Kapitel 2 - Die Festung

 

Die Nacht war kurz gewesen. Wir hatten beide kaum ein Auge zu bekommen, bei all´ der Aufregung und den Gedanken, die einem da so durch den Kopf gingen, wenn die Welt, so wie man sie glaubte zu kennen, aus den Angeln fiel.
Ich schaute zum Wecker. Der zeigte 07:00 Uhr und trotzdem drang Lärm durch das angekippte Fenster des Schlafzimmers, das sich im Obergeschoss des Hauses an dessen Stirnseite befand. Mit leichten Kopfschmerzen, so als hätte man einen Kater, stand ich auf und ging ins Nebenzimmer, weil man dort vom Dachfenster aus einen guten Überblick über die nähere Umgebung hatte. Ich traute meinen Augen kaum. Die Zufahrt zum EKZ war voller Fahrzeuge, ebenso die Landstraße, - die Kreuzung zum EKZ hoffnungslos verstopft.
Einige ganz Schlaue benutzen den Schleichweg, der von der Landstraße abbog und dann nach wenigen hundert Metern an unserem Haus vorbeiführte. Auch hier stand PKW an PKW. Die ersten hupten, andere standen bereits wild gestikulierend und diskutierend neben ihren Fahrzeugen. Drüben am Center hatten sie einen Zaun aufgebaut und kontrollierten jeden, der einfahren wollte.
Aha, dachte ich, die kontrollieren bestimmt auf Waffen oder Gegenstände, die man als solches gebrauchen kann. Natürlich dauerte das alles seine Zeit. Wie es aussah, interessierte die Uniformierten das Gezeter der Zivilisten nicht im Geringsten.  Sie machten ihren Job und erwarteten von allen anderen Geduld. Schließlich befand sich Deutschland Notstand.
„Manu, komm´ mal rüber und schau´ Dir das an“, rief ich. „Es geht los, sage ich Dir.“
Verschlafen trat sie neben mich und blickte aus dem Fenster. „Ach du meine Güte“, entfuhr es ihr.
Mein Dienstwagen stand wie immer vor dem Grundstück am Straßenrand und behinderte so die drängelnden Fahrer, die offensichtlich vereinzelt danach trachteten, in Zweierreihe nebeneinander mit ihren Autos zum Kontrollpunkt zu gelangen.
Unsere Nebenstraße interessierte die Soldaten am Kontrollpunkt nicht. Sie hatten genug mit der Hauptzufahrt zu tun. Also ging es vor unserem Haus nicht weiter.
Die Lage spitze sich zu und ich vernahm von unten erste Bemerkungen über das Scheiß-Auto, das ihnen das im Weg stand. Einige hatten mitbekommen, dass wir von oben zusahen und warfen uns missbilligende  Blicke zu. Ein ganz offenbar sehr wichtiger BMW-Fahrer, der direkt hinter meinem Audi stand und so nicht weiter kam, stieg aus, trat an unseren Zaun und rief zu uns hoch: „Schaff´ deine Karre aus dem Weg, sonst machen wir das!“
„Manu, es wird Ernst“, sagte ich, ging in mein Arbeitszimmer, schnappte mir einer Eingebung folgend, eine 30cm lange Eisenstange, welche eigentlich die Federaufnahme für den Fahrradsattel gewesen war. Das Ding stellte mit seinem Gummischutz als Handgriff einen hervorragenden Schlagstock dar. Damit bewaffnet wandte ich mich zur Treppe.
„Du willst doch nicht etwa so rausgehen?“, versuchte mich
meine Frau abzuhalten. „Sollen sie doch an dem Audi rummachen. Das ist nur Dein Dienstwagen und ich sehe nicht ein, dass Du Dich deswegen in Gefahr bringst.“
Sie hatte ja recht und auch wieder nicht. Jetzt war es das Auto, das einem aufgeblasenen Macho im Weg stand, - morgen stand ich dann einem solchen tollen Kerl im Wege. Oh, wie ich solche tollen Kerle hasste.

Niemand brauchte solche Typen. Die störten immer und überall, brachten nur Unruhe in alles hinein und verschärften die Situationen noch, in die sie sich einmischten. Das konnten diese Kerle wirklich gut, weil  sich ihnen nie jemand in den Weg stellte. Schließlich wollte keiner Ärger haben und Handgreiflichkeiten schon gar nicht. Dann kamen die Anwälte und es kostete Geld und am Ende war derjenige, der die Sache eigentlich hatte bereinigen wollen, der Gelackmeierte.
So lief das immer, bis auf heute. Heute war Notstand. Im Notstand galten andere Regeln. Da durfte man einschreiten, musste es geradezu, denn häufig stellten sich solche tollen Kerle als totale Pfeifen heraus, die sofort den Schwanz einkniffen, wenn ihnen womöglich ein anderes Alphamännchen in den Weg trat. Das wollte ich jetzt sein. Den Spaß brauchte ich. Außerdem, - der Kerl duzte mich. Hatte er mit mir zusammen Schweine gehütet? Was fiel diesem Heini ein?
„Nee, nee“, rief ich zurück, während ich die Treppe runterging. „Ich fahr das Auto auf den Fußweg vor der Einfahrt und dann hat die arme Seele Ruhe! Das wird schon!“
Mit diesen Worten schloss ich die Tür auf und trat hinaus. Die Eisenstange hielt ich,  leicht hin - und herpendelnd, in der rechten Hand, so dass man sie sofort gut sehen konnte, als ich mich der Tür zu unserem Vorgarten näherte. So was wirkte.
„Und wer ist jetzt wir?“, fragte ich provokativ in Richtung BMW.
Der so Angesprochene reagierte glücklicher Weise so, wie ich es erwartet hatte, - er kniff den Schwanz ein und begab sich zurück neben seine Fahrertür. „Sie können doch nicht einfach hier so parken“, rief er mir vorwurfsvoll zu. „Da kommt doch keiner durch.“
Das klang doch schon viel freundlicher, dachte ich so. Geht doch!
