Kapitel 5 - Besuch
Die Einkaufswagen
ließen wir stehen. Sogar die Rucksäcke warfen wir ab und rannten so
schnell wir konnten zurück zum Haus. Ein Schuss, - also ein
Eindringling am oder sogar im Haus, ging es mir durch den Kopf.
Jetzt bedauerte ich es, keine Schusswaffe dabei zu haben.
Wenigstens die Luftdruckpistole wäre nützlich gewesen. Die sah so
schön gewaltig aus und wenn man damit die richtige Munition
verschoss, ergab das höllisch schmerzende Treffer, die sogar durch
die Kleidung dringen konnten. Umbringen konnte man damit niemanden.
Jedenfalls kannte ich keine Beispiele dafür und ich selbst hatte ja
auch nur an Attrappen geübt, um die Wirkung heraus zu
finden.
Als wir um die Ecke zu unserer Straße bogen, sahen wir zunächst
niemanden. Das Grundstück sah so aus, wie wir es verlassen hatten.
Im Zwischenraum von Tor und Drahtsperre befand sich keiner. Der
Eingang der Drahtsperre sah unbeschädigt aus. Die Kette lag um den
Rahmen und das Vorhängeschloss machte einen unversehrten Eindruck.
Manuela stand im Obergeschoss am Dachfenster und deutete auf den
Hügel, der sich gegenüber unseres Hauses befand. Dort saß mein
Bruder.
Er hockte im Gras und starrte sichtlich irritiert nach oben zu
meiner Frau. Langsam ging ich über die Straße zu ihm hin, während
Susanne am Tor stehen blieb.
„Was suchst Du hier“, wollte ich wissen.
Er stand auf und kam langsam auf mich zu.
„Na das ist ja eine Begrüßung!“ erwiderte er. „Nach all´dem Chaos
überall hätte ich ein bisschen mehr Freude dafür erwartet,
dass noch einer aus der Familie am Leben ist. Stattdessen bedroht
mich Deine Frau mit der Waffe und schießt auch noch. Kaum zu
glauben.“
Ich winkte ab. „Du lebst ja noch. Sie hat in die Luft geschossen
und auch das nur deshalb, weil ich von ihr verlangt habe, zu
melden, wenn irgendjemand über den Zaun steigt. Ich denke mal, Du
hast Dich nicht gemeldet und bist einfach rüber geklettert. Da hat
sie mir eben das verabredete Zeichen gegeben. Normaler Weise
klingelt man, bevor man über den Zaun steigt.“
„Eigentlich schon, aber dann sah ich das gelbe Zeichen und dachte,
die hat es also auch erwischt und da brauchst du nicht zu
klingeln.“
„Interessant“,
entgegnete ich. „Wenn keiner mehr da ist, steige ich kurz mal bei
meinem Bruder ein und sehe nach, was so zu holen ist. Habe ich Dich
da richtig verstanden?“
Andreas vermied es, mich anzusehen. „So hart würde ich das nicht
ausdrücken“, sagte er beschwichtigend. „Du gehst doch auch
sicherlich in die Nachbarhäuser, um nachzusehen, was los
ist.“
„Dafür war bisher noch keine Zeit“, verneinte ich. „Und wenn, dann um den Toten ein Grab im Garten zu geben. Soviel Anstand muss wenigstens noch sein. Ich nehme mal an, so was in der Art hattest Du auch vor.“
„Genau“, beeilte er
sich, mir beizupflichten. „War ja umsonst, - die Angst, Euch hätte
es auch erwischt. Hätte ja durchaus sein können. Schließlich ist
die ganze Stadt abgekratzt,- einfach so, innerhalb weniger
Tage. Und nun sind wir übrig und müssen zusehen, wie wir
klarkommen.“
„Müssen wir wohl“, bemerkte ich nachdenklich. „Also grüß´ Dich
Bruder“, sagte ich, ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand und er
schlug ein.
„Grüß Dich“, erwiderte er und blickte scheu lächelnd nach oben zum
Dachfenster, wo Manuela immer noch zu uns herunter blickte. „Das
nächste Mal schießt Du nicht auf Deinen Schwager“, rief er
hoch.
„Das nächste Mal steigst Du nicht über den Zaun“, warnte ich ihn.
„Du weißt ja nun, dass wir noch da sind.“
„Bist vorsichtig, was?“ bemerkte er. „Woher hast Du überhaupt die
Kanone. Ist doch illegal!“
Ich vermied es, ihn darüber aufzuklären, dass es sich lediglich um
eine Gaspistole handelte. Irgendwie gebot mir ein innerer Instinkt,
dieses Detail für mich zu behalten. „Wen interessiert denn das
jetzt noch“, sagte ich deshalb.“
„Stimmt auch wieder“, bemerkte er. „Ist ja keiner mehr da, der da
was zu beanstanden haben könnte. Trotzdem toll, - mein Bruder hat
eine Kanone! Hätte ich mir eigentlich denken können. Du hast ja
immer vorgesorgt. Nun sind Deine Prophezeiungen eingetreten. Ich
denke mal, wenn Du alles andere auch so durchgezogen hast, wie das
mit der Kanone, seid ihr fein raus, was?“
„Weiß ich nicht, ob wir fein raus sind“, gab ich zu bedenken und
hütete mich wieder instinktiv, zu viel über unsere augenblickliche
Lage preiszugeben. Wieder einmal traute ich nicht einmal meinem
Bruder über den Weg. Manuela meinte immer wieder, dass sich das bei
mir schon zu einer Manie auswachsen würde. Ich weiß nicht, ob man
das als Manie bezeichnete, wenn man niemandem traute, weil in
dieser Welt, ob nun voller Menschen oder fast entleert, wie jetzt,
jeder nur etwas wollte und man schon lange suchen musste, bis man
jemanden fand, der bereit war, etwas zu geben.
