Kapitel 10 - Ein alter Freund


Das Frühstück fiel danach aus und das Mittagessen schmeckte auch nicht so richtig. Der Vorfall machte uns auf eindringliche Weise unsere Verletzlichkeit bewusst. Wir lebten auf einer Insel inmitten einer Umgebung, die nicht mehr vom Menschen beherrscht wurde und sich daher mehr und mehr verselbständigte. Das traf auf die Pflanzen und erst recht auf die Tiere zu.
Bei den Pflanzen konnte das wohl noch einige Wochen dauern, bis deutlich werden würde, dass die regelnde und eingreifende Anwesenheit der Menschen fehlte.
Es würde einfach wieder alles so wachsen, wie es seit Anbeginn der Evolution geschah. Die am besten angepassten Pflanzen setzten sich durch und verdrängten die anderen. Zu den Anderen gehörten dann mit Sicherheit die anfälligen Kulturpflanzen. Für uns hieß das, - wir hatten vielleicht noch ein Jahr, um unsere Bedürfnisse von den
vorher angebauten Produkten zu decken, so wir sie fanden und sie nicht von anderen Überlebenden oder anderen Tieren verzehrt worden waren.
Bisher hatten wir in unsere Überlegungen nur andere Überlebende einbezogen. Der heutige Morgen hatte uns gezeigt, dass dies ein schwerer Fehler gewesen war.
Eigentlich hätte mir das klar sein sollen. Unzählige Haustiere standen im Prinzip von einem Tag auf den anderen ohne Versorgung da. Das bedeutete kein Futter, kein Wasser und keine Pflege. In diesem Moment musste ich an all´ die Nutztiere denken, die in Ställen gehalten wurden und um die sich niemand mehr kümmerte. Deren Massensterben kam sicherlich gleich nach dem Massensterben ihrer Halter. Ich hörte förmlich das Brüllen tausender Milchkühe, denen niemand mehr die Milch abnahm, bis ihnen die Euter platzten. Ich sah die Schweine, die sich, eingezwängt in enge Boxen, gegenseitig bedrängten, bis die ersten von ihnen erdrückt und anschließend zum Futter für die verbliebenen Tiere wurden.
Nicht anders erging es dem Mastgeflügel, das keiner mehr mästete. Nachdem die Tränken leer getrunken waren, begann auch hier das große Sterben. In meinen Verstand drängte sich förmlich der Gestank eines allumfassenden Todes.
Anders erging es wahrscheinlich den frei gehaltenen Tieren. Die konnten sich sicherlich in Todesangst aus ihren Gehegen befreien und selbst für´s Überleben sorgen. Wiesen und Felder gab es genug und dort wurden sie zur Beute für alte und neue Jäger, zu denen nun auch die Haushunde zählten.
Wie viele Hunde lebten in Deutschland? 10 Millionen? Vielleicht richtig.  Also, 10 Millionen Hunde suchen ein neues Herrchen oder Frauchen und keiner findet eins! Was nun? Ganz einfach, - Hündchen nimmt sein Schicksal in die eigenen Pfoten, so es kann und nicht in einer Wohnung zusammen mit seinem gestorbenen Besitzer eingesperrt ist oder an einer Kette am Zwinger hängt.
Damit reduzierte sich zwar die Zahl der herumstreunenden Tiere aber nicht das Problem. Groß frisst klein und mehrere fressen einen. Genau das hatte ich heute erleben dürfen. Mit Sicherheit zogen Tausende von großen Hunden umher, ständig mit knurrendem Magen und auf der Suche nach etwas Fressbarem.
Wir nahmen uns vor, nie wieder so unvorsichtig zu sein und das Grundstück völlig wehrlos zu verlassen. Zumindest die Gaspistole oder das Pfefferspray mussten mit.
Abends begleitete uns das Heulen der vier verbliebenen Hunde in den Schlaf, die nach ihrem Anführer riefen. Sie würden einen neuen unter sich ausmachen und wieder losziehen, bis sie auf eine schwächere Beute stießen. Ich hoffte, die Lehre von heute Morgen saß tief genug, um sie zum Weiterziehen zu bewegen. Um uns würden sie in Zukunft hoffentlich einen großen Bogen machen. 
Unser kleines Dorf war kein Ort der Massentierhaltung. Hier lebten
früher Mittel-und Kleinbauern mit ihren Feldern und Tieren. Es gab kein großes Gut, nur die einzelnen Höfe unterschiedlicher Größe, denen in den letzten 20 Jahren immer mehr die Erben abhanden gingen. Wer wollte schon so einen zum Leben und Unterhalten zu großen Hof übernehmen, der zu nichts mehr nütze geworden war als zum Verschlingen von Unsummen, die Renovierung und Erhaltung meistens verschlangen.
Noch schlimmer wurde es, wenn das `Brandzeichen´ des Denkmalschutzes neben dem Eingangsportal prangte. Dann war alles vorbei. Dann konnte man sein früheres Leben vergessen und wurde entweder zum Sklaven eines solchen Anwesens oder lehnte sein Erbe dankend ab und verzichtete.
So standen inzwischen mehrere der alten Gehöfte leer und fristeten schon vor der Epidemie ein trostloses Dasein. Bauern im eigentlichen Sinne gab es gar keine mehr. Im Prinzip handelte es sich bei unserer Ortschaft Leibling um zwei unterschiedliche Siedlungen.
Oben, auf dem Berg, neben dem Einkaufszentrum lebten die Zugezogenen, die Neuen, die mit dem alten Dorf da unten im
Flusstal nichts mehr zu tun hatten.
Unten im alten Dorf lebten die Alten oder deren Kinder und wenige Zugezogene, die sich von den günstigen Grundstücks-preisen auf den ehemaligen Sauerwiesen hatten locken lassen und nun Anwesen ihr Eigen nannten, die jedes Jahr mehr von den stärker werdenden Überschwemmungen des Flusses bedroht wurden.
Einige von den Alten hielten in ihren Gärten noch Kleinvieh wie Hühner, Gänse oder Schafe. Die interessierten mich, ehe sie zur Beute für die Hunde oder Füchse wurden.
Hühner benötigten Körner. Das stand mit dem Getreide auf den Feldern für dieses Jahr überall in ausreichendem Maße herum, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Bekamen sie die nicht, dann scharrten sie so lange, bis der Boden etwas Fressbares hergab. So sah der Boden dann auch aus. Da wuchs hinterher für längere Zeit nichts mehr.
Hühner legten außerdem Eier. Eine gute Küche funktionierte sicherlich auch ohne diese aber mit Eiern taten sich auf einmal wieder viele Möglichkeiten der Essenszubereitung auf. Also brauchten wir, wenn möglich, auch Hühner. Beim Spazierengehen durch das Unterdorf hatten wir in mehreren Höfen Hühner gesehen. Vielleicht war da noch was zu holen.
In anderen Grundstücken lebten Schafe und Ziegen in großzügiger Freihaltung auf Wiesen oder größeren Einfriedungen. Unter Umständen kam ich auch hier den neuen und alten Raubtieren zuvor. Eine Ziege, - das wäre was. Mit einer Ziege war die Milchversorgung gesichert.
Also rüstete ich mich wieder wie zur Schlacht aus und nahm mir vor, diesmal die weitere Umgebung gründlich zu erkunden. Seit Wochen vergruben wir uns in unserer Festung und blickten meistens ängstlich zum Horizont, als ob sich dort wieder einmal irgendeine Gefahr abzeichnen sollte. Die Arbeit im Grundstück war das Eine aber einmal wieder auszuschreiten, durch die Felder und unsere Waldumgebung zu wandern, - das war etwas ganz Anderes.
Inzwischen hatten wir die Umbaumaßnahmen zwischen den Grundstücken abgeschlossen. Die Gärten verbanden nun verschließbare Tore, die von einem Kartoffel- und Gemüsebeet zum nächsten führten. So gab es außer der Straße eine zweite Verbindung bis hin zu Susannes Grundstück.
Bloß gut, dass sich Manuela auskannte. Sie wusste, wie Kartoffeln gesteckt wurden. Sie kannte sich mit Gemüsesamen aus und gehorsam befolgten wir alle ihre Hinweise. Eigentlich stellte es sich als Segen heraus, dass es von uns nur noch so wenige gab. So hatten die Verbliebenen genügend Platz, um von dem zu leben, was der Boden hergab, wenn man nur verstand, ihn zu bearbeiten.