Ich stand immer noch hinter dem Zaun und sondierte die Lage. Manchmal gesellten sich einem dieser Maulhelden noch andere Trittbrettfahrer hinzu, die sonst nie etwas von sich gegeben hätten, diesmal aber nicht. Sein Pech war gewesen, dass sich die anderen schön hintereinander angestellt hatten. Nur er war aus der Reihe ausgebrochen, hatte einige Meter gut gemacht und wurde dann von meinem Audi gestoppt.
Sei diplomatisch! - hatte mich Manuela wie immer aufgefordert. Ich wollte diplomatisch sein, allerdings mit etwas Nachdruck. Es gab Armleuchter, die das brauchten. Also schloss ich langsam auf, trat hinaus auf den Gehweg und versuchte dabei, den
BMW-Fahrer zu analysieren. Immerhin war ich nicht mehr der Jüngste, wenngleich nicht ganz unsportlich. Schließlich rannten meine Manuela und ich jede Woche 3 Mal unsere Runde um einen See in der Nähe und das musste doch auch mal zu etwas gut sein.
Mein Gegenüber war jünger als ich, das erkannte ich sofort, - allerdings etwas kleiner und gewichtiger, der übliche Standard eben für einen Normalbürger um die 50.
Im Auto saß eine Frau gleichen Alters, die ununterbrochen auf ihn einredete. Das half. Nicht ihm, aber mir.
Ich ging also zur Beifahrertür und klopfte mit der Eisenstange vorsichtig an das Fenster.
„Das geht so nicht“, rief der Fahrer.
Seine Frau schepperte weiter auf ihn ein wie ein Wasserfall. Auch sie hatte einige Pfunde zu viel auf den Rippen, wie man unschwer an dem Polster um den Bauch herum erkennen konnte. Beider Klamotten standen im Kontrast zu einem Fahrzeug der Oberklasse. Alles sah irgendwie billig aus, wie aus der Krabbelbox oder sie waren heute sehr zeitig aufgestanden und für eine bessere Garderobe war noch keine Zeit geblieben.
Alles passte irgendwie zusammen und vielleicht hatte ich mit der direkten Methode Glück. Ihn ließ ich einfach stehen und sprach die Frau an, die abwechselnd ängstlich zu mir und der Eisenstange und dann wieder zu ihrem Mann blickte.
„Lassen Sie die Scheibe runter“, forderte ich sie auf. Sie gehorchte sofort. „Ist das da Ihr Mann?“ wollte ich wissen. Sie bejahte. „Benimmt der sich immer so? Ich hatte schon große Angst, dass er ernst macht und ich zuerst eine Werkstatt und dann einen Anwalt anrufen muss.“
„Der meint das nicht so“, versuchte sie mich zu beschwichtigen.
„Klang von oben aber anders“, erwiderte ich und an ihn gewandt. „Merken Sie nicht, dass Sie sich total aggressiv benehmen? Ich habe mir ihre Fahrzeugnummer aufgeschrieben, falls wir uns noch einmal begegnen.“
Er sah mich abschätzend an, prüfend, ob ich es ernst meinte. Sein Blick ruhte dabei zu oft auf der Eisenstange in meiner Hand. „Was heißt hier aggressiv?“
„Ich würde besser mal die Luft anhalten“, entgegnete ich geringschätzig. „Sie sollten sich überlegen, wann und mit wem Sie sich anlegen. Das sollten Sie sich für die Zukunft vielleicht merken. Es kann leicht passieren, man trifft auf einen, der nur darauf wartet, von Ihnen angemacht zu werden.“
„Einen wie Sie?“ Das war noch einmal frech von ihm, klang aber nicht mehr überzeugend. Das hörte ich sofort heraus.
In diesem Fall zeigte sich wieder, dass all´ die Jahre draußen im Markt bei den Kunden doch zu etwas gut gewesen waren. Da hatte man vielleicht 10 Sekunden, um den Anderen ab – und einzuschätzen, mehr nicht. Hier hingegen schien alles klar zu sein, denn mein Gegenüber suchte offensichtlich bei den anderen Autoinsassen nach Unterstützung. Die hielten sich allerdings weiterhin wohlweislich zurück. Es wollte ja niemand Ärger haben und was ging sie diese Sache an. So lief das immer. Raus halten und wegsehen, egal was passierte.
Etwas Ähnliches erlebte ich als junger Kerl von 20 Jahren einmal. Wir hatten in der Studentenzeit wieder mal tüchtig einen gehoben und ich fuhr mit der Straßenbahn zum Internat. Wenn ich so zurückdachte, konnte man meinen damaligen Zustand nicht einmal als aggressiv bezeichnen, eben einfach nur so ein bisschen abgesoffen und unterwegs nach dem Motto – lasst mich einfach alle in Ruhe.
Das funktionierte leider nur selten, auch diesmal nicht. Es gab immer einen, der einem offensichtlich Schwächeren zeigen musste, dass er der Platzhirsch hier war. Es ging dabei um nichts weiter, als um Macht und Treten nach unten.
Ich stand also im vorderen Teil der Straßenbahn herum und hatte eigentlich genug damit zu tun, die Schaukelei des Wagens auszugleichen. Vorbildlich suchte ich mir etwas Kleingeld zusammen und löste eine Fahrkarte am Automaten. Für die ganze Angelegenheit reichten dann irgendwie mein beiden Hände nicht mehr aus und so steckte ich die Fahrkarte in den Mund, während ich an meinem Portemonnaie herum fummelte.
„Ej, guck Dir das an“, rief jemand aus dem Wagen.
Ich wendete meinen Kopf in diese Richtung und erblickte zwei Kerle etwa in meinem Alter, einer lang und schlaksig, der andere untersetzt mit einem aufgesetzten unverschämten Gesichtsausdruck, der cool wirken sollte. Cool wirken war alles, - egal was für ein Arschloch, - Hauptsache cool.
„Der frisst Papier“ rief er wieder in meine Richtung. Seine eigene Blödheit schien ihn selbst ungemein zu amüsieren. Beide Kerle lachten und machten einen auf dicke, so als könnten sie sich das jetzt einfach herausnehmen, da sie ja zu zweit waren und ich allein und einen in der Krone hatte.