Eigentlich hatte ich die Suche nach solch´ seltenen Exemplaren
schon längst aufgegeben und mich damit abgefunden, dass die Welt so
ist, wie sie nun mal war, - materiell und mehr nicht. In welchem
Umfang das zur Verarmung unseres gesamten geistigen und
menschlichen Umfeldes geführt hatte, machte sich im Prinzip niemand
so richtig bewusst und ich hatte diese Verarmung mehr und mehr
ausgeblendet. Schließlich machte es keinen Sinn, sich täglich
darüber aufzuregen, wer sich nun schon wieder einmal bescheuert
benommen hatte. Davon bekam man Magenleiden und die führten zu
Nahrungsstörungen und für jemanden, der gern aß, war das völlig
inakzeptabel. Also bewahrte ich meinen Appetit, in dem ich nicht
mehr hinsah, was nicht hieß, dass ich nun der Umgebung gegenüber
blind geworden wäre. Ich betrachtete die Welt einfach durch einen
Tunnel. Was sich außerhalb des von mir festgelegten Tunnels befand,
existierte schlicht nicht mehr. Genau dieses Verhalten wendete ich
im Prinzip auch im Verhältnis zu meiner oder Manuelas
Verwandtschaft an. Außer an Geburtstagen und zu Weihnachten hörten
sie von mir nichts und ich nicht von ihnen und das war gut
so.
Jetzt stand da Andreas vor unserem Haus. Jetzt, nicht früher, als
ich ihn vielleicht einmal gebraucht hätte, sondern heute, in dieser
allgemein belämmerten Lage. Was wollte er? Ich dachte schon wieder
in meinen gewohnten Kategorien und machte mir deshalb Vorwürfe. So
sollte man nicht an die Sache herangehen. Das brachte nichts. Da
war der Keim des Ärgernisses schon gesät, sagte ich mir und bemühte
mich wirklich, entsprechend Manuelas Herangehensweise zu denken,
auch wenn mir dies wirklich schwer fiel. Also, - vielleicht wollte
er gar nichts von uns, sondern brauchte in dieser elenden
Gesamtsituation einfach Hilfe.
„ Wie geht es Deiner Familie?“ wollte ich deshalb wissen und nahm
mir vor, jetzt ein echt guter und hilfsbereiter Mensch zu sein.
Eigentlich erwartete ich nun entweder eine freudige positive oder
eine bedrückt negative Antwort, also irgendwas mit Gefühl oder so
ähnlich. Stattdessen kam die Antwort sachlich nüchtern und ohne
all´ diesen Kram, den ich eigentlich für angebracht gehalten
hatte.
„ Ingrid ist tot“,
sagte er und es kam mir vor, als ob er mir gerade mitgeteilt hatte,
dass er seinen Schlüssel verloren hatte und nun einen Schlosser
benötigte.
„Das tut mir leid“ sagte ich trotzdem.
„Muss es nicht“,
entgegnete er. „ Sie war selbst schuld! Wollte auf keinen hören. -
Nein, ich nehme das Zeug nicht! - Nein, das Zeug ist schädlich! -
Sagen doch alle! - Mit mir nicht! - so ging das laufend. Da hat man
nun eine Ärztin in der eigenen Familie und selbst Anke konnte reden
wie sie wollte. Stur wie ein Ziegenbock! Und nun hat sie den Dreck!
Oder besser gesagt, ich habe ihn, denn ich muss ja jetzt allein mit
allem fertig werden. Na ja, wenigstens ging es schnell.“
„Klingt so, als würde es dir nicht viel ausmachen, Deine Frau
verloren zu haben“, fragte ich vorwurfsvoll.
„Was heißt, nichts ausmachen. So wie früher war das ohnehin nicht mehr. Nach so vielen Jahren ist das eigentlich ganz normal. Laufend hatte sie irgend ein Wehwehchen. Sie selbst wollte ja nie, wenn ich mal Lust darauf hatte. Du weißt schon. Aber allein sein, das ist auch nicht das Wahre! Da hängt man herum und säuft nur. Die Kinder sind da auch keine Hilfe.“
„Wie geht es denen?“,
versuchte ich abzulenken.
„Frank und Thomas leben dank Ankes Hilfe. Sie hat uns alle mit
Tamiflu versorgt, so wie sie uns damals auch die Impfung verpasst
hat. Was Anke derzeit macht, ist mir ehrlich gesagt etwas
schleierhaft. Die hat nach der Auflösung des Krankenhauses im
Schloss zu tun. Wie es aussieht, haben da alle überlebt, die vorher
auch schon drin gewesen sind. Jetzt kommt da keiner mehr rein! Die
haben ihren eigenen Wachschutz. Ganz komische Typen, sage ich Dir.
Die machen da so einen auf Esoterik-Sekte oder so was. Jedenfalls
tragen die alle weiße Umhänge so wie beim Ku-Klux-Clan. Rennen mit
Masken herum. Komische Sache. Und Anke fummelt da mit herum.
Die Jungs leben bei mir in der Tankstelle und passen auf. Rennt ja
allerhand Kroppzeug herum, vor dem man sich schützen muss. Machst
Du ja auch, wie ich sehe.“ Er deutete auf die innere Absperrung mit
dem Rasierklingenzaun.
„Vorsicht ist besser als Nachsicht“, bestätigte ich.
„Du und Deine Sprüche“, bemerkte er spöttisch. „Waren aber gar
nicht so verkehrt, wenn ich es im Nachhinein betrachte.“
„Meinst Du?“ Ich hatte immer noch kein gutes Gefühl.
„Meine ich“, sagte er und blickte auf Susanne. „Jetzt habe ich mal
einen Spruch für Dich. Zwei Weiber sind besser als eins und
noch besser als keins!“
Susanne schien bei dieser Bemerkung etwas verlegen zu werden, was
ich nicht verstehen konnte, denn unsere kleine Gemeinschaft war ja
eine reine Zweckgemeinschaft und mehr nicht. Wir helfen uns in der
Not und das ohne Vorbedingungen, - eigentlich das, was ich schon
früher immer gesucht hatte.
„Ich weiß nicht, was Du davon hältst“ erwiderte ich deshalb. „Ist
mir auch eigentlich egal, - aber das ist Susanne, unsere Nachbarin.
Sie hat ihre gesamte Familie verloren. Wir helfen uns. Das ist
alles.“
„So, so“, bemerkte er ironisch. „Ihr helft euch. Mir hilft nämlich
keiner. So ist das eben. Du warst schon immer ein Glückspilz,
selbst jetzt.“
„Das hat mit Glück nichts zu tun“, wehrte ich ab. „Das hat sich
ganz einfach so ergeben.“
„Stimmt ja, das hat sich bei Dir immer ganz einfach so ergeben.
