Kapitel 7 - Nachbarn der anderen Art
Dann hörten wir das
Geräusch zweier Motorräder, die offensichtlich aus Richtung Süden
auf den Center-Parkplatz fuhren. Wir zuckten zusammen, als hätte
uns ein Stromschlag getroffen und ohne ein Wort miteinander zu
wechseln, wusste jeder, was das vor allem hieß, - Gefahr!
Diese instinktive Angst in dem Moment, in dem das Unbekannte
zuschlägt, scheint tief in uns Menschen zu wohnen, eingenistet seit
Urzeiten, damals wie heute erforderlich, um zu überleben. Wenn
jeder nur den Gedanken in sich trägt, - wie komme ich über den
morgigen Tag, dann sieht man automatisch in allem Unbekannten eine
Gefahr und jetzt näherten sich gleich mehrere
Gefahrenpunkte.
Zwei Motorräder hieß
zumindest auch 2, maximal 4 Fahrer und Mitfahrer, die nicht nur
ebenfalls überlebt hatten, sondern zusätzlich noch die Fähigkeit
zur Mobilität behalten hatten. Als ehemaliger Biker kannte ich so
ungefähr die Leute, die im Umkreis über ein Motorrad verfügt
hatten. Viele waren das nicht, die sich dieses nicht ganz billige
Hobby leisteten. Die Rennmaschinen wurden meistens von den Jüngeren
gefahren. Die alten Herren, solche wie ich, fuhren oft Chopper oder
Tourer. Diese Maschinen am Klang zu unterscheiden, war nicht
schwierig, selbst für nicht eingeweihte. Das hier klang nach Renn-
oder Crossmaschine, jedenfalls die jüngere Bauart von Fahrern und
allein das bereitete mir einiges Unbehagen.
Nicht, dass ich etwas gegen die Jugend an sich gehabt hätte.
Schließlich war man ja selbst einmal ein ziemlich verrückter junger
Kerl gewesen mit all´dem Blödsinn, der so dazugehörte, angefangen
bei den Mädels bis hin zu Alkohol und Motorrädern, ganz zu
schweigen von zu langen Haaren und Vollbärten.
Nein, verrückt und
leichtsinnig zu sein ging als junger Kerl schon in
Ordnung.
Mit den Jahren hatte sich allerdings etwas in dieser Gesellschaft
verändert. Schuld daran war nicht die Jugend, sondern deren Eltern,
also unsere Generation. Deren Kinder entstammten der
Einzelkind-Epoche nach dem Pille-Knick in der Geburtenstatistik.
Damit einher ging ein zunehmender Wohlstand der Eltern. Wer sich
halbwegs vernünftig benommen, die Schule und eine Lehre
abgeschlossen hatte, der kam auch in Beruf und Leben zurecht, wenn
er begriffen hatte, dass nicht alle alles haben konnten. Das an
sich stellte jedoch bereits ein Problem dar, denn die Medien
suggerierten ihren Konsumenten, dass allen alles zustand, wenn sie
nur in der Lage waren, es sich auch zu nehmen.
Die das nicht konnten,- das waren die Schwachen, die Verlierer oder
neudeutsch Looser. Richtige Kerle hatten was drauf und durften
alles. Solange es nicht die Grundfesten der Gesellschaft
erschütterte ließ man diese sogenannten Kerle ja auch machen.
Nachdem mit der DDR der letzte deutsche Polizeistaat gefallen war,
traf man jetzt überhaupt nicht mehr auf Vertreter dieser Gattung
Beamter, erst recht nicht, wenn man sie wirklich brauchte.
Entsprechend niedrig stellte sich die Furcht vor der Ordnungsmacht
dar. Früher hieß ein Spruch: Hast du einen dummen Sohn, schicke ihn
zur Bauunion. Ist dein Sohn noch dümmer, - die Reichsbahn nimmt ihn
immer.
Heute wurde nach Meinung der Allgemeinheit ein solcher Sohn
´Bulle´. Welcher Jugendliche fürchtete die Bullen? Die Kids kamen
doch aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Es passierte ja auch
nichts, außer der Aufnahme der Personendaten, wenn sie es mal zu
arg getrieben hatten. Und wenn was passierte, schalteten sich die
lieben Eltern ein, um ihr geliebtes Einzelkind in Schutz zu
nehmen.
Das fand während der Schulzeit statt und setzte sich gegenüber der
Gesellschaft und dem Staat fort. Nein, nein, mein Kind ist nicht
dämlich. Dämlich sind immer die Anderen. Die Lehrer sind dämlich,
weil sie die Persönlichkeitsentwicklung meines geliebten
Sprösslings nicht verstehen und behindern. Die Gesellschaft ist
dämlich, weil sie meinem Liebling nur Steine in den Weg legt. Na
und Bullen sind sowieso dämlich!
Dass einige der Kids in einem derartigen Umfeld die Übersicht
verloren, war nicht verwunderlich. Die Übersicht verlieren hieß
dann aber nicht, dass sie vielleicht im Kopf durcheinander gewesen
wären, - absolut nicht. Die wussten ganz genau, wo es lang ging,
was sie durften und was nicht und sie durften alles! Einmal mit
dieser Erfahrung versehen, hatte sich häufig die schlimmste Spezies
entwickelt, die es je auf zwei Beinen gegeben hatte. Kalt oder auch
cool mit der Überzeugung immer das Richtige zu tun, solange es für
sie selbst von Nutzen war. War es nicht von Nutzen, konnte es
weg.
Alte konnten weg! Die waren ohnehin zu nichts mehr Nütze. Unnütze
Fresser.
Schwache konnten weg. Wer brauchte Schwache?
Kranke konnten weg! Selbst schuld oder? Zuviel gekifft was?
Schlechte Gene vielleicht?
Ich musste dabei an Jack Londons „Seewolf“ denken. Alles, was sich
zwischen Wolf Larson und das Leben gestellt hatte, musste weg! Das
war sein Grundgesetz einer darwinschen Gesellschaft, in der nur der
Stärkere gewann und genau diese Form der Gesellschaft hatten wir
jetzt! Nur dass ich kein junger, vor Kraft strotzender Kerl mehr
war, sondern ein alternder Sack von über 60 Jahren!
In diesem Moment fand ich mich beim Rechnen wieder. Ein 60-jähriger
Mann und zwei Frauen. Dazu ein verwöhnter Golden Retriever. Diese
Zusammenstellung in Konfrontation mit 2 – 4 Bikern, von denen
mindestens 2 Männer zwischen 20 und 40 Jahren waren. Keine guten
Aussichten.
„Was nun?“ wollte Manuela wissen. Sie kannte mich am besten und
wusste genau, was in diesem Moment alles in meinem Kopf vor sich
ging. Der arbeitet wieder wie eine Rechenmaschine und prüfte alle
möglichen Eventualitäten, dachte sie sicherlich gerade. Und sie
hatte Recht.Mir war nicht wohl in meiner Haut.
„Wir müssen nachsehen, mit wem wir es da zu tun haben“, meinte
ich.
„Können wir nicht einfach abwarten, bis die wieder abhauen?“,
meinte Susanne.
„Geht nicht“, erwiderte ich. „Abwarten heißt, zulassen, dass sie
uns finden, bevor wir wissen, was los ist. Die sind jünger und
vielleicht mehr als wir.“
„Woher willst Du das wissen?“, entgegnete Susanne.
„Ich weiß das!“ beharrte ich auf meiner Überzeugung und erklärte
ihr meine Rechnung. Dann sagte sie nichts mehr, weil es logisch
war.
„Dann gehen wir eben hin“, sagte sie einfach und wollte
los.
Ich packte sie am Arm.
„So läuft das nicht“, erklärte ich ihr. „Bevor wir uns kein Bild
der Lage gemacht haben, dürfen die möglichst nichts von uns wissen.