Wie gesagt, ich war bis dahin nicht aggressiv drauf, - sonst eigentlich auch nicht. Nur, mich regten eben solche Typen auf. In ähnlichen Situationen machte ich dann das, was alle machten, - ich hielt meinen Mund, tat so, als ob mich das Ganze nichts anginge und ignorierte diese Typen.
Diesmal nicht! In einer plötzlichen Aufwallung meldete Kleinhirn an Großhirn Wut und Adrenalin sprudelte. Also drehte ich mich zu den beiden hin, sah sie abschätzend an und bewegte mich auf sie zu. Sie saßen nun unter mir und ich stand neben dem kleineren Rufer. „Du findest das mächtig lustig was?“ fragte ich ihn ohne jegliche Furcht. Schließlich waren das zwei und wenn die sich einig waren, sah ich ganz schön alt aus.
Der Kleinere kicherte wieder cool vor sich hin. „Klar ej, wenn Du Arsch Papier frisst. Hat´s geschmeckt?“
Langsam legte ich den Kopf auf die Seite. Meine rechte Hand ballte sich zur Faust. Mit der linken Hand hielt ich mich an der Lehne des Sitzes fest. „Hast lange keine mehr in die Fresse gekriegt was? Ist vielleicht Zeit dafür?“
Der Kleinere kicherte wieder in die Menge, ziemlich sicher, sich in der besseren Position zu befinden. Im Wagen saßen ein paar ältere Herrschaften, 2 Männer um die 40 und zwei, drei Frauen mittleren Alters.  Alle sahen beflissentlich weg oder aus dem Fenster, so als passierte hier drin im Augenblick gar nichts. Dann sah der Kleinere zu mir hoch, reckte den Kopf nach vorn und grinste mich seiner Sache sicher an. „Versuch´s doch mal“, forderte er mich auf.

„Kein Problem“, antworte ich, zielte kurz und hämmerte ihm meine Faust direkt auf die Nase. In Notsituationen half das immer am besten. Da floss anschließend zur Abschreckung genügend Blut, bis sich die Situation wieder geklärt hatte. Der Bann war jetzt gebrochen. Ich war richtig wütend und hätte eigentlich glatt weitermachen können.
„Du, der hat mir die Nase gebrochen“ rief er aufstöhnend zu seinem Nachbarn. Der wollte sich rühren, kam aber am Fenster nicht so richtig hoch. Bis er das geschafft hatte sah ich kurz zu ihm rüber und rief ihm zu: „Setz´ dich wieder hin, sonst bist du der Nächste, klar?“
Im Wagen kam Unruhe auf. Einer der anwesenden Männer fand es nicht so gut, dass zwei Kerle einen allein anmachten und trotzdem eine auf die Nase bekamen. „Schläger!“ rief er in meine Richtung. „So geht das doch nicht!“
„Hat hier noch jemand Bedarf?“ fragte ich auffordernd in die Runde. Meine Wut hatte inzwischen einen Grad erreicht, der mir wohl einen Gesichtsausdruck verliehen hatte, der keinen Zweifel an meinen Absichten offenließ.
Der Sprecher duckte sich sofort und die anderen sahen weiter aus dem Fenster, so als wäre überhaupt nichts geschehen.
Dann hielt die Straßenbahn. Eigentlich reicht´s, dachte ich, wandte mich mit einem „Dumm gelaufen was?“ zu den beiden und verließ den Wagen.
Draußen angekommen fühlte ich mich dann gar nicht toll ob meines vermeintlichen Sieges, sondern eher richtig beschissen. He, was war ich gerade für ein Arsch gewesen, - nicht besser als die beiden, die mich da angemacht hatten, - nicht besser, als diejenigen, über die ich mich sonst aufregte. Scheiß-Alkohol, dachte ich aber das war auch keine Entschuldigung. Was wäre allerdings die Alternative gewesen? Maul halten und alles runter schlucken? Bei jedem kam einmal der Augenblick, an dem das Maß voll war, was hieß, kein Platz mehr da zum Schlucken. Dann bahnte sich der Urmensch in einem eben den Weg nach draußen.

Hier vor unserem Haus stand nun ich vor einer ziemlich analogen Situation und wusste, dass ich heute als alter Knacker erst recht nicht so handeln durfte, auch wenn es immer wieder derartige Kerle gab, die eine Lektion dringend nötig hätten. Aber war ich der Mann, der diese Lektion erteilen musste? Sollte ich hier den Rächer spielen? Am Ende brachte das alles gar nichts. Man regte sich nur auf, peitschte seinen Adrenalin-Spiegel nach oben und versaute sich den ganzen folgenden Tag.
Nein, sagte ich mir und musste an den Spruch denken, - Der Klügere gibt nach!-, auch wenn das nicht immer richtig zu sein schien. Denn dann gewannen die Fiesen, die Brutalen, die mit den niedrigen Instinkten immer. Ich wollte keine niedrigen Instinkte haben!
Mit diesem Gedanken drehte ich ihm den Rücken zu und bewegte mich auf meinen Audi zu.
„Wurde auch Zeit!“ , hörte ich hinter mir.
Er konnte es einfach nicht lassen, dachte ich, würgte meine Wut noch einmal herunter und rief nur: „Setz´ Dich in dein Auto und halte einfach Dein Maul, klar!“
Ein Blick über die Schulter zeigte mir an, dass seine Frau das Gleiche meinte und er gehorchte.
Ich setzte mich hinter das Steuer und dachte nach. Wohin mit der Kiste? So wie die Sache hier aussah, konnte alles Mögliche  passieren. Parkte ich auf der Zufahrt zum Grundstück, versperrte ich meine eigene Ausfahrt für unseren Privatwagen. Ich entschloss mich daher, zunächst auf den Gehweg zu fahren, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zu unserer ehemaligen Einfahrt zur Tiefgarage, die inzwischen vom Efeu total überwuchert worden war. Dort stellte ich den Audi mit der Motorhaube voran so ab, dass das Heck kaum über den Fußweg hinausragte.
Die Fahrzeuge, die noch eben zusammen mit dem BMW hinter mir gestanden hatte, rückten nun um 6 bis 7 Meter nach. Danach stand wieder alles  hinter den Anderen, die sich vor der Einmündung in die Zufahrtsstraße drängelten. Immerhin, dachte ich beim Anblick der Kolonne,  6 bis 7 Meter, das ist doch was. Dafür lohnte sich die ganze Aufregung wirklich. So war das meistens im Leben. Man regte sich zu häufig über Dinge auf, die es nicht wert waren.