Dein Platz lag schon immer auf der Sonnenseite. Mein Platz ist ja
der in der Soße.“
Jetzt fing er damit wieder an. Ich wusste in diesem Moment genau,
worauf er anspielte. Während einer saublöden Diskussion zu einem
dieser so sinnlosen Familientreffen, bei denen über Politik, Autos
und Enkelkinder geredet wird, kamen wir, oder besser gesagt er auf
die Sinnlosigkeit seines Lebens und das der Anderen zu
sprechen.
- Also ehrlich, ist doch alles Scheiße! - hieß es dann. - Da kannst
du ackern wie blöde und kommst trotzdem zu nichts. -
Ich versuchte das Ganze zu schlichten, indem ich feststellte, dass
er doch zufrieden sein müsse, denn er besaß drei gesunde Kinder,
eine gesicherte Existenz und eine ganz gute Gesundheit. Viele
anderen Menschen müssten mit weniger zurechtkommen.
- Und du meinst, das genügt?- wollte er dann von mir wissen und ich
wusste, dass ich besser meinen Mund hätte halten sollen. - Du hast
ja auch alles! Du hast ja immer Glück gehabt!- polterte er los und
schien nicht mehr zu bremsen. - Und ich? Nur Scheiße! Immer nur
Scheiße! Erst die Pleite mit dem Laden, dann die Schulden und die
Inkasso-Gangster und nun auch noch dieser Scheiß-Job. Da kannst du
gar nicht mitreden. Du hast ja immer Glück gehabt! -
Das war´s, was ich
gebraucht hatte. Alles, was wir uns mühsam aufgebaut hatten, galt
in seinen Augen als Glückssache. Als Manuela mit mir und dem Jungen
allein insgesamt 80 Tonnen Steine abgeladen hatten, war dies das
reine Glücksgefühl. Als Manuela mit mir mutterseelenallein im
strömenden Regen 2000 Schwerbetonsteine auf unserer Baustelle auf
das Erdgeschoss wuchtete, wussten wir beide im gleichen Moment, -
so muss das wahre Glück aussehen! Als ich dann meinen relativ
sicheren Job hier zu Hause aufgab, weil ich deutlich vor mir sah,
dass wir so niemals vorankommen würden und ich dann anschließend
für ein Jahr Frau und Kind über die Woche allein ließ, um mich in
der Ferne weiterbilden zu lassen, was sich dann anschließend auch
voll für uns ausgezahlt hatte, taten wir das aus reinem Glück
heraus. Jetzt reichte es! Ich konnte mir diesen Blödsinn nicht
länger anhören und da konnte Manuela unter dem Tisch gegen meinen
Fuß trampeln, so oft sie wollte, mein emotionaler
Druckbehälter war voll und benötigte dringend Entlastung. Also
brachte ich ganz diplomatisch das Gleichnis von der Suppe,
das ich mir gerade hatte einfallen lassen.
Demnach verglich ich die Gesellschaft mit einem großen Kessel, in
dem über einem Feuer Suppe kochte. Oben rührten wenige Hände mit
einem großen Löffel den ganzen Brei. Das waren die oberen
Zehntausend. Darunter kam lange Zeit nichts, - dann der Schaum kurz
über der Suppe und dann unten die Suppe selbst.
Meiner Meinung nach
bestand für unsereins ohnehin nur die Chance, Schaum zu werden,
wenn man nicht zu denen gehörte, die da oben schon immer gerührt
hatten. Diese Chance konnten nur die ergreifen, die ihr Leben nicht
vermasselten und er hatte seines vermasselt, - Punkt.
Danach folgte ein längerer Moment der angespannten Ruhe. Manuela
sagte nichts, trampelte auch nicht mehr gegen meine Füße, um mich
davor zu bewahren, auszusprechen, was ich nun heraus gelassen
hatte. Sie hasste solche Situationen, ich auch, aber manchmal half
eben nur die ungeschminkte Wahrheit, nur dass ich meinen Vergleich
vielleicht etwas zu ungeschminkt ausgedrückt
hatte.
Mein Bruder pumpte wie ein Maikäfer kurz vor dem Abheben. Seine Frau blickte ängstlich zu ihm und vorwurfsvoll zu mir, so
nach dem Motto – Wie
kannst du nur! - Seine Jungs kicherten. Ihnen schien der Vergleich
zu gefallen.
- Willst du mir damit sagen, dass ich in deinen Augen nichts als
Soße darstelle -, wollte er dann schnaufend von mir wissen. Und ich
antwortete kurz und knapp mit – Ja - und einem anschließenden –
Komm´ wir gehen jetzt! - zu Manuela.
Das hatte gesessen und ich wusste, dass er mir diesen Vergleich nie
verzeihen würde. Bis heute nicht.
„Lassen wir das“, sagte ich deshalb. „Du kannst mir helfen. Die
Frauen bereiten das Mittagessen zu und wir holen die Sachen aus dem
Center, die Susanne und ich wegen des Warnschusses stehen lassen
haben. Da wir im Center ausreichend Kartoffeln gefunden haben, gibt
es heute Bratkartoffeln. Was meinst Du dazu?“
„Klingt gut“, meinte er.
Susanne sagte nichts dazu. Ihr schien es angenehm zu sein, sich
schnellstens ins Haus zu verdrücken. Ihr behagte die ganze
Unterhaltung ebenso wenig wie mir. Auf diese Weise schien die
spürbare Spannung erst einmal aus dem Wege geschafft.
Auf dem Weg zum Center,
den wir nun ohne jede Vorsicht nehmen konnten, da ich ja nun
wusste, dass uns dort keine Überraschungen erwarteten, erfuhr ich
von Andreas mehr über die Lage am anderen Ende der
Stadt.
Er wohnte seit dem Tod seiner Frau in der Tankstelle, in der sie
die letzten Jahre gearbeitet hatte und bediente sich seitdem von
den dort vorhandenen Lebensmitteln und Spirituosen. Seine Jungs
suchten tagsüber die Stadt nach Verwertbarem ab, ohne dabei auf
nennenswerte Konkurrenz gestoßen zu sein. Die Kontakte zu anderen
Gruppen von Überlebenden verliefen bisher friedlich. Im Prinzip
hatten diese Gruppen die Stadt unter sich aufgeteilt. Wie Susanne
schon spöttisch gesagt hatte, - jeder besaß sein Einkaufscenter.