Gerade das war nun absolut keine Selbstverständlichkeit mehr. Auf dem Land hatte sich ein gewisses Grundwissen in der Generation erhalten, die sich jetzt so in einem Alter zwischen 50 und 60 befand. Deren Eltern hatten ihnen ein Wissen vermittelt, das noch aus einer Zeit stammte, in der es keine Supermärkte gab und in der sich der glücklich schätzte, der eine kleine Parzelle sein Eigen nannte, auf der er all´ das anbauen konnte, was ihm die
damalige sozialistische Mangelwirtschaft nicht lieferte.
Während im Westen Deutschlands Gartenwirtschaft eher eine Art Hobby geworden war, blieb es bis zur Wiedervereinigung im Osten eine Notwendigkeit, um wenigstens auf dem Mittagstisch eine gewisse Vielfalt herzustellen, die vor der eigenen Haustür, draußen, im real existierenden Sozialismus fehlte.
Nach der Wende passte sich auch dieser Lebensbereich den Gegebenheiten im Westen der Republik an und wurde ebenfalls zum Hobby der Städter. Einige jüngere Leute gab es da, die sich daran versuchten, den Weg zurück zur Natur zu suchen. Meistens handelte es sich jedoch eher um einen besseren Altenclub und zwischen den Parzellen häuften sich von Jahr zu Jahr die Lücken mit unbebauten und dann  schnell ungepflegten Grundstücken.
Die ehemaligen Besitzer starben ganz einfach nach und nach weg und neue Interessenten kamen nicht nach. Weshalb sollte man sich damit abquälen, Produkte anzubauen, die es im Supermarkt nebenan zu erstaunlich günstigen Preisen kaufen konnte. Wenn man es allerdings genauer betrachtete, waren die Preise allerdings gar nicht so günstig, sondern eher verbrecherisch, weil der günstige Überfluss hier den Mangel in weiten Teilen der sogenannten dritten Welt als Basis hatte.
Das interessierte allerdings so gut wie niemanden. Das allgemeine  Interesse galt nur einem möglichst günstigen Preis. Alles andere lag weit weg. So weit weg, dass mangelhaftes Grundwissen  paradoxe Blüten trieb. So antworteten Jugendliche auf die Frage, wie viel Beine ein Huhn hätte, allen Ernstes mit der Zahl Sechs! Kein Wunder, denn Sechs Keulen befanden sich in den Verpackungen der Kühlregale.
Noch schlimmer war es um die Einschätzung des Geschmacks der Ware bestellt. Was niemand kannte, bemerkte auch niemand, - es sei denn, in der Verwandtschaft existierte so ein verschrobener Mensch, der sich wenigstens teilweise von Produkten der eigenen Scholle ernährte. Dann bestand die Möglichkeit des Kontaktes völlig entwöhnter Geschmackssinne mit etwas Fantastischem, wie dem Geschmack frischer Erdbeeren oder der Schärfe gerade gezogener Radieschen.
Unglaublich der Unterschied! Dagegen schmeckten die tollen, immer knallroten und fast gleich großen Früchte nur nach Wasser. So stand es um die meisten angebotenen Produkte und noch schlimmer wurde es bei Fertiggerichten. Wer konnte heute noch richtig kochen? Wozu denn? Tiefkühlfach auf, - das Zeug rein in die Mikrowelle und fertig.
Wenn das die Zukunft war, weshalb dann nicht gleich vorverdautes Zeug schlucken. Hauptsache der Darm war hinterher straff. Wie bei so Manchem im Leben kam es hierbei nur auf die richtige Erziehung an. Im Zeitalter der Medien besorgten das nicht mehr die Eltern oder die Schule, sondern irgendeine
Super-Nanny, die Werbung oder eine als unentbehrlich gepriesene APP.
Sobald die Kleinen mit dem Lesen begannen, drückten ihnen Eltern oder Großeltern bereits das erste Smartphone in die Hand, das dann die weitere Erziehung übernahm. Später folgte dann das Tablet oder der PC, - Hauptsache der Nachwuchs war beschäftigt und nervte nicht. Was die Jugend von diesen Medien lernte und was mit der Lebensauffassung passierte, - damit beschäftigte sich gerade mal eine Minderheit, die etwas weiter dachte als bis zu Germanys next Topmodel. Nach mehreren Jahrzehnten medialer Verödung besaß dann eben ein Huhn sechs Beinen und die Frage nach dem Satz des Pythagoras beantworten Zehntklässler absolut cool mit –Hej, willst du uns sexuell belästigen
Wie hatten diese coolen Typen bloß die zehnte Klasse geschafft?, fragte ich mich, nachdem ich das allen Ernstes in einer Rundfunkreportage im Radio gehört hatte. Stand am Ende der zehnten Klasse denn nicht immer noch eine Prüfung? Was prüften die da eigentlich? Ging es da lediglich um eine Bestätigung einer coolen Existenz oder doch noch um den Nachweis von angeeignetem Wissen?
- Weiß ich nicht! -, das ist eine gute Antwort. Nun ja, gut ist das auch wieder nicht, wenn Grundwissen der zehnten Klasse nicht vorhanden ist, nachdem gerade eine Prüfung über dieses Grundwissen absolviert worden war. Einzugestehen, etwas nicht zu wissen, war aber wenigstens ehrlich. Nicht cool, zugegeben, aber ehrlich. Jedoch, - das machten doch nur Looser und wer gab schon gern zu, ein Looser zu sein. Das mit dem Looser, das kam dann später im Leben, doch das brachten den Jugendlichen die Apps  ihrer Smart-Phones nicht bei.
Im
Danach kam es mehr denn je auf Wissen an, - gewusst wo und wie. Das Einzige, das ich nicht wusste, - wer lebte da unten im Dorf noch? Auf wen würde ich bei meinem Streifzug treffen und wie verhielt sich ein solcher Mensch bei einer Begegnung mit mir, vorausgesetzt, wir behielten beide einigermaßen die
Nerven?
Tappte ich in eine Falle? Lauerten sie  mir auf? Quatsch! Wenn dort unten noch jemand überlebt hatte, dann ahnte derjenige nichts vom `Alten Mann vom Berge´, wie ich mich ja nun einmal genannt hatte. Dass ich die da unten besuchen würde, ahnten sie auch nicht. Wenn ich Glück hatte, erkannten sie mich als einen vom Oberdorf, einen der Zugezogenen, - Hauptsache bekannt und kein Fremder. Das war wichtig!
Bekannte sagten „Guten Tag“ und murksten sich nicht einfach so ab. Jedenfalls hatte man das früher so gehalten und ich ging davon aus, dass die Regeln des Mittelalters heute, in diesem
postelektronischen Zeitalter, auch noch oder wieder galten. Trotzdem war Vorsicht besser als Nachsicht. Deshalb prüfte ich den korrekten Sitz des Schwertes auf meinem Rücken. Garecks Pistole steckte hinten in meinem Gürtel. Obwohl es die Frühlingssonne bereits sehr gut mit uns meinte, zog ich eine Wetterjacke über, um meine Bewaffnung zu verdecken. Nach außen wollte ich mich als harmlosen und ungefährlichen Wanderer ausgeben. Alles andere würde sich dann zeigen.
Mit diesen Gedanken verließ ich das Haus und ließ die Frauen zurück, die anschließend mit mir die Ernte meiner Erkundung einbringen sollten. Ich hielt es für besser, erst einmal allein loszuziehen, als sich von vorn herein als Gruppe zu erkennen zu geben.
Manuela teilte diese, meine Meinung eher nicht. Sie empfand den Ausflug ins Dorf als zu gefährlich und unnütz, da niemand wissen konnte, wer oder was uns dort erwartete. Ich hielt es ja selbst nicht unbedingt für notwendig, wegen eines Schafes oder wegen einiger Hühner Gefahrensituationen zu riskieren. Aber mich trieben auch eine gewisse Neugier und die Frage, ob ich wenigstens dort unten, in Richtung Fluss, den Rücken frei hatte. Wenn nicht, würde ich herausbekommen, mit wem ich es zu tun hatte. Wir würden uns schon irgendwie einigen.
Noch immer stellte es etwas eigentümlich Befremdliches dar, durch unseren Sicherungszaun zu treten, die Tür hinter sich zu schließen und sich anschließend außerhalb unserer vermeidlichen Sicherheit zu bewegen.  Wieder war ich versucht, Manuela zu ermahnen, ja niemanden ins Grundstück zu lassen, denn wie früher winkte sie mir zum Abschied am Fenster zu.