In diesem Moment freute es mich, ruhig geblieben zu sein. Es war es einfach nicht wert. Er war es nicht wert! Aber ich wusste nun, was dringend zu tun war. Falls sich dieser Notstand so entwickeln sollte, wie zu befürchten schien, - würden Reaktionen wie die eben keine Einzelaktionen bleiben, sondern die Regel werden. In solchen Fällen stand mir dann kein einzelner Mann mehr gegenüber. In Not- oder Panikreaktionen bekamen diese Typen Zulauf von Schwächlingen, die sich allein nicht trauten, sich aber in Masse unglaublich stark fühlten und auf diese Weise gefährlich wurden. Für diesen Fall hatte ich vorgesorgt und die Zeit schien gekommen, meine Vorbereitungen in die Tat umzusetzen.
Mit diesem Entschluss begab ich mich wieder in unser Grundstück, schloss die Tür ab und bewegte mich so ruhig, wie das irgendwie nach diesem Vorkommnis möglich war, in den hinteren Teil des Grundstückes.
Hier sperrte eine fast 3 Meter hohe Koniferen-Hecke das Grundstück nach hinten hin ab. Auf der rechten Seite dieser Hecke befand sich eine ca. 2 Meter hohe Holztür, die zwar nicht unbedingt stabil wirkte, jedoch ihren Teil zum Sichtschutz nach hinten beitrug. Auf der linken Seite des Grundstückes stand ein Geräteschuppen und hinter diesem lagerten meine Notstandsutensilien. Hoffentlich hatte ich an alles gedacht, ging es mir immer wieder durch den Kopf, als ich vor all´ den Zaunelementen, Balken, Fässern und Stangen stand. Die Aufnahmehülsen für die Zaunpfähle steckten schon seit mehreren Monaten in der Erde. In dem Punkt hatte ich auf die Endzeit-Ratgeber im Netz gehört. Das war gut so, denn nun würde alles sehr schnell gehen.
Als erstes nahm ich die Stangen für die Drahtzaunelemente. Für das 15 Meter breite Grundstück benötigte ich lediglich 12 Stück, um damit die Vorderfront, sowie die Seiten bis zum Mitteltor und Mittelzaun abzustecken. Nachdem alle Stangen im Vorgarten lagen, begann ich ganz ruhig eine nach der anderen in die  Rohre einzulassen.
Zunächst interessierte das draußen vor dem Zaun niemanden. Da hatte jeder nur seinen Vordermann im Blick, ob der sich vielleicht ein paar Zentimeter vorwärts bewegte.
Das änderte sich, als ich die ersten Zaunfelder befestigte. Diese bestanden aus zusammengeschweißten Stahlstangen, welche so dicht beieinanderlagen, dass man sie nur sehr schwer übersteigen konnte. Wenn ein Fuß nicht in den Zwischenraum passte, musste man sich am Zaun hoch stemmen. Das wiederum funktionierte nicht, da man sich oben nicht festhalten konnte.
Als ich diese Dinger das erste Mal im Baumarkt gesehen hatte, sagte ich mir sofort, - das ist genau das Richtige! Bisher scheiterte der Aufbau nur an der Gemeindefestlegung, dass, wenn schon ein Zaun, dieser nicht höher als 90 Zentimeter sein durfte. Ich fand, dass genau heute die Zeit für diese Festlegung abgelaufen war.
Während mich die draußen Wartenden beim Werkeln beobachteten, ging ihnen vielleicht durch den Kopf, dass sie hier ihre Zeit mit Anstehen vergeudeten, während ich bereits für vollendete Tatsachen sorgte, zu denen sie unter Umständen nicht mehr in der Lage sein würden. Ab und zu schaute ich zu ihnen rüber und konnte mir dann ein Lächeln nicht verkneifen. In diesen Momenten freute es mich, einen Plan zu haben, der es mir gestattete, einen wichtigen Schritt voraus zu sein. Dieser kleine innere Stolz spornte an.
Schon nach einer Stunde hatte ich sämtliche Zaunfelder an den Stangen befestigt. Sogar die Ausfahrt und das Eingangstor funktionierten noch. Zufrieden trat ich zurück und betrachtete mein Werk. Schön sah es nicht aus, aber zweckmäßig. Meine Frau trat in den Hauseingang und blickte ebenfalls auf das Ergebnis meiner vorangegangenen Planung herab.
„Findest Du das nicht etwas übertrieben?“ fragte sie.
Ihr Blick verriet mir, dass ihr mein Werk  natürlich nicht gefiel. Schon die vorangegangene Planung hatte ihr nicht gefallen. Sie fand es einfach hässlich, aus unserem kleinen Grundstück eine Festung zu machen. Der Kompromiss sah dann so aus, - Beschaffung ja, Aufstellung nur bei Notwendigkeit. Daran hatte ich mich ja gehalten.
„Schau´ Dir das da draußen doch mal an“, rief ich ihr zu und wies mit dem Arm auf die Autoschlange vor unserem Haus. „Wie ich das sehe, ist es keinen Moment zu früh, etwas für
unsere Sicherheit zu unternehmen. Sollte sich der Stau nicht auflösen, und nichts sieht danach aus, möchte ich gern aus sicherer Entfernung zusehen, wie sich die Situation zuspitzt.“
Sie trat heraus an das Mitteltor, wie wir die Tür nannten, die wir samt zugehöriger Absperrung in der Höhe des Hauseinganges angebracht hatten, als wir noch einen Hund besaßen. Der sollte damals nicht laufend vor zum Gehweg rennen und dort herum bellen. Wie schnell entwickelte sich ein liebes Tier so zu einem nervenden Kläffer.
Dass diesem Mitteltor mal eine völlig andere Bedeutung zukommen sollte, war nie Zweck der Anschaffung gewesen. Es teilte den Vorgarten samt Carport vom Rest des Grundstückes. Von dort aus sah sie meinem Treiben zu. Das taten seit einiger Zeit auch  die Insassen der Autos vor unserem Grundstück. Die ohnehin schon angespannte Lage wurde dadurch nicht besser, wenn sie zusahen, wie sich da einer praktisch einigelte.