Solange dort genügend Vorräte lagerten, bestand kein
Spannungspotential für die wenigen Menschen, die sich das alles
teilen mussten. Im Norden der Stadt lebten zwei Gruppen von
je ca. 20 Leuten. Im Osten, wo auch mein Bruder lebte, eine
Gruppe mit etwa 5 – 10 Menschen. Wie viele Überlebende im
Schloss weilten, wusste niemand, offensichtlich existierte hier die
größte Gruppe und wie es aussah, war dies der einzige Ort mit einer
straffen Organisation im Hintergrund. Alle Anderen waren nichts
anderes als Horden wie zu Urzeiten des Menschen. Jäger und Sammler,
die bisher lediglich sammelten. Interessant wurde es erst dann,
wenn diese Horden alles Gesammelte verzehrt hatten und auf die Jagd
gehen würden.
Vom Süden, also unserer Gegend, hatte niemand ausreichend
Informationen über die Lage, bis auf das Wissen, dass hier
wahrscheinlich die größten Vorräte anzutreffen waren.
Mein Bruder stand
offenbar in lockerem Kontakt zu seiner lokalen Gruppe und über
seine Tochter zu den Leuten im Schloss. Solange es vor Ort
ausreichend Nahrung gab, scheuten die Menschen den Weg in unsere
Gegend. Das Problem bestand im Transport. Durch Unfälle während der
allgemeinen Flucht aus allen Richtungen der Stadt ins Zentrum
hinein und wieder hinaus in die Trabantensiedlungen, in denen die
meisten Menschen gewohnt hatten, schien das Innere der Stadt
ziemlich verstopft zu sein. Die aus dem Norden hatten da überhaupt
keine Chance, da es nur eine Brücke über die Saale gab und diese
Brücke war ebenfalls verstopft. Die Fußgängerbrücke eignete sich
nicht für Fahrzeuge. Also blieb jede Gruppe unter sich.
Seine Tankstelle hatte er verbarrikadiert und wie es aussah,
schafften es die drei Männer dort, sich die anderen aus der näheren
Umgebung vom Leibe zu halten. Wer was wollte, musste zahlen!
- Gold oder Weiber! - hatte mein Bruder triumphierend von sich
gegeben. Das Geschäft schien aber bislang noch nicht so richtig
angelaufen zu sein, da die benachbarten Lager noch voll waren und
seine kleine Tankstelle niemand brauchte. Also war es nichts mit
Gold oder Weibern und es blieb nur der Suff!
Mir schauderte allein bei dem Gedanken, - vielleicht Hundert
Überlebende von ehemals über 20.000 Einwohnern! Eine dunkle Stadt
mit dunklen Wohnungen, in denen sie alle lagen, ohne dass einem von
ihnen die Ehre eines Grabes zuteil wurde. Begraben im eigenen Saft,
- wie mein Bruder sich krass aber wirklichkeitsgetreu ausdrückte.
Ein Single-Schicksal nun für alle.
In diesem Augenblick musste ich an die Nachbarn in unserer Siedlung
denken und nahm mir fest vor, wenigsten ihnen diese Ehre, in der
Erde zu ruhen, zu gewähren.
Als wir zum Haus zurückgekehrt waren, ließen wir die beiden
Einkaufswagen und die Rucksäcke am Kellerabgang des Hauses stehen
und gingen hinein. Ich hatte absolut keine Lust, meinem Bruder
unsere Kellerräume zu zeigen. Er kannte sie ja von früher aber
nicht im gegenwärtigen Zustand als Vorratslager, Speicher und
Energiestation. Diese Details wollte ich lieber für mich behalten,
auch wenn es sich um meinen Bruder handelte. Dabei musste ich
eigenartiger Weise immer an die Bibel denken. - … und Kain schlug
Abel tot, ging in ein anderes Land und heiratete. - Der Satz gab
mir zu denken. Gleichzeitig dachte ich aber auch, Mann, das ist
dein Bruder und dann solche Gedanken! Warum sagte er auch so einen
Scheiß wie - Gold oder Weiber - . Auf welch´ geistigem Standard
lebte er im Augenblick? Wo befand sich der Rest von dem Bruder, für
den ich mich mal als Kind geprügelt hatte. Dafür hatte ich nie Dank
eingefordert. Ich war der Ältere und da musste ich den Kleinen
verteidigen. Eine Zeit lang kamen wir auch noch gut miteinander
aus,- selbst als er dann erwachsen geworden war und
heiratete. Danach veränderte er sich. Manuela und ich fragten uns
oft, ob seine Frau dahinter steckte oder ob bei ihm nun der
schlechtere Teil unserer gemeinsamen genetischen Veranlagung
durchbrach. Während ich beispielsweise meinen Jähzorn in den
Griff bekam, schaffte er das nie. Manuela und ich legten im Laufe
unserer Ehe die verbreitetsten gesellschaftlichen Krankheiten ab,
nein – nicht Bluthochdruck oder Übergewicht, sondern Gier und
Wichtigkeit! Andreas und seine Frau Ingrid gönnten anderen hingegen
nicht den Dreck unter dem Fingernagel! Dabei kam dann ständig
dieses `Du hast ja immer Glück´ – Gequatsche, das uns beide nervte.
Während er gern immer einen auf Familienzusammenführung machte,
distanzierten wir uns zunehmend von den beiden. Uns war egal, ob
sie das merkten oder ob sie das störte. Wir hatten dadurch unsere
Ruhe und darauf kam es an.
Ich öffnete die Haustür und wir traten ein. Er kannte ja schon
alles. Trotzdem fiel mir auf, wie er jede Einzelheit argwöhnisch
begutachtete.
Im Flur roch es bereits nach den Bratkartoffeln. Susanne und
Manuela warteten bereits in der Küche auf uns. Auf dem Tisch
standen Schüsseln mit Blattsalat, Gläser mit Apfelsaftschorle und
saure Gurken. In den Pfannen brutzelten die Kartoffeln und die
Spiegeleier.
„Euch geht es ja richtig gut“, stellte Andreas fest. „Sieht aus wie
früher, riecht wie früher, - ist wie früher! Man könnte meinen, es
sei nichts passiert. Der Weltuntergang hat ohne Euch
statt-gefunden.“
Manuela drehte sich kurz um und meinte: „Von wegen ohne uns. Wir
saßen voll mitten drin. Ohne Susanne würden wir beide
wahrscheinlich gar nicht mehr leben. Sie hat uns in der
Infektionszeit geholfen. Durch sie bekamen wir das Tamiflu.
