Kapitel 5 - Besuch

 

Die Einkaufswagen ließen wir stehen. Sogar die Rucksäcke warfen wir ab und rannten so schnell wir konnten zurück zum Haus. Ein Schuss, - also ein Eindringling am oder sogar im Haus, ging es mir durch den Kopf. Jetzt bedauerte ich es, keine Schusswaffe dabei zu haben. Wenigstens die Luftdruckpistole wäre nützlich gewesen. Die sah so schön gewaltig aus und wenn man damit die richtige Munition verschoss, ergab das höllisch schmerzende Treffer, die sogar durch die Kleidung dringen konnten. Umbringen konnte man damit niemanden. Jedenfalls kannte ich keine Beispiele dafür und ich selbst hatte ja auch nur an Attrappen geübt, um die Wirkung heraus zu finden.
Als wir um die Ecke zu unserer Straße bogen, sahen wir zunächst niemanden. Das Grundstück sah so aus, wie wir es verlassen hatten. Im Zwischenraum von Tor und Drahtsperre befand sich keiner. Der Eingang der Drahtsperre sah unbeschädigt aus. Die Kette lag um den Rahmen und das Vorhängeschloss machte einen unversehrten Eindruck. Manuela stand im Obergeschoss am Dachfenster und deutete auf den Hügel, der sich gegenüber unseres Hauses befand. Dort saß mein Bruder.
Er hockte im Gras und starrte sichtlich irritiert nach oben zu meiner Frau. Langsam ging ich über die Straße zu ihm hin, während Susanne am Tor stehen blieb.
„Was suchst Du hier“, wollte ich wissen.
Er stand auf und kam langsam auf mich zu.
„Na das ist ja eine Begrüßung!“ erwiderte er. „Nach all´dem Chaos überall hätte ich  ein bisschen mehr Freude dafür erwartet, dass noch einer aus der Familie am Leben ist. Stattdessen bedroht mich Deine Frau mit der Waffe und schießt auch noch. Kaum zu glauben.“
Ich winkte ab. „Du lebst ja noch. Sie hat in die Luft geschossen und auch das nur deshalb, weil ich von ihr verlangt habe, zu melden, wenn irgendjemand über den Zaun steigt. Ich denke mal, Du hast Dich nicht gemeldet und bist einfach rüber geklettert. Da hat sie mir eben das verabredete Zeichen gegeben. Normaler Weise klingelt man, bevor man über den Zaun steigt.“
„Eigentlich schon, aber dann sah ich das gelbe Zeichen und dachte, die hat es also auch erwischt und da brauchst du nicht zu klingeln.“

„Interessant“, entgegnete ich. „Wenn keiner mehr da ist, steige ich kurz mal bei meinem Bruder ein und sehe nach, was so zu holen ist. Habe ich Dich da richtig verstanden?“
Andreas vermied es, mich anzusehen. „So hart würde ich das nicht ausdrücken“, sagte er beschwichtigend. „Du gehst doch auch sicherlich in die Nachbarhäuser, um nachzusehen, was los ist.“

„Dafür war bisher noch keine Zeit“, verneinte ich. „Und wenn, dann um den Toten ein Grab im Garten zu geben. Soviel Anstand muss wenigstens noch sein. Ich nehme mal an, so was in der Art hattest Du auch vor.“

