherigem
Leben wussten, galt dort dasselbe. Zusammenarbeiten und
unterstützen ja, - aufeinander hocken, - nein.
Da ich ein so einschneidendes Ereignis, wie diesen Zusammenbruch,
mehr oder weniger vorausgesagt und auch in wichtigen Dingen wie
Energieversorgung, Trinkwasser und Versorgung mit
Grundnahrungsmitteln in Richtung Selbstversorgung vorbereitet
hatte, hatten beide Frauen meine volle Unterstützung bei der
Ausstattung ihres neuen Zusammenlebens.
An so vieles auf einmal zu denken, gestaltete sich für jemanden,
der sich nie damit beschäftigt hatte, gar nicht so einfach. Wir
besaßen unsere Liste notwendiger Artikel, über der wir tagelang
gebrütet hatten und die konnten die beiden doch einfach
übernehmen.
Noch lieferte das EKZ viele der Dinge, die sich auf der Liste
befanden. Was fehlte, wurde geteilt, wie Fleischkonserven,
eingekochtes Obst, Käse und andere, länger haltbare Lebensmittel,
welche gleich nach Ausbruch der Seuche durch die in Panik kaufenden
Menschen ausgeräumt worden waren. Ohnehin mussten wir uns gemeinsam
allmählich Gedanken darüber machen, wovon wir zukünftig leben
wollten, wenn unsere Vorräte aufgebraucht sein würden. Das hieß –
Ackerbau!
Im ersten Jahr konnten wir uns sicherlich ausreichend von den
umliegenden Feldern bedienen. Hier gab es Weizen, Roggen und Mais.
Nach der Ernte konnten wir Körner lagern und uns Saatgut für die
Folgejahre zurücklegen. Worauf es aber vor allem ankam, waren
Kartoffeln und noch einmal Kartoffeln. Daraus konnten die
verschiedensten Speisen zubereitet werden und sie lieferten alle
Nährstoffe, die zum Leben notwendig waren.
Ebenso wichtig wurden jetzt Zwiebeln, Zucker und Salz.
Das mit dem Zucker bekamen wir hin. Außer unseren Vorräten konnten
wir Zuckerrüben verarbeiten. Honig hielt sich ebenfalls sehr lange.
Nur die Beschaffung von Salz konnte schwierig werden. Der einzige
Ausweg lag in den Salinen in näherer Umgebung , wo alte
Gradierwerke als Museum betrieben worden waren und obgleich nicht
mehr angetrieben, dennoch voller Salzablagerungen
dastanden.
Das Hauptproblem bleibt der lange Transportweg und die Hindernisse
auf dieser Strecke. Wir wussten noch nicht, wer dort die Kontrolle
ausübte und ob wir mit diesen Leuten reden oder Handel treiben
konnten. Das würde sich dann klären, wenn es soweit war. Wichtig
blieb, einen Ausweg zu wissen.
Für uns hieß das, eine Fläche zum Anbau von Gemüse und Kartoffeln
zu erschließen, die vor allem geschützt vor Fremdeingriffen lag,
das hieß innerhalb einer Umzäunung. Hierzu konnten wir die
Gartenflächen der nun leer stehenden Nachbargrundstücke nutzen. Auf
diese Weise konnten wir eine Brücke zu Susannes Haus schlagen, die
wir alle zusammen nutzen konnten. Noch standen die Zäune und
Sichtschutzwände zwischen den Grundstücken aber im Tore bauen war
ich ja inzwischen Meister geworden.
Nie hätte ich für möglich gehalten, dass Überleben eine derart
komplexe Angelegenheit sein könnte. Wir waren jetzt zu viert und da
draußen lief Dana herum und bewachte mehr oder weniger unser
Grundstück. Sie wartete auf uns, wollte raus an den
gegenüberliegenden Hang, um dort ihr Geschäft zu
verrichten.
„O.k.“, sagte ich deshalb zu Manuela. „Ich gehe kurz mit Dana vor
die Tür und dann gehen wir raus, - einfach so wie früher.“
Sie lächelte mir zu. „Kannst Du das?“ zweifelte sie. Sie kannte
mich zu gut.
„Vielleicht“, rief ich ihr zu, während ich nach der Hundeleine
griff.
Dana wartete schon vor der Tür auf mich. So ein Hund war schon was
Außergewöhnliches. Entweder bedingungslose Zuwendung oder gar
nichts. Dana hatte sich für das Erstere entschieden. Trotzdem legte
ich sie jedes Mal an die Leine, wenn wir das Grundstück durch
unseren Zaun verließen. Sie war noch nicht genug lange bei uns, um
wirklich sicher zu sein, dass sie nicht davon lief.