Das war mir in dem Moment allerdings total egal. Ich wusste, dass sich bald jeder der Nächste sein würde und  hatte nicht vor, da eine Ausnahme zu machen.
„Das sieht ganz schön wuchtig aus, findest du nicht?“ in ihrer Stimme glaubt ich neben der Missbilligung  auch eine gewisse Unsicherheit zu hören.
„Wenn Du es wuchtig findest, dann sehen es die da draußen ebenso. Dann hat der Stahlzaun seine Schuldigkeit getan“, stellte ich fest.
„Du willst doch nicht auch noch alles andere aufstellen?“ Sie meinte damit den Rest der Dinge, die hinter dem Gartenhaus lagerten.
„Keine Angst“, erwiderte ich. „Das kommt heute Abend dran. Ich belasse es jetzt beim Zaun. Für den Stacheldraht benötige ich dann im Ernstfall nur wenige Minuten.“
„Na Gott sei Dank! Komm´ rein, wenn Du fertig bist. Solange Du dich da draußen für alle präsentierst, habe ich keine Ruhe.“    Damit drehte sie sich um und verschwand im Haus.
Inzwischen ging es auf Mittag zu. Im Center hatte die Armee die Dinge anscheinend im Griff. Allmählich nahm der Stau auf der Hauptzufahrt ab. Unsere Seitenstraße hatten sie an der Einfahrt  zum Center nun ebenfalls abgesperrt, so dass Fahrzeug für Fahrzeug vor unserem Haus allmählich ein Normalzustand eintrat. Damit meine ich, dass jetzt nicht mehr 2 bis 3 Fahrzeuge nebeneinanderstanden und sich beim Vorfahren gegenseitig behinderten, sondern dass jetzt nur noch eine Fahrzeugreihe anstand, allerdings in Form von versetzt stehenden PKW.
So versuchten die Insassen zu verhindern, dass einige ganz Schlaue sich wieder vordrängeln wollten und dann wieder alles verstopften. Das erinnerte an das Verhalten von LKW-Fahrern auf Autobahnen. Bei denen funktionierte das auf Grund ihrer Größe. Mit einem LKW legte sich keiner an. Hier allerdings warteten ausschließlich PKWs und um dem Platzanspruch die entsprechende Geltung zu verschaffen, standen einige der Fahrer wie kampfbereite Platzhirsche neben der geöffneten Fahrertür und blickten ab und zu mit zur Faust geballten Gesichtern in die Runde.
Uns ging das Ganze hinter unserem Zaun nicht mehr viel an. Wir hatten unsere Live-Kinovorstellung, die wir uns vom Dachfenster aus ansahen. Nachdem die Leute in den Fahrzeugen uns am Dachfenster bemerkt hatten, hörten die meisten Männer wenigstens auf, ungeniert neben ihre Autos an den Erdwall zu pinkeln, der sich zwischen unserem Haus, der Straße und dem Entwässerungssee für die Center-Parkflächen befand.
Da hatte sich eine Art geschlechtliche Abmachung eingepegelt. Die Frauen gingen hinter den Wall, - die Männer an dem Wall in die Büsche.
Wir hofften inständig, dass sich der Stau nicht länger auf unserer Straße hinzog, denn dann würden auch noch andere Geschäfte ihr Recht einfordern. Wenn das ein Hund machte, verlor sich das im Gelände. Wenn dasselbe jedoch an die hundert Leute taten, stank die Sache später im wahrsten Sinne zum Himmel. Das fehlte uns noch.
Was mich am meisten verwunderte war die Tatsache, dass in Richtung Unterdorf kein Fahrzeug stand. Von der Einfahrt ins EKZ aus führte unsere Anwohner-Straße weiter in Richtung Kirche hinter dem Center entlang. Am Kirchweg, einer kleinen, ins Tal führenden Dorfzufahrt, hatte man seit langem die Zufahrt durch in den Straßenboden eingelassene Stahlpfosten abgeriegelt, so dass, wer kein Anwohner war und diese Straße benutze, dann an der anderen Seite des Centers wieder herausfahren musste.
Dass von dort niemand in unsere Richtung fuhr, konnte nur bedeuten, dass dort ebenfalls eine Absperrung vorhanden sein musste und auf dieser Seite des Centers diejenigen, die das Center an unserer Zufahrt betreten hatten, wieder herausfahren konnten. Einfaches Prinzip! So viele wie herausfuhren, durften bei uns rein fahren.
Mich beschäftigte neben der zwischen meiner Frau und mir abwechselnden Beobachtung der pinkelnden Männer und der Überprüfung der aktuellen Situation am Fernseher und am PC der Stand meiner Online-Bestellungen. Wie sollten die Lieferanten in dem sicherlich an allen größeren Verkaufsplätzen herrschenden Gedränge ihren Weg ausgerechnet zu uns finden? Wurden Belieferungen durch Speditionsfirmen überhaupt noch ausgeführt? 
Meine Frau wusste nämlich nichts von meiner Bestellung. Da ich ihre Meinung zur Bewaffnung für Krisenzeiten kannte, hatte ich sie schon seit einiger Zeit nicht mehr informiert, wenn eine Lieferung ins Haus kam. Zur Tarnung befanden sich immer einige Bücher oder DVDs mit in der Bestellung, so dass sie den Rest nicht mitbekam.
Die wichtigsten Dinge lagen ja längst griffbereit im Keller. Dazu gehörte ein leicht umgebautes Luftgewehr, eine Luftpistole, eine Armbrust mit dazugehörigen Jagdbolzen, eine Gaspistole mit den dafür erhältlichen Gas- oder Pfefferpatronen, sowie mein ganzer Stolz, - ein Katana-Samurai-Schwert und ein Tanto, das zugehörige Kurzschwert. Alles Sachen, für die kein Nachweis erbracht werden musste, außer der, mindestens 18 Jahre alt zu sein.