Wenn ich mich irre und wir treffen dort auf einfache, nette,
Menschen, revidiere ich meine Meinung gern.“
„Du meinst doch ohnehin, es gibt keine netten Menschen!“ Dabei
lächelte sie sogar ein bisschen.
„Richtig“, stimmte ich
ihr zu. „Denke nur an meinen netten Bruder.“
„Da hast Du auch wieder Recht“, lenkte sie jetzt ein.
Manuela sah mich sehr nachdenklich an. Da sie mich kannte, wusste
sie auch, was jetzt notwendig war.
„Läuft das jetzt zukünftig immer wieder auf dasselbe hinaus?“,
fragte sie.
Ich sah sie
eindringlich an.
„Leider ja“, sagte ich kurz und damit war eigentlich alles gesagt.
Das hieß nichts anderes als entweder miteinander oder gegeneinander
und gegeneinander hieß dann, - die mussten weg, wie beim
Seewolf!
Susanne schien aus einem anderen Holz geschnitzt zu sein, denn sie
hatte sofort die unbedingte Notwendigkeit dieser Entscheidung
begriffen. Die oder wir, wenn es nicht anders ging.
„Denkst Du, Du kannst das?“, fragte sie mich deshalb
kühl.
Ich blickte ins Leere
und musste an das Kaninchen denken, welches ich anstelle meines
Vaters am Weihnachtsfeiertag umbringen musste, weil er sich die
Hand gebrochen hatte und diesen häuslichen Akt der Fleischerzeugung
zum Fest nicht ausführen konnte. Er hatte mir das damals alles ganz
genau erklärt und gezeigt. Was er vielleicht nicht so
berücksichtigte, - ich mochte unsere Kaninchen sehr gern. Wenn sie
ihre Möhren mümmelten, sahen sie so niedlich aus.
Jetzt verlangte er von mir, dass ich sie zunächst mit einem
Handkantenschlag hinter den Ohren betäuben sollte, um ihnen
anschließend die Kehle durchzuschneiden. Also packte ich das arme
Vieh an den Hinterläufen und hielt es mit dem Kopf nach unten hoch,
um dann mit der flachen Hand den Betäubungsschlag hinter die Ohren
zu setzen.
Ich tat, wie mir geheißen aber von wegen Betäubung.
Das Kaninchen schien offenbar genau zu wissen, was hier vor sich
ging und dass ich von der ganzen Sache überhaupt keine Ahnung
hatte. Es strampelte wie verrückt mit den Vorderläufen und quiekte
mit aufgerissenem Maul laut um sein Leben. Nie hätte ich als damals
10-jähriger Junge für möglich gehalten, dass Kaninchen derart
schreien können. Dieses Schreien verwirrte mich völlig. Es machte
mich verrückt. Es sollte aufhören. Also schlug ich ein zweites Mal.
Ich traf auch, aber entweder hatte ich zu schwach geschlagen, weil
mir das Tier leid tat, was ja auch stimmte, oder ich hatte nicht
die richtige Stelle getroffen.
Bei meinem Vater genügte immer ein Schlag und es war Ruhe. Oft
genug hatte ich in den letzten Jahren diesem Schauspiel beigewohnt
und jedes Mal grauste es mir davor. Dabei aß ich Kaninchenfleisch
gern. Nur wo es herkam, das wollte ich nicht wissen. Da ging es mir
damals in meiner Kindheit genauso wie heute den meisten Menschen.
Fast alle aßen Fleisch und keiner machte sich Gedanken über das
Woher. Ich machte mir inzwischen diese Gedanken und war deswegen
fast zum Vegetarier geworden, was hieß, so wenig Fleisch wie
möglich, ansonsten nur tierische Produkte wie Eier oder
Milchprodukte.
Vielleicht rührte dieses Nachdenken in späteren Jahren von jenem
schrecklichen Tag her, an dem ich als Kind zum ersten Mal ein
Lebewesen töten sollte.
Es schrie also und ich schlug wieder zu. Mein Vater wies mich an,
härter zuzuschlagen und ich schlug härter zu, nur dass es aus
irgendeinem Grund nie richtig funktionierte. Das Kaninchen schrie
immer noch wie am Spieß und zappelte herum, wobei es meine linke
Hand, welche die Hinterläufe wie in einem Schraubstock zusammen
hielt, hin und her schüttelte.
Ich begann plötzlich, das dumme Vieh zu hassen. Warum schrie es
immer und immer weiter? Konnte es nicht einfach sterben wie alle
Kaninchen vorher?
Nein es starb nicht.
Wir standen im Garten neben dem Werkzeugschuppen. Auf der Werkbank lag eine Feile. Die schnappte ich mir. Schon beim ersten Schlag war Ruhe, doch ich schlug und schlug immer wieder auf das Genick des Tieres ein, bis ich den Kopf mit der Feile abgeschlagen hatte.
Mein Vater stand
fassungslos die ganze Zeit neben mir und hatte meinem Treiben
wortlos zugesehen, seitdem ich zur Feile gegriffen hatte. Jetzt
packte er meinen rechten Arm, entwand ihm die blutige Feile und
sagte nur: ´Es ist tot! Kannst aufhören! Es ist tot!´
Er hielt meinen Arm fest und nahm mir das kopflose Kaninchen aus
der linken Hand. ´Es ist tot´, sagte er und schüttelte mich. Ich
stand da wie erstarrt und ein Schauer durchfuhr meinen Körper. Ich
hatte gemordet! Ich hatte dieses kleine Kaninchen einfach
ermordet!
Erst eine Ohrfeige weckte mich aus meinem Krampf.
Zu Weihnachten aß ich diesmal kein Stück von dem Tier. Auch später aß ich nie wieder etwas von einem Kaninchen.
All´das ging mir auf
einmal auf Susannes Frage hin durch den Kopf. Sie wollte einfach so
von mir wissen, ob ich töten konnte.
„Das weiß ich, wenn es so weit ist“, sagte ich ausweichend zu
ihr.
Sie ahnte nichts von der Begebenheit aus meiner Kindheit.
Manuela wusste es. Sie wusste aber auch, dass ich einen ziemlich
harten Schnitt zwischen Tieren und Menschen machte. Tiere lebten im
Zustand der Gnade, denn sie haben keinen Verstand und wissen nicht
was sie tun. Ihr Instinkt sagt ihnen, - überlebe! Was dann folgt,
dient nur diesem einen Zweck!
Der Mensch wusste, was er tat und einige Menschen taten dann trotzdem Dinge! Mein Gott! Das allein machte für mich den Unterschied!
Aus diesem Grund hatte
ich meinen Bekanntenkreis immer nur nach einem Gesichtspunkt
ausgewählt, - für uns wertvoll oder schädlich. Schädlich hieß zum
Beispiel schmarotzend. Das waren die Menschen, die mit sich selbst
nichts mehr anfangen konnten oder dies noch nie vermochten. Sie
lebten miteinander und nebeneinander her und ließen die Zeit ihres
Daseins einfach vergehen, so als ob unendlich viel davon vorhanden
gewesen wäre. Wurde ihnen die Lethargie ihres Lebens in
aufflackernden, kurzen Momenten des Erwachens aus diesem
Daseinssumpf bewusst, so suchten sie krampfhaft nach Dingen oder
Personen, die sie für den Moment der Berührung oder des Kontakts
aus ihrer Langeweile heraus rissen.
In uns beiden glaubten solche Menschen dann den Anker gefunden zu
haben, der ihnen für den Moment unseres Zusammenseins ein gewisses
Maß an Ablenkung verschaffte. In diesen Momenten saugten diese
Personen das ihnen fehlende Leben und die damit verbundene Freude,
aus Manuela und mir heraus. Sie hingen an uns wie Vampire, denen
unser Lebensatem einen Dämmerschein des Lichts in ihrer sonstigen
Dunkelheit angedeihen ließ.