Ich hatte nicht vor, mit ihr lange Wanderungen zu unternehmen. Dazu
schien mir die Zeit noch nicht reif zu sein. Wir gingen immer
einfach um den Hügel vor unserem Haus herum an den
Entwässerungsteich des Einkaufszentrums. Dort konnte sie sich dann
entleeren und ich atmete einfach mal wieder durch wie in alten
Zeiten, wenn Manuela und ich unsere Umgebung erwanderten.
Gefüllt wurde dieser künstliche, kleine See durch die Regenfälle
auf die Parkfläche des Centers. Über einen Ölabscheider gelangte
das Regenwasser in den Teich und schien danach von einer so
guten Qualität zu sein, dass sich inzwischen viele ausgesetzte
Goldfische darin tummelten.
Noch verfügten wir mit unserem Vorrat im Keller, sowie dem Inhalt
unseres kleinen Swimmingpools über eine ausreichende Reserve an
trinkbarem Wasser, doch der Tag würde nicht mehr fern sein, an dem
wir unseren Bedarf mit Sicherheit aus dem Teich würden decken
müssen.
Es gab eine Quelle unten im Dorf aber deren Qualität erschien mir
auch nicht mehr sicher. In lange zurückliegenden Zeiten holten sich
die Menschen das Trinkwasser aus Brunnen mit Handpumpe. Davon gab
es immer noch einige in den Grundstücken, die sich hangabwärts im
Wald befanden. Nur funktionierten diese seit mehreren Jahrzehnten
nicht mehr. Rost und eingedrungener Schlamm hatten ganze Arbeit
geleistet.
Wie bei so vielen anderen Gelegenheiten schien die
Zentralversorgung die effektivere, einfachere und eben auch
bequemere Lösung zu sein, solange es eine Zentralversorgung gab.
Mit dem Ausfall der Stromversorgung fiel auch alles aus, was in
irgendeiner Form eine Pumpe benötigte, also auch die
Wasserversorgung.
Längst vorbei waren die Zeiten, in denen in allen Ortschaften
Speicherbehälter mit zu den höchsten Gebäuden der Siedlungen
zählten. Der Druck dieser Behälter beförderte das kostbare Nass in
alle Haushalte, die tiefer lagen. In der angeblich modernen Zeit
hatten Reste dieser Bauwerke lediglich noch eine museale Bedeutung.
Die alte Technik hätte selbst heute noch funktioniert und niemand
der Überlebenden müsste sich Sorgen darüber machen, woher er
demnächst sein Trinkwasser herbekam, natürlich nur solange diese
Behälter gut gefüllt waren.
So ist das eben. Alles hat seinen Preis, - vor allem
Bequemlichkeit. Blieb sie ohne Folgen war alles in Ordnung. Nun, wo
die Folgen da waren, schmerzten sie.
Die Kunststoffbank am Teich stand noch, also setzte ich mich,
entriegelte die aufgerollte Hundeleine, so dass Dana wenigstens 5
Meter zur Verfügung hatte, um sich einen passenden Busch zu suchen,
was sie jedoch aus irgend einem Grund heute nicht tat. Stattdessen
hockte sie sich neben mich und begann, unruhig zu
winseln.
„Was ist los?“, redete ich auf sie ein und kraulte sie im Genick.
Das gefiel allen Hunden. Sie winselte allerdings weiter. Etwas
stimmte mit ihr nicht, das war mir schon klar, nur mit der
Verständigung zwischen Hund und Mensch war das nicht immer so
einfach. Sie wussten instinktiv viele Dinge meistens eher und
besser als wir und wir Menschen gingen davon aus, mit unserem
Verstand alles regeln zu können. Dabei schienen uns die Instinkte
in den meisten Fällen abhanden gekommen zu sein. Da wir jedoch
früher schon einmal einen Hund besessen hatten, konnte ich ihr
Verhalten eher deuten und suchte nun doch nach der Ursache ihrer
Unruhe.
Dann erblickte ich, was sie beunruhigt hatte. Von der Straße her
näherten sich mehrere Hunde dem Teich. Wie viele es waren, konnte
ich noch nicht ausmachen. Auf jeden Fall handelte es sich um
größere Tiere, so in Richtung Schäferhund. Ein solcher führte die
Gruppe anscheinend an und näherte sich vorsichtig. Zwei Tiere
folgten ihm, dem Leittier, in geringem Abstand. Noch lagen zwischen
ihnen und uns vielleicht 100 Meter und Dana wurde immer
unruhiger.
„Eh“, rief ich ihnen zu und stieß einen Pfiff durch die Finger aus.
Für einen Moment hielt das Leittier inne, ebenso die nachfolgenden
Hunde. Dann lief das Leittier kurz nach links und dann gleich
darauf nach rechts, begab sich dann wieder in die Mitte und setzte
seine Annäherung wieder fort. Dieses Verhalten leuchtete mir sofort
ein, als ich zu beiden Seiten der Wiese am Teich jeweils zwei
weitere Hunde entdeckte, die sich uns schneller näherten als das
Zentrum des Rudels.