Es schien ein schöner Tag zu werden. Die Maisonne stand schon hoch am Himmel und wärmte bereits ordentlich. Susanne und Claudia arbeiteten im Garten und bemühten sich angestrengt, die Bestellung ihrer Beete auf den Stand zu bringen, den Manuela und ich bereits erreicht hatten. Was mir nicht gefiel, war die fehlende Sicherung des Grundstückes. Susannes Anwesen fehlten die Hindernisse gegen ungebetene Gäste. Ein Sichtschutzzaun oder eine niedrige Hecke boten im Ernstfall keinen Schutz. Susanne hielt von meinen Maßnahmen nicht viel. Ihr erschien das alles viel zu übertrieben. Wer sollte uns schon was tun. Der Vorfall im Einkaufscenter hätte sie eigentlich eines Besseren belehren sollen, - tat es aber nicht.
Ich winkte beiden über den Sichtschutzzaun zu, wünschte ihnen einen wunderschönen Tag und versprach, nur mit guten Nachrichten zurückzukehren, was hieß, dass ich ihnen eine Ziege versprach, von der ich nicht einmal wusste, ob es sie noch geben würde.
Wie ich so in Richtung Unterdorf  hinter dem Lärmschutzwall an den noch immer hübschen Häusern und Grundstücken entlang marschierte, kam es mir vor wie an einem ganz normalen Morgen, nur dass Manuela mich heute nicht zu einem unserer ausgedehnten Spaziergänge begleitete.
Früh am Morgen trafen wir auch in den
alten Zeiten kaum Jemanden an. Es war aber etwas völlig anderes, einfach nur niemand zu treffen, weil die Leute noch schliefen oder verreist waren, oder zu wissen, dass keiner von ihnen mehr da war. Früher grüßten wir, falls uns Frühaufsteher begegneten. Heute musste ich auf der Hut sein, wenn ein solcher Fall eintreten sollte.
Manuela empfand es stets als lästig, wenn ich einen menschenleeren Weg zynisch H5N1-Weg nannte. Damals konnte ich auf solch´ einem leeren Weg ungestört die Natur genießen. Heute gelang mir das nicht wirklich. Da blieb stets eine gewisse Anspannung, diese Lauerstellung, das Bemühen, der Jäger und nicht das Opfer zu sein.
Deshalb bog ich 200m weiter schnellstmöglich nach rechts in den Wald ein, der mit Ausnahme der Siedlungen des Unterdorfes den gesamten Hang des Flusstals bedeckte. Es handelte sich dabei um einen lockeren Mischwald aus verschiedenen Laubbäumen, zwischen denen vereinzelt Gestrüpp hervor wucherte. Das Ganze blieb aber immer noch so überschaubar, dass ich im Prinzip ohne Deckung marschierte. Ich sah alles und andere konnten mich auch sehen. Nur waren keine Anderen da, jedenfalls solange ich nach Passieren des letzten Grundstückes den schmalen Waldweg hinunter zum Fluss lief.
Da seit mehreren Wochen keiner mehr gemäht hatte, war ich froh, als das schon ziemlich hohe und auch feuchte Gras, welches den ersten Teil des Weges bedeckte vom braunen Waldboden abgelöst wurde.
Wie ich mich so umschaute, hatte es beinahe den Anschein, als würde sich hier nie etwas ändern. 25 Jahre lebten wir nun schon hier und kannten jeden Stein. Durch die Bäume lugten auf der rechten Seite versteckt hinter viel älteren Bäumen die vereinzelt in den Wald gesetzten Neubauten der letzten Jahre, sowie Häuser, die noch aus der Zeit stammten, in der man Beziehungen zu einflussreichen Beamten der Stadtverwaltung benötigte, um hier ein Wochenendgrundstück oder gar ein Haus bauen zu dürfen. Die Fenster blickten mich nun dunkel und leer an , so als  riefen sie mir zu: - Wir sehen dich aber wollen nichts mit dir zu tun
haben - .
Das hatte was von einem Restempfinden aus
früheren Tagen an sich. Alle lebten damals eigentlich so nebeneinander her. Guten Tag und guten Weg, das musste genügen. Diese Einstellung war eine der Veränderungen, die sich nach der deutschen Einheit breit gemacht hatte. Sicherlich gab es Ausnahmen, Sonderlinge, die es fertigbrachten sich nichts aus Dingen wie Geiz, Gier und dementsprechend Missgunst zu machen.
Scheinfreundschaften wurden aufrecht erhalten, deren Inhalt darin bestand, die Qual der eigenen Langeweile los zu werden, in dem man einen auf Geselligkeit machte.
Auch diese Art von Leben hatte etwas von auf der Lauer liegen, nur dass es nicht ums  Überleben ging, sondern um Gerede, Tratsch, Verbreiten von Meinungen, die niemanden interessierten, die man aber loswerden musste. Dann lieber gar nichts von alldem. Dann lieber Abschottung.
Das betraf nun wieder uns beide. Leider. Versuche, diese Abschottung zu durchbrechen, hatten wir in ausreichendem Maße unternommen, - zu oft mit immer dem gleichen Ergebnis: Wir konnten die Welt, die uns umgab, allein nicht ändern.
Ich blickte jetzt den Weg hinab durch die Baumreihen. Wie vertraut war mir doch das alles. Hunderte Male gegangene Pfade und jedes Mal wieder die Begeisterung über das Wunderwerk Natur. Gerade jetzt, im frischen Grün des Frühlings konnte ich mich nicht satt sehen an dieser Schönheit. Das würde nun für einige Zeit ungestört so bleiben, denn der einzige Störenfried in dieser prachtvollen Inszenierung des Lebens hatte eine Ruhepause verordnet bekommen. Nicht mehr lange, dachte ich und alles befand sich wieder im Gleichgewicht. Für lange Zeit würde sich auch niemand mehr anmaßen, zu bestimmen, wie dieses Gleichgewicht auszusehen hatte.
Unten am Fahrweg angekommen, konnte ich nicht fassen, welcher Anblick sich mir dort auf einmal bot. Auf Grund der geringen Breite von nur einer Fahrspur füllten Autos den gesamten Weg vom Dorf  in Richtung Reichenfels, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur.
Da stand ich nun und blickte herab auf diese Symbole falsch verstandener Männlichkeit, diesen Ausdruck von Status, den man glaubte inne zu haben, wenn die Marke nur stimmte, diesen ganzen angesparten und abgesparten oder einfach hingeworfenen finanziellen Unsinn einer fehlgeleiteten Gesellschaft, der nun einfach so da stand, verlassen, nutzlos geworden in dem Moment, wo die so viel gepriesenen Mobilität aufhörte zu existieren.
Sie hatten die angebliche Schleichrute gewählt. Sie, das waren diejenigen, die sich vielleicht etwas besser auskannten, die
Abkürzer, die schneller Ankommenden, die, die es schon immer besser gewusst hatten. Als auf dem Gipfel der panischen Flucht vor der Ansteckung oben am Einkaufscenter nichts mehr ging, da schien jeder Ausweg der Bessere zu sein, egal wie blödsinnig die Fluchtroute am Ende auch sein mochte.
Mehrfach hatten sich Manuela und ich während unserer Wanderungen darüber aufgeregt, dass es doch tatsächlich Mitmenschen gab, die es fertig brachten, einfach nur um abzukürzen, den Weg am ehemaligen Naturbad vorbei zu befahren, der dann nach etwa 1 km in einen Radweg mündete, gerade einmal so breit, dass ein Kleinwagen mit Mühe und gutem Zielen des Fahrers die Holzbrücken über das Biotop hätte überqueren können. Alles was breiter war, blieb einfach stecken. Offensichtlich war genau das passiert und danach kam dann nur noch ein Stau ohne Umkehrmöglichkeit.
So standen sie da und versperrten mir meinen Wanderweg. Nicht nur das, sie beschmutzten durch ihre Existenz die Natur. Das schlimmste an dieser Tatsache war, dass ich mich bei diesem Anblick sofort außer Stande sah, daran zukünftig auch nur das Geringste ändern zu können. Nie wieder würde dieser Weg wieder das sein, was er einmal gewesen war, - ein Kleinod. Wut kam in mir hoch und wieder einmal gönnte ich all´ jenen die Hölle, in die sie durch die Pandemie gefahren waren, weil sie mir noch nach ihrem Ableben auf die Nerven gingen.
Ich wendete mich in Richtung Dorf nach links, gespannt, wie es dort aussehen würde. Vorbei an den verlassenen Fahrzeugen setzte ich meinen Weg fort und auch die Reihe der Fahrzeuge hielt an, je weiter ich mich dem Dorfrand näherte.
Dort teilte sich die Straße. Der geradeaus führende Zweig Richtung Ortsausfahrt war genauso mit Fahrzeugen verstopft, wie der Fahrweg, den ich gerade gekommen war. Richtung Bahnübergang sah es anders aus.