Diese kleine Sammlung hatte ich mir
damals angeschafft, nachdem ich durch puren Zufall eine Sendung gesehen hatte, in der es um Endzeitszenarien ging. Unter anderem wurde in diesem Zusammenhang ein Ehemann und Vater, das heißt, ein ganz normaler Durchschnittsbürger, befragt, was er unternehmen würde, wenn seine Familie nichts mehr zu Essen hätte, also hungerte, - nicht einfach so ein bisschen Kohldampf, weil das Mittagessen schon 4 bis 5 Stunden zurücklag, sondern richtiger Hunger, so wie er sich nach 2 bis 3 Tagen einstellt.
Richtigen Hunger kannte in unserer Gesellschaft doch kaum jemand. Auch wenn die wichtigen und vor allem die unwichtigen Güter des täglichen Lebens absolut nicht gleich oder gerecht oder wie auch immer verteilt waren, - hungern musste niemand. Soweit ließen es die Verantwortlichen in den Regierungssesseln dann doch nicht kommen.
Die Lehre aus der Weimarer Republik saß immer noch. Nimmst du dem Volk alles, hat es nichts mehr zu verlieren und wird unberechenbar. Unberechenbar, - allein das Wort erzeugte gerade in der Gegenwart bei den Mächtigen ein absolutes Unbehagen.  Unberechenbar, - das roch nach Revolte, wenn nicht nach Revolution, jedenfalls nach Verlust der Kontrolle!
Dank allgemeiner Digitalisierung und Vernetzung der Haushalte und fast jedes Einzelnen wussten diese Leute oder deren Handlanger fürs Alltagsgeschäft genug über alles und jeden. Online  konnte sogar der Standort des Trägers identifiziert werden und wer, der  ein Smartphone sein Eigen nannte, schaltete es schon ab? Kaum einer benutzte den wichtigsten Knopf an diesen Dingern, - den Ausschalter!
Es ging nicht an, offline zu sein, - online einfach immer und bei allem. Die schlimmste Sünde mit so einem Teil, war die, abends zu vergessen, das Mobiltelefon an die Ladestation zu hängen um am nächsten Tag feststellen zu müssen, dass nicht mehr genug Saft drauf war, um über den Tag online bleiben zu können. Allein der Gedanke an diese Unterlassung erzeugte offenbar ein derartiges Angstgefühl, das man nur noch mit Zwangsneurose beschreiben konnte.
Ich hatte mich diesem Massenunsinn immer verweigert und fuhr gut damit, nicht ständig meinen Account pflegen zu müssen, nicht süchtig nach dem Gerät zu greifen, wenn 10 Minuten lang mal keine Nachricht einging. Meine Daten schwirrten in keinem globalen Netzwerk herum, um letztendlich nur einem Zweck zu dienen, mein Kaufverhalten und meine Alltagsgewohnheiten zu analysieren, mich anschließend so zu manipulieren, dass ich schön im Gleichtakt funktionierte.
Kein User kam auf den Gedanken, dass er einfach nur funktionierte, wenn er voll im Bewusstsein seiner augenblicklichen Wichtigkeit einmal wieder an seinem Smartphone herumfingerte. Und so eine wohlerzogene Bürgergemeinschaft sollte einfach wegen Hungers unberechenbar werden? Niemals! Oder vielleicht doch einmal?
Jedenfalls konnte auch der Familienvater sich das nur schwer vorstellen aber falls der Fall eintreten sollte, dann, - und er dachte nur ganz kurz nach, dann würde er losgehen und dafür sorgen, dass seine Familie und er genug zu essen bekämen.
`Wie, - losgehen und dafür sorgen´, wollte der Moderator wissen.
`Na, losgehen und was zu beißen besorgen´, war dann die sehr allgemeine und unkonkrete Antwort.
Dem Moderator reichte das aber offensichtlich noch nicht. Ich wusste damals sofort, welche Antwort der haben wollte. Er musste doch was für die Einschaltquote tun. Da musste schon ein bisschen mehr Action her. Also fragte er nach der Reaktion, wenn ihm dies verweigert werden würde, weil jemand, der etwas zu Essen hatte, ihm nichts davon geben wollte.
`Das würde ihn dann auch nicht von seinem Vorhaben abhalten´, stellte der Familienvater voller Überzeugung fest.
`Sie meinen, Sie nehmen es sich mit Gewalt?´, - wollte der Moderator jetzt wissen.
`Wie denn sonst´, lautete die einfache und gleichzeitig ernüchternde Antwort. `Wer mir nicht freiwillig was für meine Familie gibt, dem schlage ich den Schädel ein und fertig!´
Das war´s also! Das hier stellte das Resultat von 5000 Jahren Zivilisation dar. Am Ende stand der Mann mit der Keule!
Diese Feststellung leuchtete mir allerdings sofort ein und von diesem Augenblick der Erkenntnis an, dass  die Schale unserer angeblichen Zivilisation nur so dünn war, wie die eines Apfels, bis zum Entschluss, dem, wenn nur irgend möglich, vorzubeugen, bedurfte es nur eines kleinen Schrittes.
Nach dieser Sendung begann ich, meine kleine Sammlung aufzubauen und bemühte mich, allen Eventualitäten durch die zugelassene Auswahl der Waffen gerecht zu werden.
Ich wollte niemand umbringen, auf keinen Fall, das heißt, wenn ich nicht dazu gezwungen sein würde, also so, wie der Familienvater in dem Bericht.
Im Vordergrund stand für mich die Abschreckung. Es musste Schmerzen bereiten, so dass der Angreifer davon abließ, sein Vorhaben fortzusetzen. Für den Verteidigungsfall hieß das Warnung durch Prellung oder Gas und anschließend Verletzung durch Spitzgeschosse oder Schnitte, wenn auf Warnungen absolut keiner hören wollte.
Für beides hatte ich vorgesorgt, allerdings nicht in ausreichender Zahl, sondern lediglich für Versuche und Übungen. Schließlich kosteten ausgerechnet die wirksamsten Artikel das meiste Geld. Wirksamkeit ließ man sich gut bezahlen.
Am späten Nachmittag saßen wir wieder gespannt am Fernseher, wo eine Live-Schaltung zum aktuellen Verbreitungsstand der Seuche die nächste jagte, als jemand am Eingangstor klingelte.