Jetzt funktionierten meine Instinkte ausgezeichnet. Zu anderen
Zeiten hätte ich die Ruhe bewahrt. Aber zu anderen Zeiten hätte es
auch keine gemischten Hunderudel gegeben, - vielleicht in Afrika,
aber nicht hier, in Deutschland an unserem Teich. Das da war keine
Suche nach Streicheleinheiten, sondern ein Angriff! Wem dieser
Angriff galt, schien zunächst noch unklar.
Ich konnte mir rein aus meinem Wissen über Hunde heraus nicht
vorstellen, dass Hunderudel Menschen angriffen. Menschen und Hunde
lebten seit zahllosen Generationen zusammen und vor allem die Hunde
hatten sich an ihre „Futtergötter“ angepasst. Deshalb schien mir
ein Angriff auf mich als völlig anormal, aber was an der Gegenwart
war bitteschön normal?
Langsam stand ich auf. Wieder hielten alle im Rudel inne.
Inzwischen trennten uns lediglich 50 Meter voneinander. - Keine
Distanz für einen angreifenden Hund. Das Leittier bleckte die Zähne
und ich vernahm ein aggressives Knurren. Das sah nicht gut aus. Wir
mussten hier schnellstens weg. Waffen führte ich nicht bei mir,
also blieb nur die Flucht.
Das wusste Dana noch vor mir und rannte einfach los, immer noch an
der langen Leine. Mit der riss sie die Bank um, auf der ich mich
gerade noch genussvoll geräkelt hatte. Die Leine verfing sich in
einem der Beine und anschließend in meinem Bein. Ich stürzte lang
hin und stoppte damit Danas Flucht.
Das war das Signal zum Angriff. Alle fünf Hunde hetzten nun auf uns
zu, - falsch, auf Dana, die nicht weg konnte, sondern wie verrückt
an ihrem Halsband zog und sich immer wieder im Kreis drehte. Fünf
Meter weiter lag ich auf dem Boden und versuchte panisch meinen Fuß
aus der Schlinge zu befreien, die Dana durch ihr Gebaren immer
wieder zusammen zog.
Das Leittier, der Schäferhund, prallte als erstes mit Dana
zusammen. Ein Retriever war nun nicht gerade das, was man als einen
Kampfhund bezeichnen konnte aber Dana spürte den Schmerz des ersten
Bisses und wehrte sich. Die Hunde bildeten nun ein dichtes Knäuel
aus tobenden, beißenden und bellenden Tieren, von denen mich im
Augenblick noch niemand beachtete.
Für einen Moment ließ das Ziehen an der Hundeleine nach und mein
Fuß kam frei! Am Teich stand ein Schild mit der Aufschrift – Angeln
verboten -, dessen Sinn sich mir nie so richtig erschlossen hatte.
Wer angelte schon frei gelassene Goldfische? Aber wir Deutschen
liebten nun mal unsere Schilder und in diesem Augenblick liebte ich
dieses Schild.
So schnell ich konnte, rannte ich zu dem Schild, hoffend, dass der
Metallstab lediglich im Boden und nicht in einem Zementklotz
steckte. Ohne länger darüber nachzudenken, packte ich zu und hatte
Glück. Ohne großen Kraftaufwand zog ich das Rohr aus dem Boden. Mit
dem Schild an der Spitze verfügte ich nun über eine hervorragende
und furchtbare Waffe. Brüllend wie ein Tier schwang ich das Schild
wie eine Sense über meinem Kopf, rannte auf die kämpfenden Hunde zu
und schlug mit dem Schild in die tobenden Hunde, bemüht, möglichst
nicht Dana zu treffen.
Der erste Schlag hatte gesessen. Offensichtlich hatte ich dem
getroffenen Hund mit dem Hieb auf den Rücken das Rückgrat
gebrochen. Er jaulte noch, lag aber zuckend auf der Seite, unfähig,
noch etwas zu dem Kampf beizutragen. Das machte ihn schwächer, als
es die immer noch wild um sich beißende, aber aus vielen Wunden
blutende Dana war. Damit wurde er ebenfalls zur Beute und zwar zur
leichteren. Sofort stürzten sich zwei Tiere auf ihn und gruben ihre
Zähne in seinen Hals.
Ich hingegen holte zum zweiten Schlag aus und erwischte diesmal das
Leittier. Aufheulend und winselnd zugleich sprang der Schäferhund
zur Seite, erst einmal in Sicherheit vor meinen nächsten Hieben.
Seine Hüfte schien zerschmettert zu sein.