Nicht zu fassen. Hier standen nur die Fahrzeuge der Anwohner. Offensichtlich hatten hier diejenigen zurückfahren können, die noch nicht am Waldweg oder  in der schmalen Dorfzufahrt eingeklemmt worden waren.
Groß musste dort die Todesangst gewesen sein, chaotisch sicherlich das Gehupe und Geschrei der auf diese Weise Eingeschlossenen. An manchen Stellen standen Fahrzeuge quer eingeklemmt auf der Straße, mit Beulen an den Seiten, Beulen, die ihnen diejenigen verpasst hatten, denen die sonst viel zu oft an den Tag gelegte Rücksicht auf die Rücksichtlosen diesmal ausgegangen war und die ihrer lang angestauten Wut nun endlich auf diese Weise Luft gemacht hatten.
Irgendwann musste einer begonnen haben, was sich dann wie in einer Welle fortgesetzt hatte. Sie hatten, ohnmächtig vor Wut und getrieben von der Angst, die Seuche würde sie auch hier erreichen, das aufgegeben, was bis eben noch als das Wichtigste auf der Welt gegolten  hatte, - ihr heiliges Automobil und hatten sich zu Fuß aufgemacht, um so schnell als möglich ihre Wohnungen zu erreichen, in denen sie dann innerhalb weniger Tage doch wirklich fast alle den Löffel abgegeben hatten.
Das schien für alle Siedlungen zu gelten, denn im Dorf hatte ich bislang nicht einen Toten gesehen, ebenso wenig in den Fahrzeugen. Im Augenblick der Gefahr hatten alle nur ein Ziel vor Augen, - so schnell als möglich die eigenen vier Wände erreichen, die Höhle, den Unterschlupf, der eine vermeintlich Sicherheit suggerierte, genauso, wie es Susanne beschrieben hatte.
Bevor ich die Bahnhofstrasse erreichte, passierte ich die letzten zwei Wiesen in diesem Ortsteil, die noch nicht mit neuen Häusern zugebaut worden waren. Dort hatten immer die Schafe und Ziegen einer alleinstehenden Frau geweidet, die so ein bisschen auf alternativ und öko machte. Jetzt kam uns dieses Verhalten dieses Sonderlings zugute.
Wie so oft während unserer Wanderungen, begrüßten mich die Tiere mit Ihrem Geblöke. Freudig winkte ich den Tieren zu und amte ihre Rufe nach. Sie stimmte in meine Laute ein und so blökten wir alle durcheinander. Vorsichtig liefen sie bis zum Rande der Einfriedung auf mich zu. Wenn ich mich nicht irrte, fehlte keines der Tiere, zu denen auch ein großer und kräftiger Bock mit starkem Gehörn gehörte. Der hatte sicherlich seinen Teil dazu beigetragen, die Angriffe der nächtlichen Räuber abzuwehren. Mit dem würde auch ich mich nicht einlassen wollen.
Schafe nutzte man wegen der Wolle. Die brauchten wir zur Zeit nicht. In den Einkaufscentern lagen noch immer genügend Klamotten herum, die jetzt keiner mehr kaufte. Da war im Bedarfsfalle Selbstbedienung angesagt.
Die Lämmer würde ich sowieso nicht umbringen können, also ließ ich die Tiere einfach stehen und suchte nach den Ziegen. Auch sie lebten noch. Die wollte ich wegen der Milch mit nach oben in unsere Siedlung nehmen. Somit konnte ich dieses Versprechen einhalten.
Weiter zum Fluss hin lagen noch einige Gärten, in denen ich früher frei gehaltene Hühner gesehen hatte. Sollten die vielleicht auch noch am Leben sein? Die Straße am Bahndamm entlang sah eigentlich aus wie immer, nur nicht mehr ganz so gepflegt. Das merkte man aber nur, wenn man genau hinsah. Das würde sich in den nächsten Wochen ändern. Die Natur zeigte sich fleißig, wenn es darum ging, Terrain von den Menschen zurück  zu erobern.
Noch immer hatte ich niemanden im Dorf gesehen. Ich wusste, wo sich alle befanden und ich hatte nicht die geringste Lust, nachzusehen. Am Bahnhof überquerte ich die Gleise.  Die Hühner suchte ich allerdings vergebens. Löcher in der Umfriedung zeigten an, dass sich hier schon andere vierbeinige Räuber bedient hatten und die vereinzelt herumliegenden Federn oder Flügelreste bewiesen den Erfolg ihrer hier einfachen Jagd.  Eigentlich hatte ich auch nichts anderes erwartet. Nach mehreren Wochen wäre es auch fast einem Wunder gleichgekommen, die Tiere hier wieder aufzufinden. Flugunfähig und eingesperrt hatten sie doch keinerlei Chance, wenn ein Fuchs oder ein Hund in das Gehege einfiel.
Der Blick reichte nun bis hinunter zum Flussufer, an dem sich
früher einmal eine Fähre befunden hatte. Das Früher reichte diesmal weiter zurück, - zurück in eine Zeit, die sich sicherlich auch damit beschäftigt hatte, Eigentum anzuschaffen. Aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Streben nicht von einer solchen Ausschließlichkeit gewesen war, wie in den letzten Jahren. Das hatte nichts mit DDR-Nostalgie zu tun, - absolut nicht. Wenn ich einer Sache nicht eine Träne nachweinte, dann meinem, unserem Leben im Osten Deutschlands.
Uns war es damals relativ gut gegangen und uns ging es nach der Wende gut. Wir verdankten das unserer Flexibilität und keinem Glück oder keinen Beziehungen. Rechtzeitig erkennen, was notwendig ist und darauf entsprechend reagieren, das war immer unsere Devise gewesen. Das bedeutete allerdings auch, immer miteinander und über alles sprechen. Heraus kam dann oft das, was Verwandte wie mein Bruder oder Bekannte als „Ihr habt vielleicht Glück gehabt!“ bezeichneten.
Sicherlich gehörte manchmal auch etwas Glück dazu aber sich darauf zu verlassen, dass dieses so wechselhafte Glück so gnädig ist und uns einfach mal aufsuchte, - so weit ging es bei uns nie. Ein Großteil dieses angeblichen Glücks war in Wahrheit das
Resultat ziemlich harter Arbeit.
Ich sagte dann immer, dass jeder in seinem Leben vor Weggabelungen stehen würde. Der Weg A stellte den einfacheren, bequemeren Weg dar, dessen Ziel aber nicht unbedingt erreichbar schien. Der Weg B stand für den unbequemen Weg, dessen Ziel aber deutlich abgezeichnet blieb, nur länger dauerte oder holpriger war. Wenn möglich, wählten wir diesen Weg und kamen gut ans Ziel. Betrachteten wir das Leben derer, die alles in unser beider Lebenslauf mit Glück begründeten, so wählten jene meistens den Weg A.
Bequemlichkeit rächte sich irgendwann, das war uns immer klar. Leider  schien die Bequemlichkeit als Massenerscheinung in Mode gekommen zu sein. Ich hasste es! Sich auf den Arsch setzen und nichts tun, - alles einfach kommen lassen und darauf setzen, dass andere die Kohlen aus dem Feuer holen. Aber anschließend jammern, wie schlecht die Welt wäre!
Die Welt war nun wirklich kein Paradies aber auch nicht so furchtbar, wie sie von den auf das leichte Glück Wartenden hingestellt wurde. Einem Großteil der Menschheit ging es doch im Vergleich dazu bedeutend schlechter. Diese Menschen  wären froh gewesen, in unserem angeblichen Jammertal wenigstens ein schlichtes Dasein zu fristen. Dagegen lebten wir doch im absoluten Luxus, - nur schien uns der Maßstab hierfür verloren gegangen zu sein.
Nach 45 Jahren Gängelei  durch engstirnige Bonzen lebten die Menschen im Osten nun endlich in Freiheit und verschenkten sie, weil es ihnen einfach nicht gelingen wollte, mit dem Erreichten zufrieden und ein bisschen dankbar zu sein, in einem Teil der Welt leben zu dürfen, der keinen Hunger und kein Elend kannte.
Weiß der Teufel warum, aber Manuela und ich blieben auch 25 Jahre nach dem Ende dieses gesellschaftlichen Irrweges immer noch dankbar dafür, nun die besten Jahre unseres Lebens selbst gestalten zu können und wenn es ging, das Beste daraus zu machen ohne das uns unfähige und von ewiger Sauferei völlig verblödete Funktionäre weiter vorschrieben, in welchen Grenzen wir unseren Alltag abstecken sollten.