Ein Blick durchs Fenster sagte mir gleich, dass es eine Spedition doch noch geschafft hatte, sich durch den ganzen Trubel zu kämpfen. Ein sichtlich verunsicherter Mann stand vor unserem Holzzaun am der Tür. Geradezu ängstlich blickte er sich immer wieder zur Straße um, wo immer noch Fahrzeuge anstanden. Er hielt ein kleines Päckchen in der Hand, - meine Munitionssendung!
Erfreut, dass das trotz allem noch geklappt hatte, sprang ich auf und ging zur Tür.
Als er mich sah, rief er: „Herr Neubert? Ein Päckchen für Sie. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber bleiben Sie hinter Ihrem Stahlzaun stehen. Ich werfe Ihnen das Päckchen zu. Sie quittieren und fertig. Alles andere ist mir zu gefährlich. Man weiß ja nicht, wer angesteckt ist oder nicht. Laufend andere Kunden, verstehen Sie? Da bekommt man echt einen Heidenschiss sich das Zeug selbst zu holen. Ich mach´ das sowieso nicht mehr lange hier. Mein Leben ist mir mehr wert, als dieser blöde Job.“
„Kann ich voll verstehen“, gab ich ihm Recht und trat an den Stahlzaun.
„Sie haben sich ja auch ganz schön eingeigelt“, rief er mir nach einem Blick auf mein Tageswerk zu. „Fangen Sie!“
Schon flog mein Päckchen über den Zaun zu mir. Beim Fangen spürte ich dessen Gewicht angesichts der geringen Größe. Stahlkerngeschosse und Jagdspitzen für die Armbrustbolzen, - die wiegen was weg, dachte ich noch, während ich nach dem elektronischen Unterschriftgerät angelte, das er mir  mit einem Besenstiel zum Stahlzaun geschoben hatte.
Ohne groß nachzudenken, schnappte ich mir den Griffel und bestätigte den Empfang der Sendung.
„Sie bluten da aus der Nase!“ rief ich dem Boten zu.
Er holte sich ein bereits mit Blutflecken betupftes Zellstofftaschentuch aus der Hosentasche und führte es an die Nase.
„Geht schon seit heute Morgen so“, sagte er so dahin während er seine Nase und die Oberlippe säuberte. „Kenne ich sonst gar nicht bei mir“, fügte er hinzu.
Im gleichen Moment bemerkte ich, wie sich in einem seiner Augenwinkel eine rote Träne löste. Mir wurde ganz komisch. Instinktiv blickte ich auf meine Hand, die noch eben den Schreibgriffel für das Unterschrift-Display  gehalten hatte und hatte das Gefühl, als würde mir diese gleich abfallen. Hier stimmte etwas nicht. Mit einem Schlag wollte ich mit diesem Menschen nichts mehr zu tun haben. In diesem Moment liebte ich meinen Stahlzaun, der mir den Mann auf Distanz gehalten hatte. Nichts wie weg hier! - dachte ich noch.
„Hoffentlich nichts Ernstes“, sagte ich so dahin, mehr um mich selbst zu beruhigen. „Sie sollten Feierabend machen und wenn möglich, schnell einen Arzt aufsuchen.“
„Mach´ ich“, rief er zurück. „Hier läuft bald sowieso nichts mehr. Alle stornieren und keiner will mehr beliefern wegen der möglichen Ansteckung. Sie haben Recht. Für heute sind Sie
einfach mein letzter Kunde und fertig. Ich mache, dass ich nach Hause komme.“
Mit diesen Worten angelte er nach seinem Unterschriftgerät, verwahrte es in einer Gürteltasche, als sich die rote Träne von seiner Wange löste und auf seinen Ärmel tropfte. Irritiert blickte er auf den roten Tropfen auf seinem Arm, nahm das Zellstofftaschentuch und drückte es gegen den Augenwinkel. Sofort bildete sich ein neuer roter Fleck auf dem weißen Grund. Es schien so, als käme in diesem Augenblick eine dunkle Ahnung in ihm hoch. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Schnell raffte er seine Utensilien zusammen.
„Tschüss und alles Gute!“- rief er mir hastig zu, sprang in seinen Lieferwagen, lenkte diesen auf den Fußweg und fuhr auf diesem wie ein Irrsinniger auf die relativ leere Straße hinter dem Einkaufscenter in Richtung Kirchberg.
Einen Moment lang blickte ich ihm hinterher und sah anschließend wieder auf meine rechte Hand, die unterschrieben hatte und auf die linke Hand, mit der ich das Päckchen hielt. Ich hatte  dabei ein derart ungutes Gefühl, dass ich spontan das Päckchen fallenließ, zum Wasserhahn an der Stirnseite des Hauses rannte und mir dort augenblicklich die Hände abspülte. Dann holte ich mir ein Paar Latexhandschuhe, die meine Frau immer für die Gartenarbeit benutzte, zog diese über und öffnete das Päckchen. Wie vermutet fand ich mehrere Schachteln der bestellten Munition darin. Auch diese schüttete ich aus den Verpackungen und füllte sie in andere Behältnisse. Die Verpackungsreste warf ich dann zusammen mit den Latexhandschuhen in die Abfalltonne.
Wenn es passiert ist, dann jetzt, sagte ich mir und mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken an eine Ansteckung.
Was hatte mich auch geritten, erst den Griffel und dann auch noch das Päckchen anzufassen, die beide doch durch so viele Hände gegangen waren. Gedankenlosigkeit ist die Mutter jeden Unglücks, ging es mir durch den Kopf und ich schwor mir, zukünftig bedeutend vorsichtiger zu sein.
In diesem Moment rief mich meine Frau zurück ins Haus. Etwas musste passiert sein. Sie klang sehr aufgeregt.
Im Fernsehen lief erneut eine Livesendung  über die augenblicklichen Zustände in unmittelbarer Umgebung. Manuela hatte den Regionalsender eingeschaltet. Auf dem Bildschirm war eine junge Frau zu sehen, die vor einem Filmhintergrund zu den Zuständen in Leipzig und Umgebung berichtete. Offensichtlich war auch hier, ausgehend vom Flughafen und vom Hauptbahnhof, die Lage außer Kontrolle geraten. Im Stadion hatte man ein Aufnahmelager für Quarantäne-Fälle eingerichtet, denn inzwischen wusste man von Auffälligkeiten bei den Infizierten, die schon unmittelbar nach der Ansteckung auftraten.