Zusammen mit der Impfung vor einigen Jahren gelang es uns, den
Ausbruch der Krankheit im Griff zu behalten.“
Andreas sah verwundert zu Susanne rüber, die sich an die Stirnseite
des Tisches gesetzt hatte. „Wie sind Sie an das Tamiflu gekommen?“-
wollte er wissen.
„Ich bin Ärztin“, antwortete sie kurz.
„Ach ja, Ärztin?“-stellte er fest. „Das ist ja richtig praktisch in
der jetzigen Zeit. Kaum zu glauben. Mein Bruder hat es wieder
geschafft. Eine Ärztin zum privaten Gebrauch, ein funktionierender
Haushalt mitten in der größten Katastrophe aller Zeiten, Strom,
Wasser, - einfach alles. Man könnte direkt neidisch
werden.“
Manuela schien diese Bemerkung sichtlich in den falschen Hals
bekommen zu haben. „Wart Ihr das nicht schon immer?“ bemerkte sie
bissiger, als beabsichtigt.
Ich sah sie an und schüttelte leicht den Kopf. Seit vielen Jahren
kamen die beiden nicht mehr miteinander zurecht. Andreas musste
immer den Macho spielen, wenn wir mal etwas zusammen unternahmen,
was selten genug der Fall gewesen war und wenn er dann so richtig
das herausstellte, was allgemein als ein richtiger Kerl bezeichnet
wurde, dann gingen bei Manuela alle Lichter an. Meistens endete das
dann in einer knappen, aber eindeutigen Bemerkung, welche
diese Art Kommunikation sofort beendete, so wie jetzt. Und genauso
sagte mein Bruder darauf: „Reg´ Dich nicht schon wieder auf. Ich
sag´ ja nichts mehr.“
„Ist auch besser. Es ist niemand mehr da, für den Du und die
anderen Kerle den Max spielen müssen. Jetzt kannst Du mal zeigen,
was wirklich in Dir steckt. Schließlich leben Deine Kinder noch,
auch wenn die inzwischen groß genug sind und auf sich allein
aufpassen können. Um Ingrid tut es mir leid. Ich habe ihr früher
Unrecht getan. Heute weiß ich, dass sie es auch nicht leicht mit
Dir gehabt hat. Aber Schluss jetzt damit. Das Essen ist
fertig.“
Jeder bekam seinen Teller mit einer ordentlichen Portion und
glücklicher Weise wurde dadurch die eben noch hochgekochte Stimmung
gedämpft.
„Was führt Dich eigentlich zu uns?“- versuchte ich ihn auf ein
anderes Thema zu bringen. Dabei entging mir, dass ich diese Frage
so nebenbei stellte, so ziemlich ohne richtiges Interesse. Er
merkte das sofort und dementsprechend war auch seine
Reaktion.
„Das klingt nicht nett. Freust Du Dich nicht? Hej, Dein Bruder ist
da!“- sagte er.
Eigentlich freute ich mich nicht so richtig und das von Anfang an
nicht. Erstens hatte ich es nicht so mit -einen auf Familie zu
machen -, und zweitens wusste ich, dass er und Manuela sich
nicht leiden konnten.
Manuela war ihm offensichtlich zu selbstbewusst und hatte
seiner Ansicht nach eine viel zu große Klappe. Damit konnte sie
auch mal verletzen. Das kannte ich selbst sehr gut und wenn man es
in der Art darauf anlegte, wie es Andreas oft genug getan hatte,
dann musste er bei ihr damit rechnen, dass eine Entgegnung kam, die
sich gewaschen hatte.
„Ich freue mich, dass es Dir gut geht und dass Deine Kinder leben“,
sagte ich deshalb immer noch ziemlich nüchtern, obwohl ich mich
redlich bemühte, einen diplomatischeren Ton anzuschlagen. Weshalb
sollte ich eigentlich immer diplomatisch reagieren? Manuela
verlangte das von mir. Ich war da eher der Freund eines offenen und
dann teilweise harten Wortes. Dann fiel die Klappe eben zu. Aus die
Maus und fertig! Na ja, vielleicht übertrieb ich es da manchmal mit
der Offenheit und ruinierte Kontakte, ehe sie so richtig begonnen
hatten. Andererseits, - wenn ich mich zusammengerissen hatte, wenn
es diplomatisch zurückhaltend abgelaufen war, dann schob ich damit
viel zu häufig den Abbruch des Kontaktes nur hinaus bis auf den
Zeitpunkt, an dem nach dem Durchschauen der Wahrheit klar wurde,
dass wieder einmal ein Freundschaftsversuch gescheitert
war.
Inzwischen hatte ich ihr solche Versuche überlassen Mir reichte die
erreichte Anzahl von Fehlversuchen und ich hatte keine Lust mehr
darauf diese Sammlung zu vergrößern. Schade eigentlich, denn ich
war ein recht kommunikativer Mensch, der gerne Geschichten erzählte
und damit auch seine Zuhörer fand aber nicht bei Ohren, die gar
nicht mehr hören konnten, da sie offenbar im Laufe der Zeit zu
reiner Dekoration am Kopf geworden waren. Gut, ich verallgemeinerte
nicht mehr so sehr aber ich suchte eben nicht mehr und das führte
so allmählich zur Isolation. Ich selbst bedauerte das nicht.
Manuela tat mir leid, da sie ein ziemlich geselliger Mensch
war.
Die Gattin meines Hausarztes hatte zu ihrem Mann gesagt, so dass
ich es hören konnte, - es kann doch nicht sein, dass nach 20 Jahren
ein derartiger Grad der allgemeinen Verblödung eingetreten ist!
Sicherlich beruhte dieser für sie eher unübliche Ausbruch auf der
täglichen Erfahrung in ihrer Gemeinschaftspraxis und die war nun
mal nicht rosig. Da brauchte man sich nur mal in der leider
üblichen Wartezeit ruhig hinsetzen und einfach nur zuhören. Mir
ging das sinnentleerte Gerede bereits nach 30 Minuten auf den
Geist. Die beiden hörten sich das dann in der Sprechstunde jeden
Tag, jede Woche, jahrelang an. Da hatten sie mir gegenüber einen
entscheidenden Vorteil, denn mir fehlte dieser repräsentative
Querschnitt des Normalbürgers.