Dass diese Dankbarkeit einmal selten werden würde, hätten wir vor 25 Jahren nie für möglich gehalten. Damals gab es die Fähre auch schon und es hatte sie aus Ermangelung einer Brücke in diesem Flussabschnitt auch schon lange vor der DDR  gegeben. Eigentlich war sie im Laufe der Zeit ein Bestandteil dieser Gegend geworden. Sie passte ins Landschaftsbild und es hatte einfach etwas Romantisches, sich von diesem Gefährt in Ruhe übersetzen zu lassen. Gerade weil es nicht schnell ging, hatte es was von gelebter Nostalgie.
Da noch
gestern Nostalgie was für Alte oder Gestrige war, musste auf einmal die unprofitable Fähre weg und dafür eine Brücke her, zwar nur eine Fußgängerbrücke, aber dafür eine besondere, nicht irgendeine. Was Besonderes war immer auch teuer und in einer Zeit klammer öffentlicher Kassen eigentlich unrealistisch. Nichts desto trotz musste die Fähre weg, noch bevor auch nur die Andeutung einer Brücke in trockenen Tüchern war.
Nun stand diese abseits der ehemaligen Anlegestelle aufgebockt als musealer Rest einer vergangenen Zeit herum. Für die Seilwinde hatte sich ein Käufer gefunden und so wurde diese ebenso schnell verkauft, wie die riesige Weide am Anlegesteg einfach gefällt wurde, um Platz für eine Brücke zu machen, deren Realisierung inzwischen vertagt, verschoben, abgelegt worden war. Sogar das schon zusammen gebrachte Geld dafür hatte man inzwischen neu verplant, da ja nun offensichtlich doch keine Brücke mehr errichtet werden sollte. Wieder einmal hatten Dummheit und Bequemlichkeit ihren Sieg davon getragen. Fast wie ehedem?
Wer waren die schließlich Leidtragenden dieses Unsinns, -  die Menschen, die nun fahren mussten, um die andere Seite des Flusses zu erreichen,  - die Wochenendtouristen, die nun keine Möglichkeit mehr zum einfachen Übersetzen auf die andere Seite des Flusses hatten, die zumindest ebenso reizvolle Sehenswürdigkeiten bieten konnte, wie unsere Seite des Flusses, - oder die alten Herren, die gar nicht übersetzen wollten, sondern lediglich am Fährhaus, im Angesicht des zumeist gemächlich dahintreibenden Wassers ein Bierchen zu trinken und dabei einen Plausch über Gott und alle Welt zu halten? Vielleicht aber auch alle zusammen und dann hieß der Verlust, der alle betraf – Lebensqualität, gespeist aus Voneinander, Miteinander und Füreinander.
Diese Dinge ließen sich nur schwerlich mit einer gewinnorientierten Denkweise erfassen. Aber das passte nicht in die beschränkte Vorstellungswelt der Bürokraten, die leider schon wieder über die Lebensqualität anderer Menschen entschieden. Den Verlust bemerkte jeder der Betroffenen ziemlich schnell. Die Bürokraten bemerkten ihn nur dann, wenn er sie unmittelbar betraf und das trat relativ selten ein.
So kam nun niemand mehr an dieser Stelle über den Fluss, wozu auch. Jeder besaß ein Auto und damit konnte man die Brücken benutzen, zu deren Erreichen dutzende Kilometer zu fahren waren. Hinter der Fähre hatte der Bahnhof auf die Weiterreisenden gewartet. Den benutzte nun auch kaum noch jemand, weil es bequemer erschien, 15km mit dem Auto zu fahren, als 1km zur Fähre zu laufen.
Und so verwaiste ein Stück Dorfleben nach dem anderen, bis aus dem früheren Leben nichts weiter übrig blieb, als dass im Dorf jeder jeden grüßte, ganz im Gegensatz zur Stadt. Aber auch das verschwand mit der Jugend, die es zumeist unterließ, eine derart lästige Tradition am Leben zu erhalten. Weshalb sollte man die Alten auch grüßen? Was hatte man davon? Sie begriffen noch nicht, dass sie es in Zukunft sein würden, die allein, ungegrüßt, unangesprochen und schließlich anonym ihr Dasein fristen sollten. Mir grauste immer vor dieser Zukunftsvision einer Leere, die sich auch hier, bei uns,  immer mehr ausbreitete.
Ich ließ den Bahnhof relativ emotionslos hinter mir, denn voraus labte sich der Blick an einer Landschaft, die ihre Schönheit vor mir ausbreitete, - einfach so. Nach links führte ein Fahrweg zu einer kleinen Gartenanlage an einer Schleuse, die, frisch restauriert, dem Tourismus in der Region dienlich sein sollte. Geradeaus ging es zur ehemaligen Fähre.
Das alte Fährhaus stand noch. Nur die Weide fehlte und der noch im Boden steckende Baumstumpf wirkte wie eine Wunde neben dem Steg. Mehr als hundert Jahre hatte sie hier gestanden und den Wartenden Schatten, Schutz oder den Platz für Schnitzereien in der Rinde gespendet, Beweise ewiger Liebe oder einfach „Ich war hier!“.
Dank moderner Kettensägen dauerte es wenige Minuten, das Werk eines Jahrhunderts zum Heizmaterial moderner, schicker und gleichsam unnützer Kamine zu machen. Es hätte mich
damals schon interessiert, wer sich diesen Einschlag unter den Nagel gerissen hatte. Egal. Weg war weg und was scherte mich das Geschwätz von gestern! So weg wie die Weide war jetzt auch der Besitzer des Brennholzes. So schnell kann´s gehen. Einfach dumm gelaufen!
Während ich so am Flussufer rumstand und vor mich hin sinnierte, bemerkte ich zunächst gar nicht, dass sich auf der gegenüber liegenden Seite des Flusses jemand dem dortigen Anlegesteg näherte. Als ich dann hinüber sah, erschrak ich regelrecht. Im Laufe der Zeit gewöhnte man sich daran, in den meisten aller Fälle allein zu sein. Die Überraschung wandelte sich in Freude, weil ich meinte, diese andere Person zu kennen.
Wenn ich mich nicht sehr irrte, stand dort Elke, eine ehemalige Bekannte aus unserem Tanzclub, mit der uns eine flüchtige Bekanntschaft verbunden hatte. Sie wohnte im Nachbardorf auf der anderen Seite, in das wir nach dem Wegfall der Fährverbindung nicht mehr gekommen waren. Alle Dörfer auf der anderen Seite des Flusses dämmerten in einer Art Dornröschenschlaf dahin, während unsere Seite durch mehrere Zufälle, wie größere Städte mit touristischen Anziehungspunkten, einen Radwanderweg, auf dem an Wochenenden ziemlich viel los gewesen war, einfach die besseren Karten erhalten hatte. Der Wegfall der Fähre hatte diesen Dämmerzustand des gegenüber liegenden Ufers noch verstärkt.
Wie bei uns lebten dort in den Dörfern fast nur noch die Alten und manchmal deren Kinder, nur dass dort das Verhältnis noch stärker in Richtung der Alten verschoben war, als bei uns. Das Ende schien schon
damals absehbar. Elke war aus unerfindlichen Gründen unter den Alten übrig geblieben, hatte aber auch durch ihre Tätigkeit mit Medizinern zu tun gehabt. Sicherlich begründete das ihr Überleben nach der Seuche.
Mein Gott, dachte ich in diesem Moment, lebten denn nur noch Ärzte, Krankenschwestern und deren Angehörige? War aus diesem Land eine Restansammlung von Medizinern geworden, die in der Lage gewesen waren, sich und anderen mit den nötigen Medikamenten und Vorsorgemaßnahmen über den kritischen Punkt der Infektion hinweg geholfen zu haben?
Es schien fast so.
„Elke?!“, rief ich hinüber, nun sicher, es mit ihr zu tun zu haben. Sie reagierte nicht, sondern starrte bewegungslos auf das

Wasser.
Mich verwunderte ihre Kleidung. Für einen warmen Frühlingstag im Mai hatte sie sich viel zu dicke Sachen angezogen. Was sollte bei fast 20°C ein langer Wintermantel und wer weiß, was sie sich sonst noch darunter angezogen hatte, denn sie wirkte ziemlich mollig. Dabei hatte ich Elke als doch recht schlanke Person in Erinnerung.
„Elke!“, rief ich erneut hinüber. „Ich bin´s. Ralf! Vom Tanzen, Du weißt doch!“
Sie reagierte nicht. Weder blickte sie zu mir rüber, noch schien sie sonst ihr Umfeld zu interessieren. Sie starrte einfach nur. Als ich erneut ihren Namen hinüber schrie, sprang sie plötzlich  in den Fluss.
Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Der Schock packte meinen ganzen Körper und hielt ihn fest, so dass einige Sekunden vergingen, bis ich mich wieder gefangen hatte. Elke war inzwischen völlig im Wasser verschwunden, das sich zu dieser Jahreszeit mit einer ordentlichen Strömung bewegte.
Da stand ich nun und wusste absolut nicht, was ich jetzt unternehmen sollte. Ebenfalls ins Wasser springen war Blödsinn. Bei der Strömung, der Entfernung und der Wassertemperatur kam meine Hilfe, wenn sie Elke überhaupt erreichen würde, ohnehin zu spät. Viel wahrscheinlicher war es, dass es mich auch noch erwischte. Ich hasste mich für meinen Pragmatismus, doch was sollte es. Es war nun mal so!
Also stand ich mit offenem Mund da, so als ob der letzte Ruf zu ihr auf den Lippen gefroren gewesen wäre und suchte die Wasseroberfläche nach ihr ab. In diesem Moment musste ich an ihre Wintersachen denken, die sich sofort mit Wasser vollgesogen hatten und sofort wusste ich, - sie hatte es so gewollt. Ich kannte den Grund nicht, würde ihn nie erfahren aber ich malte mir aus, was dort vorgefallen war.
Vielleicht hatte ich in Elke die letzte und einzige Überlebende Ihrer Familie, ihres Dorfes vor mir gehabt. Nicht jeder Mensch steckte eine derartige Erfahrung weg und sie war nie die starke Natur gewesen, der man das Ertragen psychischer Schläge zugetraut hätte. Wie anders, denn als Schlag sollte man ein Ereignis bezeichnen, das einen Menschen von heute auf morgen zum kläglichen Rest inmitten eines gigantischen Leichenhauses machte. Selbst Manuela und ich mit unserer Nüchternheit unserer gemeinsamen Kraft, Schwierigkeiten anzupacken und zu meistern, hatten Probleme mit dieser Situation.
Sie kam nicht mehr hoch. Der Fluss trug sie mit sich und begrub sie auf dem Weg nach Reichenfels. Spätestens dort, am nächsten Wehr, würde er sie wieder freigeben, wenn überhaupt. Sie hatte sich ihr nasses Grab ausgesucht und ich hatte das zu respektieren. Wenn sie Hilfe gewollt hätte, dann wäre mein Rufen nicht unbeachtet geblieben.
Kopfschüttelnd drehte ich mich ab und bewegte mich zurück ins Dorf. Hinter dem Bahndamm lief ich in Gedanken versunken die gleiche Bahnhofstrasse zurück, die ich gekommen war. Die Ziegen warteten darauf, von mir ins Oberdorf gebracht zu werden, um dort ein neues Zuhause zu finden.
Als ich zur umzäunten Wiese kam, erwartete mich die nächste Überraschung. Ich war nicht mehr der Einzige, der sich hier im Dorf herumtrieb. Bei den Schafen hockte ein Mann, den ich sofort erkannte. Nach dem traurigen Erlebnis am Fluss freute es mich umso mehr, ausgerechnet jetzt und hier meinen alten Schulkameraden Gerd anzutreffen.
Er hatte mich ebenfalls gleich erkannt und winkte mir zu, als ich mich der Umzäunung näherte.
„Mensch Neubert“, rief er mir freudig zu, so als hätte er mit nichts anderem gerechnet, als mich hier zu treffen. „Irgendwie wusste ich, dass es Dich noch gibt. Mensch ist das eine Freude.“
Ich stieg über den Zaun und ging auf ihn zu. Dann umarmten wir uns und klopften uns die Schultern bis es fast weh tat.
„Hallo Gerd“, begrüßte ich ihn. „Alter Freund, Du glaubst nicht, wie ich mich freue. Sage nur nicht, dass Du hier beim Joggen hängen geblieben bist.“
Er lachte. „Nee Du. Diesmal nicht. Außerdem ist mein Joggingpfad ziemlich im Eimer. Hast Du ja sicherlich auch schon gesehen.“
„ Was denkst denn Du“, bemerkte ich. „Die Reste der Zivilisation.“
„Genau“, sagte er. „Die Reste. Genau das ist es. Und wir, was sind wir?“
Da hatte er Recht. Die Frage hatte ich mir so noch gar nicht gestellt. Was waren wir, die überlebt hatten?
„Weiß nicht“, antwortete ich. „Für was Neues sind wir wohl beide zu alt. Ich tauge nicht mehr für einen Neuanfang, eher fürs Bewahren dessen, was geblieben ist.“
„Hast Recht“, meinte er. „Wie immer, wenn ich an unsere damaligen Diskussionen denke. Wenn die anderen aus unserer Klasse von Ihrer blöden Karriere quatschten, so nach dem Motto – Mein Auto, mein Haus, meine Alte -, genau in der Reihenfolge.“
„Ist jetzt alles nicht mehr viel wert oder?“, stellte ich fest. „Ausgenommen man hat noch seine Frau bei sich. Ich hoffe, Deine Familie hat es ebenfalls überlebt?“
„Danke der Nachfrage Ralf“, sagte er. „Glücklicher Weise hatten wir mit unserer Tochter einen Mediziner in der Familie. Sonst wären wir wohl beide draufgegangen, so wie die Anderen.“
„Ist Deine Tochter Ärztin gewesen?“, wollte ich wissen und dachte sofort an meinen Gedanken am Fluss, dass wir es nun mit einer Mediziner-Restgesellschaft zu tun haben würden.
„Nein, Krankenschwester“, antwortete er. „Für mehr hat es leider nicht gereicht. Vielleicht ist sie einfach nur zu faul gewesen als es darauf ankam. Jetzt sind wir übrig und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht warum.“
Das von ihm zu hören, verwunderte mich schon, denn wenn ich es recht bedachte, war er eigentlich schon
davor „übrig“. Wir kannten uns seit den Zeiten des Gymnasiums, das damals „Erweiterte Oberschule“ hieß. Diese Bezeichnung sollte wohl für Funktionärsohren nicht ganz so elitär klingen. Hätten die damals gewusst, was noch bis gestern von dem ehemals elitären Charakter eines Gymnasiums übrig geblieben war, - sie hätten sich wohl sehr über so viel Volkstümlichkeit gewundert.
In einer Gesellschaft, in der prinzipiell jeder sich selbst für so ungemein wichtig hielt, dass es nur widrige Umstände oder eine Pechsträhne sein konnten, die ihm seinen aktuellen Platz im Gerangel der anderen wichtigen Personen zugewiesen hatten, war es das Selbstverständlichste von der Welt, dass der so vergötterte Einzelsprössling natürlich über genügend Intelligenz, Begabung oder was auch immer verfügte, die einen Platz in einem Gymnasium rechtfertigte. Und so, wie niemand so recht begreifen konnte, wie jeder, der es darauf anlegte, seinen Führerschein zu bekommen, diesen auch erhielt, erreichte jeder dieser Schüler sein Abitur, wie auch immer. Was war ein solcher Abschluss dann noch wert, wenn ihn jeder erreichen konnte? Dadurch schlug die Stunde der Privatschulen. Auch die endeten mit einem Abitur, nur eben einem anderen, einem privat finanzierten, wodurch aus einer Einrichtung des Intellekts eine Einrichtung des Geldes wurde.
Zur Zeit unserer Anwesenheit an dieser Schule nannte sich eine solche Einrichtung „Kaderschmiede“ und nicht alle, die durch ihre schulischen Leistungen auf diese „Erweiterte Oberschule“ gekommen waren, wollten sich „schmieden“ lassen. Gerd nicht und ich noch weniger. Wer sich aber widersetzte, den versuchten die Herren Funktionäre im Lehrerkostüm zu biegen und manchmal wurde dabei ein junger Geist zerbrochen. Das nahmen diese Menschen bewusst in Kauf, denn wer sich nicht biegen lassen wollte, passte ohnehin nicht in das Weltbild dieser Kleingeister.
Als dann das Direktorium dieser „Kaderschmiede“ drauf und dran war, mich zu zerbrechen, stand mir nur einer aus meiner Klasse zur Seite und legte als Mitglied der Schülervertretung sein Veto ein, - Gerd!
Das verstand ich bis heute unter Freundschaft, - sich für den Freund einfach einzusetzen, auch wenn es eigene Nachteile bedeutete. Ich hatte nie erfahren, welche Nachteile Gerd aus seinem Einsatz für mich erwachsen waren. Er sprach nie darüber und nach dem Abitur verstreuten sich die Wege aller Schüler  über den damaligen Osten Deutschlands. Erst nach der Wende sahen wir uns alle 5 Jahre wieder zu den Klassentreffen unseres Jahrgangs.