Sie saugten uns einfach
aus, schmarotzten an uns und vergifteten uns gleichzeitig mit ihrem
Stumpfsinn. Wehrten wir früher solche Kontakte ab, ließen wir diese
seit mehreren Jahren einfach gar nicht erst zu. Das verpasste uns
zwar den Anstrich der Überheblichkeit, des Eindrucks, etwas
Besseres als all´ die Anderen zu sein aber das war mir ehrlich
gesagt, - Scheiß egal!
Wieder andere Schädlinge versuchten unentwegt, anderen Menschen
ihren Willen aufzuzwingen.
Die Harmloseren von ihnen praktizierten das in ihrer Freizeit, in
dem sie ihren Bekanntenkreis dominierten, sogenannten Freunden
vorschrieben, was schick und angesagt war und dabei ständig im
Mittelpunkt zu stehen versuchten. Gelang ihnen das nicht in
ausreichendem Maße, wurde gemobbt, bis der Störenfried klein bei
gab oder sich entfernte.
Wir entfernten uns umgehend, wenn wir auf diese Art von Schädlingen
trafen.
Die Schlimmeren übten Macht aus, wo immer sie konnten, im Beruf im
Arbeitsleben, einfach immer und überall. Sie konnten offenbar
einfach nicht anders. Ließ man sie gewähren, hatte man verloren.
Also sagten wir uns,- wäret den Anfängen und wählten von
Beginn eines solchen Kontakts an die Konsequenz der Nichtbeachtung
als höchste Strafe für diese Individuen.
Aus diesem Grund hatte ich im Einzel-Job als Außendienstler
gearbeitet und Manuela als Kindergärtnerin.
Die Kleinen trugen in sich noch die Chance, ein wertvoller Mensch
zu werden und Manuela förderte diese Chance, in dem sie die Kinder
mit ihrer Lebensfreude belohnte. Bemerkte sie eigentlich, welche
Momente der Harmonie sie auf diese Weise erzeugte? Wusste sie, wie
sehr ich sie für diese Fähigkeit bewunderte, ja liebte?
Sie ahnte nichts von alldem und ich vielleicht auch nicht so
richtig, bis mich in einem Fernurlaub ein Chinese fragte, ob ich
wüsste, dass meine Manuela von einer Aura umgeben sei und wie
selten das wäre. Dabei machte mein Mädchen nichts anderes, als mit
einer Gruppe gelangweilter Frauen aus unserer Reisegruppe Tai-Chi
zu zelebrieren, obwohl sie keine Ahnung davon hatte und alle
machten mit, waren in diesem Moment frei, gelöst, ohne Sorgen und
glücklich. Der Chinese sah das voller aufrichtiger Bewunderung und
ich sah es von da an auch.
Es war kein Wunder, dass meine Frau in keinem Moment meinen Zorn
dem vernunftbegabten nicht denkenden Menschen gegenüber teilte,
sondern stets das Gute in solchen Existenzen suchte.
Wen wunderte es also, dass sie bezweifelte, dass ich imstande sein
könnte, das für sie Unvorstellbare zu tun, einen Menschen zu
töten?
Im Laufe unserer so oft vergeblichen Suche nach Bekanntschaften,
die sich nicht als schmarotzend, neidisch, missgünstig oder
aufdringlich erwiesen, war der Kreis von für uns wertvollen
Menschen sehr klein geblieben. Zumeist handelte es sich um einfache
Mitmenschen, die ein unauffälliges und bescheidenes Leben führten.
Oft hatten sie sich in Nischen zurückgezogen, in denen sie von den
Schädlingen nicht belästigt oder bedrängt werden konnten. Dabei
spielten Kunst und Musik eine große Rolle.
Allem voran stand in solchen Fällen stets die Liebe zur Natur. Nach
außen entstand dann häufig der Eindruck, es handle sich um
Eigenbrötler. Dabei war dies nur der Schutzmantel, der sie vor den
Schädlingen bewahrte. Wie wenige davon hatten wir im Verlauf
unserer Suche gefunden und jetzt waren auch sie alle -
tot!
Ich wusste es! Ich
würde im Fall der Fälle dazu imstande sein!
„Wir müssen das zusammen machen“, sagte ich zu den beiden
Frauen.
„Ich kann keinen
Menschen umbringen!“, rief Manuela sofort aus.
„Hat auch niemand verlangt“, beschwichtigte ich sie.
„Was hast Du vor?“, wollte Susanne wissen.
„In der Unterzahl bleibt nur die Täuschung“, erklärte ich beiden.
„Sie müssen glauben, dass wir stark sind, dass wir uns wehren
werden. Handelt es sich um harmlose Gesellen, die nur was zum
Beißen suchen, sollen sie sich nehmen, was sie brauchen. Das Recht
steht jedem Hungernden zu. Dann teilen wir uns eben, was da ist,
solange bis nichts mehr da ist. Bis dahin kennen wir uns und
arbeiten vielleicht sogar zusammen. Das wäre aber der Idealfall, an
den ich leider nicht glauben kann.“
„Du immer mit Deinem Pessimismus“, warf Manuela ein. Etwas anderes
hatte ich von ihr auch nicht erwartet. „Nicht jeder ist ein
Arschloch!“
„Für die Suche nach dem ob oder ob nicht, bleibt dir aber im Fall
der Fälle keine Zeit. Es hilft uns nicht, wenn Du in jedem, der dir
begegnet immer nach dem Guten Ausschau hältst. Früher war das
tolerierbar. Da gab es eine gesellschaftliche Disziplin, die
alles zusammenhielt, weil sich die meisten Menschen an diese Regeln
gehalten haben. Diese Regeln existieren nicht mehr, weil die
Gesellschaft nicht mehr existiert, die sie
hervorbrachte.“
„Willst Du damit sagen, dass wir uns jetzt in der Urgesellschaft
befinden?“ fragte sie noch immer ungläubig.
„Schlimmer“, entgegnete ich. „In der Anarchie!“
„Und das heißt?“ Manuela blickte mich herausfordernd an.
„Ganz einfach. Jeder gegen jeden, oder der Stärkere gewinnt oder es überlebt nur der, der schneller ist. So was in der Art.“ Meine Erklärung klang gleichgültig, so als beschäftigte mich das Ganze nicht. Das war Absicht. Manuela sollte beruhigt werden und Susanne ebenfalls, obwohl die den kühleren Eindruck machte.
„Du hast einen Plan?“, fragte sie.
„Vielleicht“, erwiderte
ich. „Ihr müsst aber helfen. Allein schaffe ich das
nicht.“
Dann erklärte ich beiden, wie ich vorgehen wollte, um unsere neuen
Nachbarn kennen zu lernen. Eigentlich wollte ich einfach ins Center
gehen und mich der Sache stellen, was bedeutete, sie sollten mich
offen kommen sehen, völlig ohne Bedrohung, einfach ein Typ, der da
so spazieren geht oder so was in der Art.
Wir hatten jetzt Ende April. Das Wetter war noch ziemlich kühl, so
dass eine längere Jacke nicht auffiel. Darunter wollte ich meinen
Katana verstecken, den ich quer über dem Rücken tragen konnte. So
ließ er sich, falls erforderlich, leicht über der Schulter mit der
rechten Hand ergreifen und ziehen. Danach war dann für mich oder
den Angreifer ohnehin alles zu spät. Das hatte was von Filmen
wie „Highlander“ oder „The book of Eli“. Damit waren
Hollywoods Filme wenigstens auch für etwas gut. Die Schusswaffen
sollten die Frauen bekommen. Dank Herrn Gareck verfügten wir nun
über einen Revolver und eine zweiläufige Schrotflinte. Aus der
Ferne taugten beide nichts aber so konnten wir ordentlich Geräusche
erzeugen, die ablenken würden. Das konnte wichtig, wenn nicht
entscheidend sein. Außerdem mussten die Frauen nicht unbedingt mit
diesen Waffen umgehen können, um sie zu gebrauchen.