Ich sagte da einfach: - Es kann doch nicht sein, dass ich aus dem
Haus trete und sofort über den ersten Bescheuerten stolpere! Noch
schlimmer wurde es während meines Jobs, wenn ich endlose Stunden
auf deutschen Autobahnen verbrachte und dort Variationen zumeist
männlichen Balzverhaltens hinter dem Lenkrad studieren konnte.
Dieser Praxistest wog vielleicht schwerer als manches
Psychologiestudium. Vor allem saß er tiefer, zu tief für jemanden,
das genau darauf wartete, in dieser Beziehung bestätigt zu werden.
Das Schlimme daran war, dass ich nicht enttäuscht wurde. Darauf
konnte man sich verlassen. Wo gab es eine solche Sicherheit sonst
noch?
Jahrelang hatte ich mich dann bei Manuela damit gerechtfertigt,
dass Verblödung nun mal zu leichterem Regieren unbedingt
erforderlich war. Wer nicht nachdachte, fragte nicht. Wer sich
nicht bewegte, entdeckte nicht und wer nicht entdeckte, der
schluckte, was ihm vorgekaut vorgesetzt wurde. Das hatte zu allen
Zeiten funktioniert. Nur perfektioniert worden war es erst jetzt,
im einundzwanzigsten Jahrhundert, im sogenannten
Informationszeitalter. Dabei fragte ich mich ständig, um welche
Informationen es sich da handelte? Waren es nicht genau die
Informationen, die ich nach Meinung derer, die diese verfasst
hatten, konsumieren sollte? Dessen war ich mir absolut sicher und
deshalb hatte ich mir angewöhnt, Informationen zu hinterfragen, sie
von mehreren Seiten zu betrachten. Was dabei herauskam war
erschreckend genug. Denn es stellte sich mehr und mehr heraus, dass
diese Informationslieferanten in einer Frechheit mit der Blödheit
ihrer medialen Kunden rechneten, die mich regelmäßig wütend werden
ließ. Im Prinzip konnte man so gut wie keiner Nachricht trauen ohne
den Verdacht, manipuliert zu werden, was ja auch der Wahrheit
entsprach. Spöttisch bemerkte ich dann immer, dass nicht einmal
mehr der Wetterbericht der Wahrheit entsprechen würde.
Mein lieber Bruder hier entsprach in seiner ganzen Erscheinung dem
Bild, das mehr als 20 Jahre Manipulation aus einem eigentlich
intelligenten Menschen gemacht hatten. Wobei es oftmals den
Anschein hatte, als ob Intelligenz und Verstand nicht immer den
gleichen Körper benutzen würden. Das traf aber nicht nur auf meinen
Bruder zu. Er hatte es einfach fertig gebracht, jede Initiative aus
der Hand zu legen und sich stattdessen bedienen zu lassen, - von
seiner Frau, - von der Gesellschaft, so nach dem Motto, - nun lass
es mal auf dich zukommen.
Auch wenn es sich um meinen Bruder handelte, bedauerte ich fast,
dass ein Exemplar dieser Art Mitmensch die Katastrophe ebenfalls
überlebt hatte. Glaubte man an Gottes Plan, so wie damals bei der
Sintflut, dürften solche Pannen nicht passieren. Da sollten es doch
auch nur die reinen Exemplare sein, die in die Arche hinein
durften. Pannen gab es anscheinend immer und überall.
Da ich also kein Freund
von Schmeicheleien war, fügte ich hinzu: „Ansonsten hält sich meine
Freude in Grenzen. Weißt Du, unser bisheriges Leben liegt in
Scherben. Wir besitzen keine Nachricht von unserem Jungen und
seiner Freundin. Wer weiß, ob sie noch leben. Ununterbrochen
grübele ich darüber, wie wir die nächsten Tage und Wochen
überleben. Wie und wovon werden wir in Zukunft leben, da wir nun
einmal am Leben geblieben sind. Nimm es mir nicht übel. In meinem
Sorgen-Paket war für Dich bisher kein Platz. Du lebst! Also gut!
Ich freue mich.“
Er schien mit meiner Erklärung zufrieden zu sein. „Dein Junge ist
wie wir. Der kommt durch!“, sagte er.
„Das hat mit unserer
Familie nichts mehr zu tun“, entgegnete ich. Offensichtlich spielte
er auf die Fähigkeiten unseres Vaters nach dem zweiten Weltkrieg
an, als er in diesen schwierigen Zeiten seine Familie durchgebracht
hatte, wenn auch nicht immer mit ganz lauteren Mitteln. „Hier sind
mir zu viele Zufälle mit im Spiel. Ich weiß ja nicht einmal, ob
sich die beiden damals haben impfen lassen. Da bist du besser dran.
Deine Kinder leben hier und nicht 400 km weit weg von
Zuhause.“
Er winkte ab. „Und was habe ich davon? Die Tochter lebt da in der
Sekte auf dem Schloss und die Jungs essen mir die Haare vom
Kopf.“
Erstaunt sah ich ihn an. „Ich dachte, ihr seid versorgt?“
Wieder winkte er ab. „Dachte ich auch so mit dem Einkaufsmarkt um
die Ecke in der Hinterhand.“
„Aber?“ fragte ich nach.
Er wiegte nachdenklich
den Kopf und holte tief Luft. „Wir kommen da nicht mehr so leicht
ran. Die Anderen dort halten Wache und wir sind nur zu dritt. Das
ist zu gefährlich. Die bringen es fertig und schlagen einen von uns
tot!“
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte.
„Sag´ bloß, ihr habt euch zu allem Übel auch noch mit den wenigen
Überlebenden in eurer Nachbarschaft verfeindet?“
„Ja sollte ich etwa denen meinen Sprit schenken?“, brauste er
auf.
„Wie soll ich das nun wieder verstehen?“
„Na die wollten Benzin oder Diesel für ihre Notstromaggregate aus
dem TOOM-Baumarkt in ihrem Wohngebiet. Aber doch nicht umsonst!
Nichts ist umsonst! Sie hatten nichts zum Anbieten. Also forderte
ich einfach wieder: - Gold oder Weiber – und da wurden sie
dämlich.“
Da saß er vor mir in seiner ganzen Herrlichkeit. Toll hatte er das
hinbekommen. Einfach toll! Wie war das? Intelligenz und Verstand
wohnten nicht immer im gleichen Körper. Das traf hier voll
zu!