Auch Gerd hatte den Sprung aus der Planwirtschaft in die neue Zeit geschafft. Was er davor getrieben hatte, blieb komischer Weise sein Geheimnis und ich hatte nie danach gefragt. Jetzt war aus ihm ein Journalist geworden, - hätte ich ihm nie zugetraut. Gerd ein Schreiberling! Wie war es dazu gekommen? In der Schule erbrachte er nie Beweise eines solchen Talents. Egal. Für eine Dekade, also zwei Klassentreffen, blieb das so. Dann fehlte er beim Dritten, um dann beim Vierten wieder aufzutauchen. Fast hätte ich ihn nicht erkannt.
Da stand vor uns ein heruntergekommener, beinahe war ich versucht gewesen, Penner zu sagen, ausgemergelter Mann, dem mindestens ein Drittel seiner Zähne im Mund fehlte. Wie hieß es so schön, - zeige mir Deine Zähne und ich sage Dir, wer oder was Du bist - . Und wenn ich mir Gerds Zähne besah, dann war er im Augenblick nichts oder anders ausgedrückt am Boden!
Was war mit ihm in den letzten Jahren geschehen? Hatte er seinen Job verloren? War er auf der Straße gelandet und nächtigte nun in der Gosse?
Nichts von alledem. Das erzählte er mir später beim letzten Treffen. Er hatte ganz einfach von allem die Schnauze gestrichen voll. Die neue Gesellschaft mit ihrem ständigen Kampf karrieregeiler Emporkömmlinge, die möglichst bei sich bietender Gelegenheit an den Stühlen derjenigen sägten, die noch ihre Vorgesetzten mit den höheren Gehältern waren, kotzte ihn nur noch an. Denn wer oben saß, musste auch in der Lage sein, nach unten austeilen zu können. Nur so blieb man oben. Das erwies sich als unabdingbar für die eigene Karriere, wirkte sich aber fürchterlich auf den menschlichen Charakter aus. Nicht jedem gelang es, dienstlich und privat zu trennen. Auch Gerd hatte das nicht geschafft.
Ich verstand das nur allzu gut. Schließlich war es mir ähnlich ergangen, nur dass ich Manuela an meiner Seite hatte, die mir unmissverständlich mitteilte, zu was für einem widerwärtigen Arschloch ich mich im Laufe der Zeit entwickelt hatte. Sicherlich, - im Job war ich Spitze, ebenso im Austeilen, wenn es notwendig wurde und bei dem nie endenden  Aufkommen an anderen Arschlöchern, die mir unbedingt ans Bein pinkeln mussten, um einen persönlichen Vorteil daraus zu schlagen, war es ständig notwendig, derartige Angriffe auf die neue, eiskalte, intrigante und intellektuelle Tour abzuwehren.
Als junge Kerle lösten wir solche Dinge anders, direkter, und wenn es sich nicht vermeiden ließ auch mit der Faust. Das ging später nicht mehr. Die Rechtsprechung verhinderte verbale oder körperliche Aktionen solcher Art bei Strafe und gesellschaftlicher Ächtung. Das konnte sich kein Büromensch leisten. Also wurde man zum intellektuellen Arschloch bis, - ja, - bis das Glück oder das Schicksal eingreift und den Abschluss einer solchen Entwicklung verhindert.
Bei mir war es die Krankheit meiner Frau, die mir bewusst machte, worauf es im Leben eigentlich ankam, vorausgesetzt natürlich, man liebte diese Frau. Ich kannte keinen wertvolleren Menschen für mich als sie. Sie zu verlieren ging über meine Vorstellungskraft. Sollte sie wieder gesund werden, würde ich alles anders machen, das schwor ich mir. Nicht nur das. Ich begann umgehend, diesen Schwur in die Tat umzusetzen.
Also brach ich mit dem, was man allgemein als Karriere bezeichnete, nahm einen einfacheren Job mit weniger Geld und weniger Bedeutung an, kappte meine bis dahin von mir so hoch geschätzte Wichtigkeit, um mich auf einen Weg zu begeben, der mich ganz bewusst zu einem unwichtigeren aber vielleicht etwas wertvolleren Menschen machte. Ich wusste, dass das nicht leicht werden würde. Keiner meiner ehemaligen Kollegen verstand mich und mein Handeln. Auf einmal waren mir all´ diese Meinungen völlig egal. Ich wollte nur noch für Manuela wichtig sein, so wie sie für mich wichtig war und wir schafften es gemeinsam!
Sie wurde wieder gesund und ich zu einem immer noch steuerzahlenden Mitglied dieser Gesellschaft, das die Regeln befolgte aber mehr nicht. Die Trends da draußen interessierten uns lediglich dann, wenn sie unser Leben tangierten. Teilweise erreichte dieses absichtliche Leben gegen den allgemeinen Mainstream regelrechten Kultcharakter, zum Beispiel, wenn wir entgegen der überwältigenden Masse an Konsumenten auf den Verzehr von Schweinefleisch auf immer und ewig verzichteten und das ganz ohne mosaischen oder moslemischen Hintergrund, sondern rein aus ästhetischen und gesundheitlichen Gründen.
Wir schufen uns unsere Insel, nicht ahnend, dass sie uns einmal retten würde. Was von draußen zu uns drang, prüften wir gründlich, ehe wir zuließen, es zum Bestandteil unseres Lebens zu machen. Smart-Phones gehörten beispielsweise nicht dazu und Zeitungen ebenfalls nicht.
Wir verließen unsere Insel nur, um die Angebote da draußen für uns in Anspruch zu nehmen, wie Konzerte, Kinobesuche, unseren Tanzclub oder ganz einfaches Shopping. Umso mehr fiel uns im Laufe der Zeit auf, wie sich die Menschen um uns herum veränderten oder vielleicht auch, wie wir uns verändert hatten.
Mit den Jahren leisteten wir uns mehr und mehr den Luxus, uns selbst zum Maßstab unseres Handelns zu machen und nicht ständig darüber nachzudenken, was andere davon halten würden. Damit machte man sich nicht unbedingt viele Freunde aber man kannte schnell ziemlich genau seine Feinde.
Gerd hatte offensichtlich nicht so viel Erfolg mit seinem Abschied aus der Karrierewelt gehabt wie ich, warum auch immer. Er war aufgeschlagen und hatte Verletzungen davongetragen, - sichtbare äußere aber mit Sicherheit auch innere.
Vor diesem letzten Treffen schien er sein Leben wieder in den Griff bekommen zu haben. Jedenfalls sah er um Längen besser aus, als beim letzten Mal. Später erklärte er mir warum. Er hatte sich von dieser Gesellschaft in ihrer Verlogenheit verabschiedet. Deren angeblichen Werte interessierten ihn nicht mehr. Diese Werte hatten ihn so verletzt, dass er jetzt Entschädigung einforderte, was hieß, dass er nichts mehr beitragen, sondern nur noch kassieren wollte. Wie er das mit seiner Frau und seiner Familie in Übereinstimmung brachte, erzählte er mir nicht, - war ja auch seine Sache.
Seine totale Ablehnung, die noch einen Tick weiter reichte, als meine Insellösung passte mir persönlich auch nicht so richtig, da ich der Überzeugung war, dass, wer nahm, auch zu geben hatte, aber meine Vorstellung vom Leben konnte und sollte nicht der Maßstab für andere sein.
Bei einem Urlaub in Österreich hatten wir in Schärding auf einem interessanten Schlossfriedhof eine lehrreiche Sammlung von Inschriften gefunden und eine davon lautete: „Versuche nie, andere werden zu lassen wie Du es selbst bist, denn einer von Deiner Sorte ist völlig ausreichend!“ Wie weise gesprochen!   Also, was hieß das jetzt, - Leben und leben lassen! - .
So ließ ich Gerd sein Ding machen und ich machte meins und nun führte uns genau diese Einstellung hier auf der Schafweide zusammen.
Wir hatten mehrere Minuten nicht miteinander geredet. Vielleicht erinnerte er sich daran, dass ich schon immer ein Grübler gewesen war und so ließ er mich einfach wieder mal grübeln. Ich sagte nichts dazu, sondern dankte ihm wortlos mit einem Blick.
„Harte Frage Gerd“, brach ich das Schweigen.