Mit meinem umgebauten Luftgewehr oder der Armbrust sah das schon
anders aus. Beide ohne Übung zu benutzen, hatte wenig Sinn. Ihre
Schockwirkung zeigte sich erst dann, wenn man mit ihnen auch
wirklich traf und das funktionierte bei beiden maximal auf 20 Meter
Entfernung. Diese Distanz erschien mir für die ungeübten Frauen zu
nah. Ich wollte beide lieber in Sicherheit wissen. So konnten sie
nicht gegen mich benutzt werden, falls eine von ihnen gefangen
wurde.
Also vereinbarten wir
eindeutige Signale. Hob ich beide Arme als Zeichen, dass ich mich
ergebe und ballte gleichzeitig beide Fäuste, sollten beide Frauen
mehrere Schüsse abgeben. Alles Weitere würde sich ergeben und ich
hoffte, dass meine Rechnung aufging.
Manuela und Susanne schienen zunächst einmal beruhigt, nicht
unmittelbar eingreifen zu müssen. Sie sollten sich in weitem Bogen
an den Real-Kauf-Eingang heranschleichen und dann auf mein Zeichen
warten. Manuela wartete demnach an der Flaschensammelstelle und
Susanne am Wurststand gegenüber dem eigentlichen Haupteingang des
Centers, von dem ich annahm, dass er immer noch verschlossen sein
musste, wenn außer Susanne und mir bislang niemand in das Center
eingedrungen war. Einen Fehlversuch konnten wir uns
eigentlich nicht leisten. Ich wollte auch erst gar nicht an so was
denken. Falls mir etwas passierte, was wurde dann aus den beiden
Frauen? Vielleicht wurde es auch gar nicht so schlimm, wie ich
immer befürchtete. Vielleicht behielt Manuela mit ihrer
optimistischen Sichtweise diesmal Recht.
Aus dem Keller holte ich mir meine alte Biker-Kluft aus festem Rindsleder. Die Lederjeans waren einfach unverwüstlich und die gepolsterte Hüftjacke hielt sicherlich Schläge auf die Schultern ebenso gut ab, wie sie Messerstichen einen Widerstand entgegen setzen konnte. Wie froh war ich jetzt, in den letzten Jahren mein Gewicht gehalten zu haben, denn die Klamotten passten immer noch wie angegossen und das sollte ja auch so sein. Schließlich musste ich mich vielleicht schnell bewegen und das konnte ich als Presswurst nicht.
Dann griff ich nach
meinem Prachtstück, einem handgeschmiedeten Katana, mehrfach
gefaltet, hart und trotzdem elastisch und scharf wie ein
Rasiermesser. Langsam zog ich das gute Stück aus der Lederscheide,
an der sich die Trageschlaufen befanden. Ich legte die Klinge flach
auf meinen Handrücken, während mein Blick nahezu bewundernd an der
glänzenden Klinge entlang fuhr.
Manuela war dagegen gewesen, als ich ihr sagte, ich wolle mir ein
japanisches Samurai-Schwert kaufen. ´Wozu das Ganze´, hatte sie
gefragt und ich konnte nur antworten, dass mir das auch nicht so
ganz klar wäre. Männer haben nun mal einen Tick für Messer, auch
wenn diese hier etwas länger geraten sind. Ich machte da keine
Ausnahme.
Sie blieb bei ihrer Ablehnung und so bestellte ich das Schwert-Set
heimlich bei meinem Waffenhändler im Internet, von dem ich auch
schon andere Sachen erhalten hatte, die nach Manuelas Ansicht
ebenso unnütz waren. Obgleich es sich um sehr gefährliche Waffen
handelte, benötigte man dafür keinen Waffenschein, im Gegensatz zu
einem Revolver. Die Logik dieser Vorgehensweise hatte sich mir
bisher nicht offenbart. Sicherlich konnte man mit einem
Revolver eine Menschen erschießen. Dazu musste man allerdings erst
einmal treffen und das war gar nicht so einfach, wie meine
Schießübungen mit der Luftpistole gezeigt hatten. Nur im Western
trafen die Revolverhelden mit jedem Schuss Das war der
Film. Die Wirklichkeit sah gänzlich anders aus.
Verwendete man jedoch einen Katana gegen einen Menschen, hatte das selbst für ungeübte Kämpfer immer katastrophale Folgen für den Gegner. Japaner übten mit Bambus-Bündeln. Ich hatte mit Weidenruten geübt, bis die Schläge stets so saßen, dass ein Ruten-Bündel schräg angeschlagen immer durchtrennt wurde. Mir konnte schon damals keiner vormachen, dass solche Übungen niemals den Zweck hätten, am lebenden Objekt die gleiche Wirkung zu erzielen. Die Öffentlichkeit machte sich in analogen Fällen gern etwas vor, sei es, um Lobbyisten gerecht zu werden oder um einfach Umsatz zu machen. Ich machte mir nichts vor. Würde ich diese Waffe ziehen müssen, war mir bewusst, was sie anrichten konnte.
Als das Päckchen dann
geliefert wurde, wusste Manuela sofort, was sich in dem länglichen
Kasten befand, schüttelte den Kopf und stellte sich für den Rest
des Tages bockig. Da unterschied sich meine bessere Hälfte nicht
von anderen Frauen. So reagierten sie nun mal, wenn die Männer
einfach ihren Kopf durchsetzen. Musste immer alles einen Sinn
haben? Damals hatte das Katana und sein kleiner Mitspieler, das
Tanto, keinen Sinn, - heute schon. Ich fühlte mich jetzt mit diesen
Waffen sicherer. Sie glichen rein gefühlsmäßig die Zahl der Jahre
aus, die mich von der Zeit der jugendlichen Fitness trennten. Ich
wusste wohl, dass gerade bei älteren Herren Äußerlichkeiten dazu
herhalten mussten, um sich trotz des Alters noch irgendwie
interessant zu machen. Allerdings schätzte ich in diesem Fall meine
Situation anders ein. Ich musste niemand mehr beeindrucken. Das
hatte ich mir schon seit längerer Zeit abgewöhnt. Außerdem war mir
gerade jetzt ziemlich egal, was andere, so sie noch existierten,
von mir dachten oder nicht, wenn ich mich so im Spiegel
betrachtete. Ziemlich martialisch das Ganze, dachte ich mir. Ich
steckte den Tanto am Rücken in den Gürtel und zog über alles eine
relativ weite und lange Wetterjacke, die meine
mittelalterliche Bewaffnung verdeckte.
Dann wurden die Frauen bewaffnet.
Mit Manuela hatte ich schon früher Schießübungen mit der Luft- und
Gaspistole veranstaltet. Dabei stellte sie sich gar nicht so
ungeschickt an, auch wenn sie Waffen nun mal nicht mochte. Susanne
war da schwieriger. Sie hatte noch nie eine Waffe in der Hand
gehalten. Allerdings, was war schon dabei, - Waffe in die Luft
halten, entsichern und nacheinander beide Abzüge der Schrotflinte
abdrücken.
Dann verrammelten wir unsere Festung und bewegten uns Richtung
Kreuzung zum Center. Von unseren neuen Nachbarn war im Moment
nichts zu hören. Die Frauen liefen an der Kreuzung nach links zur
Hauptstraße, weil sich dort eine Hecke von ca. 1m Höhe parallel zur
Straße zog, die wunderbar als Deckung benutzt werden konnte. In
Höhe des Baumarktes kletterte ich auf den Zaun, von wo aus ich sie
gut beobachten konnte und sah, ab wann beide ihre Plätze
eingenommen hatten. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen,
hätte man lachen können. Sie gaben sich wirklich alle Mühe, sich
gedeckt zu bewegen aber da sie so was noch nie gemacht hatten, sah
es schon urkomisch aus, wie sie geduckt an der Hecke entlangliefen.