„Genau“, beeilte er sich, mir beizupflichten. „War ja umsonst, - die Angst, Euch hätte es auch erwischt. Hätte ja durchaus sein können. Schließlich ist die ganze Stadt abgekratzt,- einfach so,  innerhalb weniger Tage. Und nun sind wir übrig und müssen zusehen, wie wir klarkommen.“
„Müssen wir wohl“, bemerkte ich nachdenklich. „Also grüß´ Dich Bruder“, sagte ich, ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand und er schlug ein.
„Grüß Dich“, erwiderte er und blickte scheu lächelnd nach oben zum Dachfenster, wo Manuela immer noch zu uns herunter blickte. „Das nächste Mal schießt Du nicht auf Deinen Schwager“, rief er hoch.
„Das nächste Mal steigst Du nicht über den Zaun“, warnte ich ihn. „Du weißt ja nun, dass wir noch da sind.“
„Bist vorsichtig, was?“ bemerkte er. „Woher hast Du überhaupt die Kanone. Ist doch illegal!“
Ich vermied es, ihn darüber aufzuklären, dass es sich lediglich um eine Gaspistole handelte. Irgendwie gebot mir ein innerer Instinkt, dieses Detail für mich zu behalten. „Wen interessiert denn das jetzt noch“, sagte ich deshalb.“
„Stimmt auch wieder“, bemerkte er. „Ist ja keiner mehr da, der da was zu beanstanden haben könnte. Trotzdem toll, - mein Bruder hat eine Kanone! Hätte ich mir eigentlich denken können. Du hast ja immer vorgesorgt. Nun sind Deine Prophezeiungen eingetreten. Ich denke mal, wenn Du alles andere auch so durchgezogen hast, wie das mit der Kanone, seid ihr fein raus, was?“
„Weiß ich nicht, ob wir fein raus sind“, gab ich zu bedenken und hütete mich wieder instinktiv, zu viel über unsere augenblickliche Lage preiszugeben. Wieder einmal traute ich nicht einmal meinem Bruder über den Weg. Manuela meinte immer wieder, dass sich das bei mir schon zu einer Manie auswachsen würde. Ich weiß nicht, ob man das als Manie bezeichnete, wenn man niemandem traute, weil in dieser Welt, ob nun voller Menschen oder fast entleert, wie jetzt, jeder nur etwas wollte und man schon lange suchen musste, bis man jemanden fand, der bereit war, etwas zu geben.
Eigentlich hatte ich die Suche nach solch´ seltenen Exemplaren schon längst aufgegeben und mich damit abgefunden, dass die Welt so ist, wie sie nun mal war, - materiell und mehr nicht. In welchem Umfang das zur Verarmung unseres gesamten geistigen und menschlichen Umfeldes geführt hatte, machte sich im Prinzip niemand so richtig bewusst und ich hatte diese Verarmung mehr und mehr ausgeblendet. Schließlich machte es keinen Sinn, sich täglich darüber aufzuregen, wer sich nun schon wieder einmal bescheuert benommen hatte. Davon bekam man Magenleiden und die führten zu Nahrungsstörungen und für jemanden, der gern aß, war das völlig inakzeptabel. Also bewahrte ich meinen Appetit, in dem ich nicht mehr hinsah, was nicht hieß, dass ich nun der Umgebung gegenüber blind geworden wäre. Ich betrachtete die Welt einfach durch einen Tunnel. Was sich außerhalb des von mir festgelegten Tunnels befand, existierte schlicht nicht mehr. Genau dieses Verhalten wendete ich im Prinzip auch im Verhältnis zu meiner oder Manuelas Verwandtschaft an. Außer an Geburtstagen und zu Weihnachten hörten sie von mir nichts und ich nicht von ihnen und das war gut so.
Jetzt stand da Andreas vor unserem Haus. Jetzt, nicht früher, als ich ihn vielleicht einmal gebraucht hätte, sondern heute, in dieser allgemein belämmerten Lage. Was wollte er? Ich dachte schon wieder in meinen gewohnten Kategorien und machte mir deshalb Vorwürfe. So sollte man nicht an die Sache herangehen. Das brachte nichts. Da war der Keim des Ärgernisses schon gesät, sagte ich mir und bemühte mich wirklich, entsprechend Manuelas Herangehensweise zu denken, auch wenn mir dies wirklich schwer fiel. Also, - vielleicht wollte er gar nichts von uns, sondern brauchte in dieser elenden Gesamtsituation einfach Hilfe.
„ Wie geht es Deiner Familie?“ wollte ich deshalb wissen und nahm mir vor, jetzt ein echt guter und hilfsbereiter Mensch zu sein. Eigentlich erwartete ich nun entweder eine freudige positive oder eine bedrückt negative Antwort, also irgendwas mit Gefühl oder so ähnlich. Stattdessen kam die Antwort sachlich nüchtern und ohne all´ diesen Kram, den ich eigentlich für angebracht gehalten hatte.