Die anderen Tiere ließen jetzt auf einmal von Dana und ihrem
ehemaligen Rudel-Gefährten ab, zogen die Schwänze ein und
umkreisten das hinkende Leittier. Dessen Zustand verunsicherte sie
sichtlich und diese Unsicherheit schien größer zu sein, als der
Hunger, der sie zu diesem Angriff getrieben hatte. Mir verschaffte
diese Pause die Chance zu einem weiteren Schlag mit meiner „Angeln
verboten“-Keule. Wieder fand diese ein Opfer. Jetzt wichen noch
vier gesunde Tiere aus und nachdem ein weiterer Schlag dem Leittier
den Garaus gegeben hatte, zogen sie sich schnell zurück und ließen
die nun am Boden liegende Dana und mich auf der Wiese
zurück.
Einen Moment blickte ich den weichenden Tieren nach, dann ließ ich
meine Schild-Keule fallen und kniete neben Dana nieder. Die blickte
mich aus fahrigen Augen an und hechelte in schneller Folge. Überall
an ihren Läufen, am Rücken und am Hals klafften Wunden, aus denen
das Tier stark blutete. Schnell zog ich mein T-Shirt aus, band es
um die schlimmste Wunde am Hals. Ich wusste gleich, dass dem armen
Tier wahrscheinlich keiner von uns mehr helfen konnte, wollte es
aber nicht so einfach hier liegen lassen. Als ich Dana hochhob,
ließ sie ihren Hals einfach hängen. Noch spürte ich ihren
Herzschlag und beeilte mich, mit ihr nach Hause zu
kommen.
Dort schienen die Frauen das Geschehen auf der Wiese
wenigstens in der Endphase mitbekommen zu haben, denn sie liefen
mir entgegen und Manuela hielt die geladene Schrotflinte
schussbereit. Dann standen wir zusammen am Eingang zu unserem
Grundstück. Alle blickten betroffen auf das wunde Tier. Claudia
weinte einfach nur. Sie hatte sich in den letzten Tagen sehr mit
der Hündin angefreundet, - jetzt, wo sie doch niemanden außer uns
mehr hatte.
Susanne trat hinzu und breitete eine Decke auf dem Fußweg
aus.
„Leg´ sie ab“, sagte sie zu mir. „Sieht böse aus. Ich glaube, das
wird nichts mehr.“
„Nein!“, schluchzte Claudia wieder und hockte sich neben das nur
noch flach atmende Tier.
„Selbst wenn ich das alles nähen würde, bleiben die inneren
Verletzungen durch das Reißen während des Kampfes. Sie wird
verbluten. Das ist nur eine Frage weniger Stunden. Wir können ihr
nur noch helfen, indem wir ihr Leiden lindern oder beenden“,
stellte sie fest.
„Was meinst du mit Lindern?“, wollte ich wissen.
Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich bin kein Tierarzt. Ich
kann ihr was Schmerzstillendes spritzen, mehr geht nicht. Mittel
zum Einschläfern habe ich nicht.“
„Und was bringt ihr das?“ fragte ich und blickte traurig auf das
blutige Bündel da auf dem Fußweg.
„Ein, vielleicht zwei Stunden und dann ist sie verblutet“, sagte
Susanne.
„Und was soll das?“ fragte ich wütend, so als trüge Susanne die
Schuld am Zustand des Tieres.
„Tja“, meinte die nur und zuckte mit den Schultern.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Bittend blickte ich Manuela an.
Sie weinte auch, verstand aber, was ich wollte, nickte langsam mit
dem Kopf und ging ins Haus.
„Nimm´ sie mit zu dir“, sagte ich zu Susanne. Die nahm die
widerstrebende Claudia an den Händen und zog sie von Dana
weg.
„Du willst sie doch nicht umbringen?“, rief sie mir zu, während sie
sich zu mir umdrehte.
Traurig blickte ich sie an. „Ich will nicht Mädel, - ich muss! Sie
war unsere Freundin und dieser Dienst an ihr muss sein!“
Wieder aufheulend ließ sich Claudia jetzt widerstandslos von
Susanne fortführen.
Dann kam Manuela zurück und hielt die Pistole in der Hand. Wortlos
übergab sie mir die Waffe. „Muss ich dabei sein?“, wollte sie von
mir wissen.
„Geh´ nur“, sagte ich. „Das schaff´ ich allein.“ Was blieb mir denn
übrig?
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass alle in den Häusern
verschwunden waren, streichelte ich noch einmal den Kopf des
Tieres. Dann faltete ich einen Teil der Decke, legte ihn über den
Kopf des Hundes und drückte die Pistole darauf.
„Mach´s gut“, verabschiedete ich mich von Dana. Dann drückte ich
ab.
Wieder verschwand ein Teil unserer alten Welt und machte uns
schmerzlich bewusst, das nichts mehr normal sein würde, nicht
einmal Gassi gehen mit einem Hund.