Dann schlichen sie gedeckt durch die Unterstände für die
Einkaufswagen zu ihren Plätzen auf dem Parkplatz. Jetzt kam ich
dran!
Offen gesagt schlug mir das Herz bis zum Hals, als ich um die Ecke
bog. Von nun an bewegte ich mich offen auf das Center zu und wenn
sie eine Wache aufgestellt hatten, sahen sie mich. Ich wollte mich
ja auch nicht verbergen. Sie sollten mich ja offen kommen sehen. Es
stand aber niemand Wache!
In Höhe Haupteingang machte das Center-Gebäude auch außen einen
Knick. Von da an bestand direkter Blickkontakt zum Eingang des
Real-Marktes. Am Baumarkt hatte ich noch vermutet, dass sie den von
mir geöffneten Eingang genutzt hatten aber hier traf ich niemanden.
Sie hatten den eigentlichen Haupteingang weiter hinten
geöffnet.
Dann sah ich sie, bevor
sie auf mich aufmerksam wurden. Zwei Motorräder standen am Eingang
zum Real-Markt und auf den Bänken daneben saßen zwei Männer mit
Flaschen in den Händen. Beide unterhielten sich mit einer dritten
Person, die rittlings auf einem der Motorräder hockte. Alle trugen
eine Leder-Kombi, wobei die Person auf dem Motorrad einen
zarteren Körperbau hatte, wahrscheinlich eine Frau, vermutete
ich.
Sie bemerkte mein Kommen, während sich die Männer mit ihren
Flaschen beschäftigten. Wild gestikulierend versuchte sie, die
beiden auf mich aufmerksam zu machen, die darauf geradezu
verschlafen und träge reagierten. Indessen lief ich nach wie vor
schnurstracks auf die Gruppe zu. Als ich so 10 Meter von ihnen
entfernt war, standen die Männer auf und blickten mich neugierig
an. Fünf Meter vor ihnen blieb ich stehen. Die Frau, wie ich
richtig vermutet hatte, rutschte vom Sitz des Motorrades herunter
und stellte sich neben die Männer.
Sie mochte so Mitte Zwanzig sein, hatte kurze dunkelbraune Haare
und unter der Kombi zeichnete sich eine ziemlich gute Figur ab. Im
Gesicht trug sie die beinahe schon obligatorischen Nasen- und
Augenbrauenpiercings. Am Hals sah ich den Ansatz eines größeren
Tattoos. Die Lederhosen steckten in kniehohen Stiefeln. Einer der
Männer schien in etwa in ihrem Alter zu sein. Mit seiner blonden
Stoppel-Mähne machte er einen ziemlich frechen Eindruck. Er
kicherte auch laufend vor sich hin, nachdem ich stehen geblieben
war. Der andere Biker schien älter zu sein.Vielleicht so um die
Vierzig. Der Kopf war kurz geschoren. Er wirkte kräftig mit seinen
breiten Schultern, wobei das unter einer gepolsterten Kombi auch
wieder nichts bedeuten musste. Sein Blick gefiel mir nicht. Darin
lag ein Ausdruck von Arroganz und Verachtung. Dazu passte die
Körpersprache, denn er baute sich so auf, dass es keinen Zweifel
daran geben konnte, dass er hier der Boss war.
Der Blonde kicherte immer noch, wedelte mit einer Schnapsflasche
herum und zeigte damit auf mich. Ich versuchte, die Situation
einzuschätzen und registrierte daher, dass die Flasche nur noch
halb voll war. Sollte sich der fehlende Inhalt in dem Blonden
befinden, reichte das aus, um aus ihm einen Alkohol-Narren zu
machen und er gab sich auch alle Mühe, dem gerecht zu
werden.
Die Frau hielt ebenfalls eine Schnapsflasche in der Hand und hatte
offensichtlich ordentlich mitgehalten, denn so ganz standfest
schien sie auch nicht mehr zu sein.
Der Ältere hingegen blieb auch alkoholisiert ganz ruhig und
fixierte mich mit seinen Blicken.
Ohne dass ein Wort gefallen war, hatte sich die Situation für mich
bereits geklärt. Man sollte auf Äußerlichkeiten nicht allzu viel
geben aber manchmal sagten sie mehr als Worte. Ich fühlte
regelrecht, dass ich mit meiner Einschätzung richtig lag. Das hier
wurde keine nette Nachbarschaft! Die hatten nie vorgehabt, sich
hier niederzulassen. Das Center war im gesamten Umkreis bekannt und
sie hatten was zum Saufen gesucht und gefunden.
„Eh, Alter, wo haben sie Dich denn entlassen?“, lallte der
kichernde Blonde und baute sich lachend gegenüber den anderen
beiden auf, vor allem gegenüber der Frau, von der ich noch nicht
wusste, zu wem sie gehörte.
Ich antwortete ihm
nicht. Weshalb sollte man jemand antworten, der nichts zu sagen
hatte. Das machte den Blonden sichtlich nervös.
„Sprichst nicht mit jedem, was?“- rief er mir zu.
„Nein!“ Mehr sagte ich
nicht und wartete auf den Älteren, der mich immer noch
fixierte.
Jetzt kicherte der Blonde nicht mehr. „Hast Du das gehört?“ rief er
dem Älteren zu. „Der redet nicht mit jedem. Ich fasse es nicht.
Bist ganz schön frech für Dein Alter. Das solltest Du lieber
lassen. Wir mögen freche alte Kerle nämlich nicht.“ Erst sah
er mich mit einem selten dämlichen Gesichtsausdruck an, der wohl
kämpferisch aussehen sollte. Dann kicherte er wieder.
Die Frau hatte den Kopf
auf die Seite gelegt und stand mit keck eingeknickter Hüfte da.
„Der weiß, dass Du das Arschloch hier bist, ist doch klar Mann.
Ohne mich hättest Du Dich das letzte Mal auch in die Hosen gemacht,
Du Weichei.“
„Nun mach´ aber mal den Schacht eng. Du blöde Kuh! Von wegen
Arschloch. Der wird schon mit mir reden. Wart´s ab.“ Dann machte er
Anstalten, sich auf mich zu zubewegen. In mir war alles angespannt.
Was würde jetzt geschehen? Was wenn er mich angriff? Das passte
nicht in mein Konzept. Der Ältere griff ein und rettete für mich
die Situation.
„Ich hab´ Dir gesagt, dass Du nicht so viel saufen sollst. Du baust
dann nur Scheiße. Also halt jetzt die Fresse und lasse den Alten
mal in Ruhe.“
Der Blonde drehte sich nun zu dem Sprecher um und protestierte
lautstark. „Eh, Harry, der war frech zu mir, klar? Der kriegt jetzt
eine in die Schnauze, damit er sich merkt, dass man in seinem Alter
nicht mehr frech sein darf.“
„Ja Harry“, warf jetzt die Frau ein. „Lass´ ihn machen. Das wird
lustig. Das macht mich geil, wenn´s richtig heftig wird. Das weißt
Du doch.“
„Ich hab´ gesagt, Ihr sollt die Fresse halten oder wollt Ihr mir
schon wieder auf den Sack gehen?“, wies der Ältere die beiden an.
Offensichtlich umsonst. Entweder war es der Alkohol oder Dummheit,
die ihn den bösen Unterton in dessen Stimme ignorieren
ließ.
„Eh Harry, das geht so nicht. Du kannst mich doch nicht so einfach
vor dem da blamieren. Der kriegt jetzt eins in die Schnauze und
fertig.“ Noch ehe sich der Blonde wieder zu mir drehen konnte,
hatte ihm der Ältere eine schallende Ohrfeige verpasst.