Er nickte. „Das kann man so sagen“, bestätigte er. „Beim letzten Treffen hast Du von Apophis, diesem Asteroiden gesprochen. Ich glaube gegen unsere Gegenwart wäre das Ding eine echte Niete gewesen.“
„Es gibt einen entscheidenden Unterschied“, gab ich zu bedenken. „Durch den Einschlag von Apophis wäre es danach zu einer natürlichen und daher gemischten Auslese der Überlebenden gekommen. Die Seuche hier sieht mehr nach menschengemacht aus und hat nichts mit der Natur zu tun.“
„Wie kommst Du auf so was?“
„In meiner Umgebung haben zu viele Mediziner überlebt. Zu viele, als das dies ein Zufall sein könnte. Hier ist was oberfaul, davon bin ich mehr und mehr überzeugt. Deswegen weiß ich auch nicht so recht, was ich dann in dieser Ansammlung von Ärzten und Krankenschwestern verloren habe. Meine Frau hat mich fast dasselbe gefragt, was Du jetzt von mir wissen willst. Was soll das alles jetzt noch, wollte sie von mir wissen. Wir wissen ja nicht einmal, ob unser Sohn noch lebt. Existieren wir nicht für unsere Kinder? Wir leben. Das muss reichen. Über den Sinn nachzudenken hat was mit Philosophie zu tun und dafür habe ich im Moment keine Zeit.“
Gerd nickte vor sich hin und blickte hinüber zu den Schafen.
„Da ist was dran“, meinte er. Ich glaube, wir sind aus demselben Grund hier. Wir brauchen beide Nahrung für unsere Familien.“
„Richtig!“, stimmte ich zu. „Ich habe gerade eben den Freitod einer Frau miterleben müssen, die ich flüchtig gekannt habe. Die sah das anders. Die konnte es einfach nicht mehr ertragen.“
„Schon möglich“, meinte er jetzt. „Wen es so aus heiterem Himmel trifft, den kann so was schon zerreißen. Ich war selbst mal nahe dran.“
„Ich weiß“, warf ich ein.
Gerd schüttelte energisch den Kopf. „Nichts weißt Du“, widersprach er. „Ich war damals ziemlich fertig. Ich meine richtig fertig.“
Ich blickte ihn erschrocken an.
„Willst Du damit sagen, Du wolltest Dich umbringen?“, wollte ich wissen.
Er lächelte bitter. „Wollte ist gut. Ich hatte es getan. Nur, - meine Frau hat mich zurückgeholt, so im letzten Moment. Da fehlte nicht viel. Im Krankenhaus haben sie damals gute Arbeit geleistet. Dann hat sie mir sehr geholfen, wieder auf die Beine zu kommen, so in allem eben. Es zerreißt einen, wenn man niemanden mehr hat, der hilft. Deine Bekannte hatte wahrscheinlich niemanden mehr. Sie hat es überstanden.“
„Was willst Du damit sagen?“, fragte ich verblüfft.
„Na ja, wir sind auch noch dran, nur eben nicht heute. Sieh uns doch an. Was wollen wir alten Säcke denn noch ausrichten? Aus uns erwächst keine neue Generation mehr, das kannst Du mir glauben.“
„Hatte ich auch nicht vor“, warf ich ein.
„Und was hast Du vor?“, fragte er, so als hätte ich die Antwort auf alles, an dem er so zweifelte. „Du warst doch schon immer der Planer, der Vorausschauer, der, wenn möglich, dem Zufall keine Chance lassen wollte.“
Willst Du jetzt wissen, ob ich einen Plan habe?“
„Genau!“
„Nun, - wir sind jetzt vier Überlebende in unserer Siedlung“, versuchte ich ihm die Lage zu erklären. „Drei Frauen und ich. In gewisser Hinsicht habe ich da eine Verantwortung. Zunächst wollte ich immer nur meine Manuela beschützen. Das zieht sich seit ihrer schweren Krankheit wie ein roter Faden durch mein Leben. Irgendwie haben wir das bis heute zusammen hingekriegt. Wir leben und uns geht es wahrscheinlich ziemlich gut, gemessen an vielen anderen, die diesen Wahnsinn überlebt haben. Noch leiden wir keine Not und wir versuchen, dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Wir können jede Hilfe gebrauchen. Jeder, der guten Willens zu uns kommt, ist willkommen. Verstehst Du mich?“
„Schon klar“, meinte er flüchtig vor sich hin lächelnd.
„Wie viele sind bei Dir“, wollte ich jetzt wissen.
„Nur meine Frau und die Tochter. Ohne sie würden wir nicht mehr leben. Sie hat uns immer behütet und dafür gesorgt, dass ich mich impfen ließ, als alle es ablehnten. Durch ihren Job im Krankenhaus kam sie an alles Weitere ran. Wie war es bei Dir?“, fragte er mich.
„Zur Impfung sind wir beide gegangen, schon rein aus Überzeugung. Durch meinen Job war ich ja all´ die Jahre derjenige, der die Krankheiten anderer  mit nach Hause einschleppte. Da war eine Grippe-Schutzimpfung für mich geradezu Pflicht. Und als das damals mit der Schweinegrippe losging, mit Vogelgrippe H5N1, H5N8 und weiß der Teufel, was da noch für Zeug herumgeflogen ist, haben wir gar nicht erst lange überlegt. Rein das Zeug und fertig. Es sollte ja Breitbandeigenschaften haben. Was sollte daran schon falsch sein? Wir haben das ganze Gerede über die Medien nie verstanden. Für mich war das wieder mal der reinste Populismus, Panikmache für das Volk, veranstaltet von Pseudo-Medizinern, deren Abschlüsse ich gern mal nachgeprüft hätte. Na ja, es haben sich ja auch verdammt viele einschüchtern lassen und sind nicht zur Impfung gegangen, bis sie das ganze Zeug an die Ukraine verschleudert haben. Vielleicht gibt es dadurch heute einen Ukrainer-Anteil an der Weltbevölkerung, wie es noch nie der Fall gewesen ist.“
Wir lachten jetzt beide.
„In unserer Nachbarschaft wohnt eine Ärztin“, fuhr ich fort. „Die hat uns mit Medikamenten über die Inkubationszeit hinweggeholfen, bis wir uns wieder gegenseitig helfen konnten. Ohne diese Hilfe hätte die Impfung auch nichts genützt.“
„Erschreckend, wie sich die Fälle ähneln“, stellte er fest. „Damit standen von Anfang an die Todeskandidaten fest. Wer nicht geimpft gewesen war, keinen Mediziner in seiner Nähe hatte, der ihn mit Tamiflu versorgte und anschließend pflegte wie einen Verwandten und außerdem noch in einer städtischen Umgebung lebte, der war verloren.“
„Sieht ganz so aus“, bestätigte ich. „Wo wohnst Du jetzt eigentlich?“, Er wies mit der Hand in Richtung Reichenfels. „Hinter dem Bahndamm in der Gartensiedlung. Wir brauchten nicht viel und bei unserem gemeinsamen Einkommen konnten wir auch
früher keine großen Sprünge machen. Fürs Leben hat´s gereicht. War o.k. so.“
„Verfügt ihr über Vorräte?“ Inzwischen arbeiteten meine grauen Zellen schon wieder wie ein Uhrwerk und ich rechnete mir aus, wie wir drei neue Anwohner unserer kleinen Gemeinschaft am besten integrieren konnten. Bei aller Freundschaft konnten wir nicht ewig und für jeden Neuankömmling alles teilen, egal wie wertvoll oder wie befreundet er auch sein mochte. Wenn es für alle nicht mehr reichte, war keinem von uns gedient und die Not sorgte für Spannungen, die wir nicht gebrauchen konnten. Also musste schon jeder seinen Teil zur Gemeinschaft beitragen.
Gerd kratzte sich am Hinterkopf, so, als müsse er angestrengt nachdenken.
„Vorräte ist vielleicht etwas hoch gegriffen. Wir waren schon
vorher gut als Selbstversorger. Wenn´s im Portemonnaie ständig klamm ist, bleibt dir gar nichts anderes übrig. Was jetzt fehlt, holen wir uns aus den leer stehenden Häusern und aus dem Markt ein paar Straßen weiter.“
„Ihr kommt also zurecht?“ fragte ich abschließend.
„Wir kommen zurecht“, bestätigte er. „Da ist nur ein kleines Problem und dabei kannst Du mir vielleicht doch noch helfen. Bei Euch lebt also eine Ärztin?“
„Richtig. Susanne Schröder.“
„Das gibt’ s doch nicht. Die Schröder aus der Zimmerstraße?“, fragte er.
„Genau die“, gab ich zurück. „Wieso, was ist mit ihr?“
Gerd lachte los. „Das war unsere Hausärztin. Die kenne ich gut. Die ist in Ordnung. Dann wird alles gut.“
Ich konnte ihm förmlich ansehen, wie eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden war.
„Wie können wir Euch helfen?“ sagte ich einfach
und er erzählte mir seine Geschichte.