Alle infizierten Personen klagten über plötzliches Nasenbluten und wenig später blutige Tränen!
Schlagartig wurde mir bewusst, dass der Bote infiziert gewesen sein musste und er hatte es sicherlich selbst auch gewusst, sonst wäre er nicht wie ein Verrückter mit dem Lieferwagen davongefahren.
„Manuela“, sagte ich leise.
„Sei still“, wehrte sie ab. „Das ist wichtig! Wir müssen alles über die neuesten Ergebnisse wissen. Wozu haben wir uns sonst vorbereitet. Dann hätten wir es auch bleiben lassen können.“
„Manuela“, beharrte ich erneut darauf, gehört zu werden. „Der Bote vorhin war infiziert!“
Das schlug ein wie eine Bombe. Instinktiv setzte sie sich ein Stück von mir weg. „Was erzählst Du da?“ fragte sie ungläubig. „Woher willst Du das wissen. Die berichten doch gerade über erste Anzeichen in Leipzig. Das sind bis zu uns 40 Kilometer. Da müsste der Erreger fliegen können, um so schnell hier zu sein.“
„Vielleicht kann er das“, gab ich zu bedenken. „Das was die da gerade über die ersten äußeren Anzeichen erzählt haben, - der Bote hatte genau diese Symptome, - Nasenbluten und so.“
„Um Gottes willen!“,  stieß sie hervor. „Denkst Du, er konnte die Krankheit auf dich übertragen?“
„Weiß nicht“, antwortete ich und die Angst rieselte mir durch den ganzen Körper. Es war so, als würde jede Zelle in meinem Körper Alarm schreien.
„Er stand bei der Übergabe keinen Meter von mir entfernt, aber ich habe den Schreibgriffel angefasst und auch das Päckchen. Es war nur ganz kurz. Ich denke, dass ich nicht das Gesicht berührt habe. Natürlich habe ich mich gleich gewaschen aber wer weiß schon, wodurch und wie die Krankheit übertragen wird.“
„Mach´ Dich nicht verrückt“, versuchte sie mich zu beruhigen. „Die Inkubationszeit beträgt drei Tage! Vorher wissen wir nichts Genaues. Wenn Du morgen Nasenbluten hast, ist sowieso alles vorbei.“ Sie rückte wieder zu mir heran und berührte meine Hand.
„Sei vorsichtig!“ wehrte ich sie ab. „Du musst Dich nicht in Gefahr bringen und auch noch anstecken.“
„Wenn der Virus so ansteckend ist, wie alle Fachleute behaupten, dann hast Du ihn mit ins Haus gebracht.“
Allmählich wich die aufgekommene Panik in mir einer für mich selbst interessanten Ernüchterung.
„Dann kann ich heute Abend ja noch meine Arbeit beenden, die am Tage niemand sehen sollte“; sagte so vor mich hin. „Wenn der Bote wirklich krank gewesen ist, dann ist die Seuche bei uns in Leibling angekommen. Auf diesen Fall haben wir uns lange vorbereitet und das ziehen wir jetzt so auch durch. Ansteckung hin, Ansteckung her.“
„Genau“, erwiderte sie. „Wir halten wie immer zusammen und stehen das durch!“
Mit diesen Worten stand sie auf, hakte mich unter. Gemeinsam begaben wir uns nach draußen in Richtung Gartenhaus, um die restlichen Gegenstände zu holen, die unser Grundstück vollends zur Festung machen sollten.
In Kunststofffässern lagerte seit langem Rollen von Rasierklingen-Draht, der schnell an der Spitze des Stahlzaunes und an den  Holzpfosten der restlichen Grundstückseinfriedung angebracht werden konnte.
Für die untere Etage lagen Fenstergitter bereit, die wir nur noch einhängen und verriegeln mussten. Die gesperrten Rollläden hatten bisher einen ausreichenden Schutz gegen Einbrecher dargestellt aber für das, was nun kommen würde, reichte das nicht mehr aus. - Doppelt hält besser - , war schon immer einer meiner Wahlsprüche gewesen.
Auf die Eingangstüren müssten wir uns eigentlich verlassen können. Die hatten damals beim Kauf eine ordentliche Stange Geld gekostet, so mit Eintritt-Sicherung und schlagfestem Glas. Auf die  Schlösser hatte ich besonderen Wert gelegt. In ihrer Kompliziertheit gab es am Markt so gut wie nichts Vergleichbares. Jedenfalls hatte das der Meister gesagt, der sie uns verkaufte. Ich sollte den Schlüssel nicht verlieren, denn das würde dann teuer werden. Bei der Tür und dem Schloss bedeutete das richtig viel Arbeit für denjenigen, der da rein wollte und er hatte offensichtlich keine rechte Lust dazu, sich mit dem Ergebnis seiner Arbeit erneut abzuquälen.
Stolz über die geleistete Arbeit besahen wir uns das Ergebnis. Das alles sah sehr martialisch aus, - eine Festung eben. Etwas Ähnliches kannten wir bisher lediglich aus Johannesburg in Südafrika.
Im Urlaub waren wir einmal auf dem Weg zum Flughafen durch diese Stadt gefahren. Alle größeren Häuser hatten sich verbarrikadiert, so, als befände man sich mitten im Krieg. Schön sah der Rasierklingen-Draht an den Zäunen dort auch nicht aus, sollte er ja auch nicht. Er sollte abschrecken, - genau wie jetzt bei uns.
Nach dem Essen versuchten wir zu schlafen, - noch immer müde von der vorangegangenen Nacht und den Ereignissen des Tages. Manuela lag neben mir und nach wenigen Minuten hörte ich sie tief atmen. Wie ich sie um diese Fähigkeit, schnell einzuschlafen, beneidete.
Bei mir dauerte das immer lange. Ich grübelte eben zu viel.
Irgendwann sackte auch ich in einen traumlosen Schlaf und merkte nichts mehr.