„Hältst Du jetzt endlich Dein Maul?“ sagte der Ältere ganz ruhig
und sah mich wieder an.
Der Blonde drehte sich
mit einem ´Scheiße eh´ ab und setzte sich, die Wange haltend wieder
auf die Bank und nuckelte weiter an seiner Flasche. Die Frau hatte
mit keiner Miene auf das Ganze reagiert, stand aber immer noch
neben dem Älteren, der Harry gerufen worden war. „Dein Mann“, sagte
sie bloß und setzte sich zu dem Blonden. „Sag´ wenn Du mich
brauchst.“
Der kommentierte das lediglich mit einem ´Vergiss´ es !´ -
und ´Das letzte Mal hat Dir wohl nicht gereicht, Scheiß Sauerei mit
der Alten´.
Ich wusste im Moment
nicht, wovon hier die Rede war aber die ganze Szene sagte einiges
über die Zusammensetzung dieses Häufleins. Für mich stand fest,
Harry hatte das Sagen, der Blonde vögelte ab und zu mit der Frau
und sie wollte ab und zu auch mal vom Chef gevögelt werden, den das
aber anscheinend gar nicht so sehr interessierte, weil er keinerlei
Besitzansprüche angemeldet hatte, als sie sich einfach zu ihrem
Kumpel setzte.
„Wer bist Du?“ fragte er mich, ohne sich zu bewegen.
Ich hielt seinem herausfordernden Blick stand und dachte mir, was
sagst du jetzt? Sagst du einfach, Hallo, ich bin Ralf? Das war doch
Quatsch! Irgendein Ralf interessierte den hier nicht im Geringsten.
Der wollte Eindruck machen und verlangte, dass ein anderer
ebenfalls Eindruck machte. Sonst fügte er ihn einfach der Kategorie
hinzu, in der sich der Blonde befand, - Pausenclown, verwendbar für
niedere Aufgaben. Also so ging das hier nicht. Wie hatte ich mich
letztens selbst gegenüber Manuela genannt? Fast musste ich
lächeln.
„Ich bin der Alte vom Berge“, stellte ich mich vor. Das sagte
alles und auch wieder nichts. Das hieß aber auch, `Ich bin hier der
Chef!´ und ließ ihn im Unklaren über alles andere. Und siehe
da, es klappte.
Er trat einen Schritt auf mich zu und streckte mir seine Hand
entgegen.
„Und ich bin Harry“, stellte er sich vor und wartete, dass ich ihm meine Hand reichte.
Das wollte ich nicht.
Ich meine, eine Geste der Nachbarschaft, der Friedfertigkeit
vielleicht, - dagegen war nichts einzuwenden und ich hätte diese
Geste gern erwidert, wenn damit alles für die Zukunft geregelt
gewesen wäre. Allein, wie Harry mit seinem Kumpel umgesprungen war,
signalisierte mir, - Gefahr. Was, wenn er den Händedruck dazu
benutzte, um mich zu packen. Er war jünger und stärker als ich. Da
machte ich mir nichts vor. Gewährte ich ihm diese Möglichkeit,
blieb mir keinerlei Chance der Gegenwehr. Nein mein Freund! So
nicht, sagte ich mir.
„Fein Harry“, gab ich deshalb von mir, während ich seine
ausgestreckte Hand in der Luft hängen ließ und meine Hände vor dem
Gürtel übereinander legte.
Harry grinste und gab mir damit Recht. „O.k.“, meinte er. „Geht
auch so. „Gehörst Du hierher?“, wollte er wissen.
„Kann man so sagen“, antwortete ich und ließ mich absichtlich auf seine Art , mit mir zu reden, ein. „Und wo gehört Ihr hin?“, fragte ich noch.
Harry blickte
geringschätzig zu seinem Kumpel und der Biker-Braut und winkte ab.
„Ihr gar nicht“, bemerkte er. „Die fressen sich nur bei mir durch.
Ich hätte es einfacher ohne sie.“
Die Frau steckte ihm einfach die Zunge raus, sagte ´Fick´ Dich doch
selber´ und zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger.
Der Blonde hingegen fasste das wieder als Grund auf, sich bemerkbar zu machen. Ehe er jedoch einen Ton herausbringen konnte, zeigte ihm Harry nur die Faust und er verschluckte das Aufbegehren, das er gerade eben noch hatte loswerden wollen.
„Geht doch“, sagte Harry gelassen. „Ist wie mit Hunden“, meinte er. „Einmal die Peitsche gezeigt und sie parieren.“
„Ich kenne da bessere Methoden“, musste ich einfach widersprechen.
„Mag sein“, wehrte Harry ab. „Die interessieren mich aber nicht. Zu umständlich. Die Faust ist schneller.“
Wieder hielt ich seinem herausfordernden Blick stand. Er prüfte mich, das stand ganz außer Zweifel.
„Bis zu dem Zeitpunkt, wo einer mit Dir dasselbe macht oder Dein Blondchen da eine Gelegenheit sieht, Dir ein Messer in den Rücken zu stoßen. Musst halt immer auf der Hut sein. Finde ich ganz schön stressig.“
Wieder winkte Harry in
Richtung des Blonden ab. „Eher scheißt der sich in die Hosen. Der
hat doch nur die große Fresse. Wenn´s dann drauf ankommt, muss ich
die Sache gerade biegen. Irgendwann langt es mir und ich lege ihn
ab. Der überlebt das nicht mal 3 Tage lang. Darauf kannst Du mit
mir wetten.“
„Ihr seid also nur zufällig zusammen“, kam ich zu meiner Frage
zurück.
„Mehr oder weniger“,
antwortete er. „Der nervte schon im Biker-Club mit seiner Alten.
Wobei die noch eher zu gebrauchen ist. Das meine ich, so, wie ich
es sage. Brauchst es nur zu sagen. Ein Wort von mir und sie besorgt
es Dir.“ Er grinste mich unverhohlen an.
„Danke“, sagte ich. „Kein Bedarf. Ich gehe auf kein Samen-Klo!“ Das
war böse. Na und? Vielleicht tat ich ihr Unrecht und sie
hatte gar keine andere Wahl gehabt, als sich diesen beiden Kerlen
hier anzuschließen. Das war aber ihre Sache und nicht
meine.
„Ho, ho“, meinte Harry. „Da kenne ich aber jemanden, der das ganz
anders sieht.“
Er verwirrte mich jetzt. Was sollte das? Seinem herausfordernden Blick konnte man lediglich entnehmen, dass er sich wohl an meiner unsicheren Reaktion weidete.
„Was geht es mich an?“,
sagte ich nur.
„Allerhand“, erwiderte er nun ziemlich sicher. „Schließlich war es
Dein Bruder, der sie gefickt hat.“
Da war es! Fast hätte man sagen können, dass ich es geahnt hatte.
Was sollte ich da noch lange drum herum reden.
„Du kennst meinen Bruder?“, fragte ich und ahnte gleichzeitig, dass
da noch mehr zum Vorschein kommen würde.
„Kennen ist zu viel gesagt. Wir brauchten Sprit und er im Umkreis die einzige Tankstelle, die liefern kann. So sind wir auf ihn gekommen, als wir umherzogen auf der Suche nach Essbarem und nach intakten Strukturen, die wir verwerten können. Nicht mehr viel davon übrig was?“
Wieder grinste er mich herausfordernd an. Er wusste mehr, als mir lieb sein konnte und er machte jetzt auch keinen Hehl mehr daraus.
„Ausgenommen das, was das liebe Brüderchen hier sein Eigen nennt“, fuhr er fort.
„Ich kann Dir da nicht ganz folgen“, versuchte ich abzulenken.
„Ach so?“ Er lachte jetzt. „Er kann mir nicht folgen“, rief er zu den anderen beiden hinüber, die in sein höhnisches Lachen einstimmten.