„Das wäre ich wahrscheinlich auch geworden. Und jetzt?“
Andreas blickte mich seltsam blöde und trotzig an. „Jetzt knacken
sie die Tanks der herumstehenden Autos. Geht anscheinend auch. Von
mir gibt’ s nichts! So hat jeder Seins!“
Es reizte mich einfach, ihn jetzt ein bisschen zu locken.
„Meinst du wirklich? Die haben den Kaufmarkt mit seinen Vorräten
und du deinen Sprit und die Sachen aus dem Tankstellenshop,
Schokolade, Kekse, Waffeln und so. Nun wird mir klar, weshalb du
beim Essen so reinhaust.“
„Schmeckt wie früher“; sagte er nur grinsend.
„Klar. Besser als Kekse und Schokolade auf jeden Fall“, meinte
ich.
„Keine Angst. Die kommen wieder angekrochen“, stellte er
fest.
Ich dachte kurz nach. Hatte seine Rechnung nicht einen
Haken?
„Du hast doch nicht das Monopol auf Kraftstoff. Da gibt’ s doch
noch die Aral-Tankstelle an der Autobahn.“
„Stimmt“, bestätigte er kurz. „Das Problem ist der Transport. Mit
Autos kommt man schlecht durch. Da stehen LKWs quer. Die Stadt ist
verstopft und die Aral-Tanke da draußen ist leer. Als die Armee und
die Stadt-Oberen Richtung Landeshauptstadt abzogen, haben die sich
dort geholt, was sie brauchten.“
„Ich sehe schon, Du sitzt auf der besten Quelle“, gab ich ihm
recht.
„Genau!“ - gab er
triumphierend zurück.
„Gold oder Weiber! War´s nicht so?“ - fragte ich
provozierend.
„Richtig!“- bestätigte er und fühlte sich angesichts dieser Macht
sichtlich wohl.
„Im Moment brauchen die Dich aber nicht unbedingt“, stellte ich
fest. „Haut nicht so hin mit - Gold oder Weiber – was?“
„Abwarten“, meinte Andreas. „Mal sehen wie lange noch! Außerdem
gibt’ s noch andere. Zum Beispiel die vom Schloss.“
Jetzt wurde ich
neugierig. „Was sind das für Leute dort?“, wollte ich
wissen.
„Weiß ich doch nicht“, antwortete er. „Irgend so eine Ami-Sekte.
Nennen sich „Noahs Kinder“. Machen mächtig auf geheim. Kommt keiner
ran! Die haben eigene Wachen und so. Sind alle bewaffnet. MP´s und
so.“
Mir fiel sofort der Zettel an meiner Windschutzscheibe
ein.
„Wieso Amis?“, fragte ich ihn.
„Das Schloss gehörte denen doch schon vorher“, erklärte er mir.
„Nannte sich damals Schwesternschule. Von wegen. Das ich nicht
lache. Die haben Weiber genug da!“
Er konnte einem wirklich mit seinen Weibern auf den Geist
gehen.
„Und Deine Tochter lebt
auch dort?“
Er winkte wieder ab. „Nee, die arbeitet dort. Ist doch
Kinderärztin. Das brauchen die angeblich. Was weiß ich. So hab´ ich
sie wenigstens nicht auch noch auf dem Hals.“
Soviel zum Thema Familienbande, dachte ich.
„Und was suchst du außer verwandtschaftlichen Kontakten hier
bei uns auf dem Berg. Wir wohnen ja nun nicht gerade in deiner
Nachbarschaft. Geht es dir hier auch um Gold oder Weiber?“, frage
ich bissig.
Er grinste Susanne an, die sich dabei sehr unwohl fühlte.
„Ich hatte die Nase von meinem Tankstellenfraß voll und dachte,
hier fündig zu werden“, meinte er immer noch grinsend.
„Bist Du ja. Du isst Bratkartoffeln. Bei uns hast Du aber selbst
das Transportproblem“, stellte ich fest.
Andreas lehnte sich wohlig zurück. „Man könnte sich ja hier bei
Euch ansiedeln. „Steht ja genug leer jetzt.“
Manuela erschrak sichtlich. Ich aber auch. Das ging dann mit
Sicherheit nicht gut!
„Das könntest Du“, bestätigte ich vorsichtig. „Aber allein vom
Bedienen im Center kommst Du auch nicht ewig weiter. Ich bin drüben
gewesen. Was noch da, ist verdirbt zusehends. Fleisch sowieso.
Wurst und Schinken wurde ausgeräumt. Bleiben noch Reste von Obst,
Gemüse und Kartoffeln. Große Vorratshaltung haben die damals doch nie betrieben.
Kostet doch alles Geld. Es lebe die – Just in time – Lieferung!
Geh´ selbst rüber Nimm´ Dir, was Du brauchst.“
Andreas schien erstaunt.
„Du bist gut“, sagte er. „Nimm´ dir, was du brauchst. Meldest Du
denn keine Ansprüche darauf an?“
„Worauf?“
„Na auf alles da, auf
Klamotten, Elektronik, einfach alles!“- platzte er
heraus.
Lächelnd schüttelte ich den Kopf.
„Das kann man nicht essen“, erwiderte ich trocken.
„Aber schachern kann man damit, wenn die Zeit ran ist.“ In Gedanken
daran rieb er sich die Hände.
„Bis dahin habe ich andere Sorgen, als einen Handel zu betreiben“,
lehnte ich ab.
Er lachte los.
„Du hast doch die wenigsten Sorgen! Du hast doch alles, das Haus,
Wasser, Nahrung, Strom und nicht zu vergessen, - zwei Frauen!“
Wieder grinste er Susanne an.
„Das wird mir jetzt zu blöde“, empörte sich Susanne und stand
auf.
„Was hat die denn auf einmal?“, fragte Andreas unschuldig in die
Runde.
Susanne stand an der Küchentür, bedankte sich bei Manuela für das
Essen. Zu mir sagte sie nur: „Es war nicht nett, Deinen Bruder
kennen gelernt zu haben. Danke noch mal für alles.“ Damit drehte
sie sich um und verließ das Haus.
„Wo geht sie hin?“, wollte Andreas wissen.
Manuela räumte nun den Tisch ab. „Sie wohnt nicht bei uns“, sagte
sie. „Wir teilen alles, was wir zum Leben brauchen. So etwas ist
heute schon viel“, fügte sie hinzu. Der Blick, den sie mir dabei
zuwarf, zeigte mir, das es ihr auch so ziemlich reichte, was sich
in den letzten Minuten abgespielt hatte.