„Dein Bruder war da
redseliger. Ich glaube für eine Möse erzählt der alles. Ich
brauchte ihm nur unser Schmuckstück hier auf den Schoß zu setzen
und er sprudelte wie ein Wasserfall. Erzählte von seinem Deal mit
den Typen vom Schloss, diesem komischen Weiberstall, der von diesen
idiotischen Eunuchen in ihren Kitteln bewacht wird wie ein
Heiligtum. Von denen bekommt er keine ab. Eher verpassen die ihm
eine Kugel. Wären da nicht seine beiden Jungs, hätten wir uns
genommen, was wir brauchen. Aber der eine von ihnen war beim Bund
und hat es geschafft, eine Kanone zu behalten, mit der er wohl auch
umgehen kann. Da konnten wir mit dem Messer nicht
dagegenhalten. Du hättest ihm eine von deinen Weibern abgeben
sollen. Von wegen hier einen auf Enthaltsam zu machen und dabei
betreibt der `Alte vom Berge´, wie Du Dich nennst, Vielweiberei.
Zeigst Du mir sie nachher, wenn wir hier fertig sind?“
„Das glaube ich nicht“, lehnte ich trocken ab.
„Ich schon“, sagte er kalt. „Ich bekomme immer, was ich haben will. Die Alte kannst Du behalten. Ich nehme mir die Jüngere, die Ärztin. Die ist heutzutage was wert.“
Ganz langsam bewegte
ich mich rückwärts von ihm weg. Ich wusste ja nicht, wie er seine
Drohung wahrmachen würde und Abstand verschaffte Zeit.
„Das liegt bei ihr“, gab ich zu bedenken. „Und ehrlich gesagt,
gefällt mir der Gedanke nicht unbedingt, die Frau gegen ihren
Willen an euch auszuliefern.“
„Wer fragt denn nach ihrem Willen?“ Harry lachte höhnisch. „Weiber
haben zu gehorchen, wenn man ihnen was sagt.“
„Und Du hast jetzt hier das Sagen“, brachte ich es auf den Punkt.
„Ich sehe, du verstehst
mich“, gab er zurück.
„Schade“, bemerkte ich lakonisch.
„Was soll das heißen?“, fragte er abfällig.
„Nun das heißt, dass unsere Nachbarschaft auf diese Weise nicht
funktioniert, wenn zwei das Sagen haben wollen und keiner nachgeben
will. Ich kann und ich will nicht nachgeben. Das ist schade. Wir
hätten teilen können. Wir teilen mit allen, die uns nicht bedrohen.
Schließlich tragen wir alle das gleiche Schicksal. Wir haben
überlebt und müssen sehen, wie wir durchkommen und das geht meines
Erachtens nach nur miteinander.“ Ich wusste, dass das nichts
bringen würde. Einen letzten Versuch war es aber immer
wert.
„Was soll der Quatsch!“, bestätigte er meine Befürchtungen. „Teilen
ist was für Schwache! Ich nehme mir, was ich brauche! Jetzt erst
recht. Wer hindert mich, Du etwa? Ich sehe nichts, was mich
aufhalten könnte. Gegen zwei hast Du keine Chance. Eh, du Looser“,
rief er zu dem Blonden. „Scher Dich her. Der Alte ist jetzt reif
für eine Lektion.“
Mit diesen Worten zog er sein Messer aus dem Gürtel und klappte
eine ziemlich lange Klinge auf. Die Art, wie er das Messer bewegte,
zeigte mir allerdings, dass er darin wohl keine große Übung zu
haben schien. Es war eben das aufgesetzte coole Gehabe eines
Arschlochs, dem bisher nur noch keiner einen Dämpfer verpasst
hatte. Mit dem Messer in der Hand kam er langsam wieder auf mich
zu, während ich ebenso langsam zurückwich.
Der Blonde kicherte
sofort laut los und folgte der Aufforderung seines Herren nur allzu
gern.
„Jetzt bist Du dran, Alter“, meinte er vergnügt und ziemlich
sicher, mit mir leichtes Spiel zu haben.
„Mein Bruder hat euch offensichtlich nicht gewarnt“, gab ich zu
bedenken.
Für einen Moment
zeigten sich beide verwundert.
„Wovor sollte er uns denn warnen?“, fragte Harry, stoppte sein
Vordringen und richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf,
während er sein Messer sinken ließ.
Der Blonde tat es ihm gleich und kicherte nicht mehr.
Allein das gefiel mir. Jetzt kam es darauf an, dachte ich mir. Sie
standen beide in ausreichender Entfernung. Mit einem
Ausfallschritt, so wie ich es mit den Ruten-bündeln nach alt
japanischer Vorlage geübt hatte, konnte ich jeden von ihnen
erreichen.
„Euer Pech“, sagte ich jetzt, um sie noch etwas zu
verwirren.
„Alter, Du bluffst“, meinte der Blonde jetzt sichtlich
verunsichert.
Also doch nur ein Schisser, mit einem großen Maul und nichts
dahinter, wenn man ihm sein Messer und seinen Harry wegnahm. Ganz
so wie vermutet.
In diesem Moment erinnerte ich mich komischer Weise an meine
Schulzeit. Wen es damals gegen mehrere Gegner in den häufigen
Schlägereien gegen diejenigen ging, die älter waren als ich, weil
sie eine Klasse zwei oder sogar dreimal hatten besuchen müssen,
hatte ich mir immer zuerst den Stärksten von ihnen herausgesucht.
Der bekam als erster eine verpasst. Erstens rechnete er nicht damit
und zweitens schockte das die anderen Feiglinge, die sich nur in
der Meute stark fühlten, solange, bis ich abhauen oder mich in eine
günstigere Lage bringen konnte.
Das heute war einfacher. Eine Pfeife und ein muskulöses Großmaul,
auch wenn er die größere Gefahr darstellte. Die Frau hielt sich im
Hintergrund und beobachtete das Schauspiel aus sicherer Entfernung,
so als ginge sie das alles nichts an.
„Vielleicht hat er eine Knarre?“, rief der Blonde zu Harry.
„Was machen wir, wenn der eine Knarre hat und nicht
blufft?“
„Hast die Hosen voll, was?“, regte sich der Gefragte auf. „Der hat
keine Knarre und wenn, sind wir schneller.“ Er musterte mich jetzt
eingehender als zuvor. „Und? Hast Du eine Knarre, Schlaumeier?“,
wollte er von mir wissen.
Frechheit siegt, dachte ich jetzt, manchmal auch entwaffnende
Offenheit. Also würde ich einfach die Wahrheit sagen.
„Für Euch brauche ich so was nicht. Das ist was für Feiglinge, wie
Ihr es seid. Glaubt, weil ich älter bin und allein, könnt Ihr hier
die Dicken spielen und eine dicke Lippe riskieren? Mein Bruder
hätte euch wirklich besser warnen sollen.“
Harry musterte mich immer noch. „Was hast Du da auf dem Rücken?“,
wollte er wissen.
Er musste den Griff des Katana gesehen haben, der sicherlich etwas
über den Kragen der Wetterjacke hervorschaute. Nur anfangen konnte
er mit dem, was er sah, bisher herzlich wenig. Ich half ihm
dabei.
„Ein Schwert“, sagte ich einfach.
Seine Verblüffung war total. Der Blonde kicherte wieder.
„Eh, Scheiße Harry. Der Alte hat ein Schwert. Was machen wir
jetzt?“
Harry bewegte sich nun in Richtung des Blonden, bis er neben ihm
stand. „Gegen uns zwei hat er sowieso keine Chance“, stellte er
jetzt fest.
„Dann strecke mal schön die Hände zur Seite und keine dumme
Bewegung, sonst machst Du Bekanntschaft mit meinem Freund hier“,
forderte er jetzt und wippte angriffslustig mit seinem
Klappmesser.