„Und nun?“ Andreas schob den leeren Teller von sich weg und lehnte
sich zurück.
„Ich hoffe, Du bist gesättigt“, antwortete ich. „Gut gestärkt
kannst Du mir nämlich sehr behilflich sein.
„Wobei?“ Jetzt war es
offensichtlich an ihm, neugierig zu sein.
„Beim Beerdigen“, antwortete ich knapp.
Beinahe erschrocken blickte er uns beide an. „Spinnst Du?“ fragte
er ohne Verständnis.
„Nicht im Geringsten“, gab ich zurück. „Meine Nachbarn liegen herum
und verwesen. In bin zwar kein unbedingt gläubiger Mensch, kein
Christ im herkömmlichen Sinne, wenn Du so willst aber so viel
Anstand muss sein.“
Jetzt zeigte Andreas mit dem Zeigefinder an seine Stirn. „Das ist
nicht Dein Ernst!“
„Und ob“, erwiderte ich entschlossen.
„Und Du glaubst allen
Ernstes, dass ich Dir dabei helfe, halb verfaulte Leichen von
Leuten aus den Häusern zu kratzen, die ich nicht einmal kenne?“
Völlig entrüstet stand er auf. Allein der Gedanke widerte ihn
an.
„Ich hatte es zumindest von meinem Bruder erhofft“, gab ich zu
bedenken.
„Falsch gehofft, Bruderherz“, polterte er los. „Den Job erledigst
Du schön alleine.“
„Wie Du meinst“, sagte ich und stand ebenfalls auf. „Dann kannst Du
jetzt zurück zu Deiner Tankstelle gehen und mich nicht länger
aufhalten. Ich habe hier nämlich noch zu tun.“
„Wirfst Du mich raus?“- empörte er sich. „Willst Du das jetzt
wirklich durchziehen?“
„Natürlich!“ Ich war jetzt die Ruhe selber. Was gesagt werden
musste, war gesagt worden. So etwas erleichterte. „Je länger wir
damit warten, desto schwieriger wird es.“
„Und was hast Du davon“, fragte er fast vorwurfsvoll. „Das dankt
Dir keiner mehr!“
„Muss man ständig von allem was haben“, wollte ich wissen. „Ich
meine, ich bin früher auch nicht gerade ein Heiliger gewesen
aber das hier waren meine Nachbarn, Menschen, gute und weniger
gute. Für mich hätten die das auch getan.“
Andreas lachte auf. „Wenn Du Dich da nicht irrst.“
„Kann sein.“ Ich dachte für einen Moment ernsthaft darüber nach,
wie es umgekehrt hätte aussehen können. Nein! Wie sagte Manuela so
schön, - nicht negativ denken! Das verdirbt den Tag. Recht hatte
sie! „Ich denke, sie würden es ebenso für mich tun“, sagte ich mit
Überzeugung in der Stimme. Solche Dinge unterscheiden uns vom Tier,
weißt du?“
„Hör´ mir auf mit Deinen blöden Sprüchen“, fuhr er mich an. „Dieses
intellektuelle Gequatsche braucht keiner mehr!“
„Das sehe ich anders“, entgegnete ich.
„Dann mach´ doch, was
du nicht lassen kannst“, sagte er noch und wendete sich zur
Tür. „Ich gehe jetzt. Viel Spaß mit deinen Nachbarn“, meinte er
noch spöttisch. „Komme ich hier allein raus?“- wollte er noch
wissen.
„Ich helfe Dir gern“, sagte Manuela und beeilte sich, ihm die
Haustür zu öffnen.
„Wir passen nicht
zusammen“, stellte er fest und blickte abfällig zu mir
rüber.
„Stimmt“, bemerkte Manuela und schob ihn zur Tür hinaus.
Susanne hatte die Zwischensperre offen gelassen. Am Straßentor
drehte sich Andreas noch einmal um.
„Wir sehen uns bestimmt wieder“, rief er Manuela und mir zu. Dann
warf er das Tor hinter sich zu und überquerte die Straße. Aus dem
Strauchwerk auf der gegenüberliegenden Straßenseite zog er ein
Fahrrad, schwang sich darauf und radelte in Richtung
Center.
Manuela kam zurück zum Haus. Ich stand in der Türöffnung und sah
meinem Bruder nach.
„Da hat man nur einen Bruder und der ist - .“ Ich brach den Satz
ab.
„... ein Arschloch!“-
beendete ihn Manuela. „Sag´s ruhig, weil es stimmt.“
„Trotzdem Schade“, sagte ich nachdenklich. „Zu zweit hätten wir
bessere Chancen, das alles durchzustehen.“
„Vergiss´ es!“- wandte sie schroff ein. „Sei froh, dass er weg ist.
In spätestens einer Woche wäre der Streit da gewesen. Und
dann?“
Sie blickte mich fragend an.
„Dann schlägt Kain Abel tot“, rutschte es mir heraus.
Sie sah mich an, schüttelte den Kopf. „So was beschreit man nicht!
Das denkt man nicht einmal!“
„Ist mir so
herausgerutscht“, beruhigte ich sie. „Er ist weg und
gut.“
„Hoffentlich für immer!“ rief sie in die Richtung, in der er mit
dem Rad verschwunden war.
„Glaube ich nicht“, entgegnete ich. „Wir sollten jetzt
anfangen.
Frag´ Susanne, ob sie uns helfen will.“
Während meine Frau zur Nachbarin ging, verstaute ich die
Lebensmittel aus den Einkaufswagen im Keller. Immer, wenn ich in
unserer ehemaligen Garage stand, in der sich nun die Lebensmittel
in Regalen stapelten, begann ich zu rechnen und stellte mir immer
wieder die gleiche Frage: - Und was dann? -
Manuela sagte in solchen Situationen: - Dann ist morgen. Lass uns
das Heute erledigen! - Leicht gesagt für jemand wie mich, der
ununterbrochen Fragen stellte und auf Antworten wartete.
Heute begannen wir deshalb mit unserer menschlichen Pflicht den
Nachbarn gegenüber, die mehr als zwanzig Jahre neben uns und mit
uns gelebt hatten.
Bis das vorüber war, hatten die Fragen zu warten.