Darauf hatte ich gewartet. Wie gefordert hob ich die Arme und
streckte sie etwas mehr als seitlich hoch. Dann ballte ich die
Fäuste in der Hoffnung, dass die Frauen es sehen konnten.
Noch ehe Harry etwas dagegen einwenden konnte, fiel der erste
Schuss. Der kam von Manuela und ging, wie abgesprochen, in die
Luft.
Die Wirkung stellte sich trotzdem genauso ein, wie wir es erwartet
hatten. Die Biker blickten erschrocken in die Schussrichtung zu den
Flaschencontainern. Diesen Moment musste ich unbedingt nutzen. Der
Blonde wich mehrere Schritte seitlich zurück und blickte sich
erschrocken und voller Furcht um, als der zweite Schuss fiel,
wieder von Manuela und wieder in die Luft.
Der Blonde blickte jetzt nur noch in diese Richtung und achtete
nicht mehr auf mich.
Dann fiel der dritte Schuss, diesmal von Susanne. Auch dieser
Schuss war ungezielt in die Luft abgegeben worden. Irritiert
blickten beide Männer nun einmal in die Richtung der Würstchenbude
und in Richtung Container.
Ohne länger nachzudenken griffen meine Hände hinter den Kopf,
fassten das Katana am Griff und in einem Zug fuhr die Klinge durch
die Luft. Gleichzeitig ließ ich mich nach vorn fallen und
verstärkte so den Hieb. Was nun folgte, war ein tierischer Schrei.
Harry stand wie vom Schlag getroffen da und blickte, während er
fortwährend schrie, auf die Stelle an seiner rechten Seite, an der
sich noch eben sein Arm mit dem Messer befunden hatte. Der lag
zusammen mit dem Messer neben ihm auf dem Pflaster.
„Mach´ das Schwein kalt!“, schrie er und umfasste mit der linken
Hand den blutenden Stumpf unterhalb des Ellenbogens.
Als sich der Blonde zu mir umdrehte, sah ich, wie Susanne hinter
der Würstchenbude aus ihrer Deckung hervortrat. Die Schrotflinte im
Anschlag kam sie auf uns zu. Aus etwa 10 Meter Entfernung schoss
sie ein zweites Mal, - diesmal gezielt.
Wie von einer Faust getroffen flog der Blonde rückwärts und blieb
zuckend liegen, während er am ganzen Oberkörper aus vielen Wunden
zu bluten anfing. Die Frau hatte sich im Hintergrund an die Wand
gelehnt und zitterte ununterbrochen, während ihre Lippen einen
lautlosen Schrei formten. Dann stand Susanne neben mir. Auch
Manuela verließ jetzt ihre Deckung und eilte zu uns.
„Was haben wir getan?“, sagte sie, als sie neben uns
stand.
„Das Richtige“, stellte Susanne fest.
Harry war inzwischen zusammengesunken und kauerte am Boden, während
sein Armstumpf immer noch stark blutete.
Ich sah auf ihn herab wie auf ein seltsames Tier und spürte
keinerlei Bedauern. Eigentlich spürte ich Erleichterung. Es war
getan!. Wir hatten uns gewehrt, das erste und sicherlich nicht das
letzte Mal! Die da vor uns hockende Art Mensch konnte uns keine
Angst mehr einjagen. Das war vorbei.
„Mein Bruder hätte Euch warnen sollen“, sagte ich wieder, - wie
unter Hypnose. „Du hast es nicht anders gewollt. Nun wirst Du
sterben wie der da.“ Damit wies ich auf den immer noch zuckenden
Blonden. „Manchmal ist weniger mehr“, belehrte ich ihn. „Du hättest
teilen sollen.“
Harry blickte mich wirr und mit vor Angst geweiteten Augen an.
„Hej, Du kannst mich doch nicht so einfach killen, Alter. Das
kannst Du nicht! Das ist Mord!“
Jetzt lachte ich ihn an. „Ach so, das ist Mord? Und was wolltet Ihr
mit mir machen? Ein Spielchen? Keine Angst. Es ist nicht nötig, Dir
den Rest zu geben. Das passiert ganz von allein.“
Harry starrte jetzt zu Susanne. „Die da ist Ärztin. Die muss mir
helfen! Das muss sie!“
„Muss sie das?“, fragte ich ihn.
Susanne sah mich an, atmete tief durch und ging auf ihn zu. „Er hat
recht“, sagte sie. „Ich muss ihm helfen, sonst verblutet
er.“
Ich hielt sie am Arm fest. „Dieser Kerl hätte uns alle drei
eiskalt beseitigt, nur weil ihm gerade danach war. Soll er doch
verrecken!“
Sie nahm meine Hand von ihrem Arm. „Wir sind immer noch Menschen“,
meinte sie und ging zu dem am Boden knienden Harry. „Gib mir Deinen
Gürtel zum Abbinden, sonst verblutest du.“ Dann kniete sie neben
ihm.
Manuela stand jetzt neben dem am Boden liegenden Blonden. Der
rührte sich nicht mehr. Die Frau befand sich offensichtlich in
einer Art Schock und regte sich nicht von der Stelle, während
sie nach wie vor am ganzen Körper zitterte.
Susanne verdeckte meine Sicht auf Harry, während dieser seinen
Gürtel mit dem linken Arm aus den Schlaufen zog. Einen Moment
später lag dieser plötzlich um Susannes Hals und Harry zog zu, ohne
Rücksicht auf seinen nun wieder stärker blutenden rechten Arm, den
er losgelassen hatte. „Das Dreckstück nehme ich mit, wenn ich
verrecke! Wie gefällt Dir das Du Klugscheißer!“
Es knallte kurz. Harry zuckte zusammen und fiel zur Seite. Susanne
hielt sich den Hals und fiel nach vorn. Dahinter stand Manuela,
noch immer die Pistole von Herrn Gareck in der Hand
haltend.
„Er hat es nicht anders gewollt!“, stammelte sie und verkrampfte
den Griff beider Hände um die Pistole.
Ich ging zu ihr und senkte vorsichtig ihre Arme. Dann nahm ich ihr
die Waffe ab.
„Das war sehr mutig von Dir“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Du
hast unsere Freundin gerettet.“
„Aber er ist tot!“, würgte sie hervor, so als konnte sie immer noch
nicht fassen, was sie eben getan hatte.
„Viele sind gestorben und einige haben überlebt, obwohl sie es
nicht wert waren. Die hier gehörten dazu. Leben ist ein Geschenk.
Manchmal werden die Falschen beschenkt. Wir beerdigen sie wie die
anderen in unserer Siedlung. Das ist eine Ehre, die diese hier uns
nicht erwiesen hätten. Sei Dir dessen immer gewiss!“
Vorsichtig nahm ich sie in den Arm und sie weinte sich aus. Susanne
kam dazu und wir drei standen verschlungen da wie ein einzelner
Baum auf weitem Feld. Das Gesetz des Stärkeren war auf unserer
Seite gewesen, - diesmal.
Dann ging ich zu der Frau, die mich mit offenem Mund und voller
Angst kommen sah. Sie dachte, nun selbst an der Reihe zu sein.
Lallend und stammelnd streckte sie die Arme aus, um mich
abzuwehren. Was sollte ich nun mit ihr machen? Ich gab ihr einfach
eine Ohrfeige. Das wirkte. Das kannte sie von Harry.
„Du kannst gehen“, forderte ich sie auf. „Lebe und meide solche
Kerle!“, wies ich sie an, wohl wissend, dass sie wahrscheinlich,
ohne es bewusst anzustreben, immer wieder auf solche Typen stoßen
würde. Manche Dinge ließen sich nun mal nicht ändern aber das
interessierte mich schon nicht mehr. Sie starrte mich nur an, zog
ihre Jacke über und ging. Wir hofften, sie nie wieder zu Gesicht
bekommen.