„ Ingrid ist tot“, sagte er und es kam mir vor, als ob er mir gerade mitgeteilt hatte, dass er seinen Schlüssel verloren hatte und nun einen Schlosser benötigte.
„Das tut mir leid“ sagte ich trotzdem.

„Muss es nicht“, entgegnete er. „ Sie war selbst schuld! Wollte auf keinen hören. - Nein, ich nehme das Zeug nicht! - Nein, das Zeug ist schädlich! - Sagen doch alle! - Mit mir nicht! - so ging das laufend. Da hat man nun eine Ärztin in der eigenen Familie und selbst Anke konnte reden wie sie wollte. Stur wie ein Ziegenbock! Und nun hat sie den Dreck! Oder besser gesagt, ich habe ihn, denn ich muss ja jetzt allein mit allem fertig werden. Na ja, wenigstens ging es schnell.“
„Klingt so, als würde es dir nicht viel ausmachen, Deine Frau verloren zu haben“, fragte ich vorwurfsvoll.

„Was heißt, nichts ausmachen. So wie früher war das ohnehin nicht mehr. Nach so vielen Jahren ist das eigentlich ganz normal. Laufend hatte sie irgend ein Wehwehchen. Sie selbst wollte ja nie, wenn ich mal Lust darauf hatte.  Du weißt schon. Aber allein sein, das ist auch nicht das Wahre! Da hängt man herum und säuft nur. Die Kinder sind da auch keine Hilfe.“

„Wie geht es denen?“, versuchte ich abzulenken.
„Frank und Thomas leben dank Ankes Hilfe. Sie hat uns alle mit Tamiflu versorgt, so wie sie uns damals auch die Impfung verpasst hat. Was Anke derzeit macht, ist mir ehrlich gesagt etwas schleierhaft. Die hat nach der Auflösung des Krankenhauses im Schloss zu tun. Wie es aussieht, haben da alle überlebt, die vorher auch schon drin gewesen sind. Jetzt kommt da keiner mehr rein! Die haben ihren eigenen Wachschutz. Ganz komische Typen, sage ich Dir. Die machen da so einen auf Esoterik-Sekte oder so was. Jedenfalls tragen die alle weiße Umhänge so wie beim Ku-Klux-Clan. Rennen mit Masken herum.  Komische Sache. Und Anke fummelt da mit herum. Die Jungs leben bei mir in der Tankstelle und passen auf. Rennt ja allerhand Kroppzeug herum, vor dem man sich schützen muss. Machst Du ja auch, wie ich sehe.“ Er deutete auf die innere Absperrung mit dem Rasierklingenzaun.
„Vorsicht ist besser als Nachsicht“, bestätigte ich.
„Du und Deine Sprüche“, bemerkte er spöttisch. „Waren aber gar nicht so verkehrt, wenn ich es im Nachhinein betrachte.“
„Meinst Du?“ Ich hatte immer noch kein gutes Gefühl.
„Meine ich“, sagte er und blickte auf Susanne. „Jetzt habe ich mal einen Spruch für Dich. Zwei Weiber sind besser als eins  und noch besser als keins!“
Susanne schien bei dieser Bemerkung etwas verlegen zu werden, was ich nicht verstehen konnte, denn unsere kleine Gemeinschaft war ja eine reine Zweckgemeinschaft und mehr nicht. Wir helfen uns in der Not und das ohne Vorbedingungen, - eigentlich das, was ich schon früher immer gesucht hatte.
„Ich weiß nicht, was Du davon hältst“ erwiderte ich deshalb. „Ist mir auch eigentlich egal, - aber das ist Susanne, unsere Nachbarin. Sie hat ihre gesamte Familie verloren. Wir helfen uns. Das ist alles.“
„So, so“, bemerkte er ironisch. „Ihr helft euch. Mir hilft nämlich keiner. So ist das eben. Du warst schon immer ein Glückspilz, selbst jetzt.“
„Das hat mit Glück nichts zu tun“, wehrte ich ab. „Das hat sich ganz einfach so ergeben.“
„Stimmt ja, das hat sich bei Dir immer ganz einfach so ergeben. Dein Platz lag schon immer auf der Sonnenseite. Mein Platz ist ja der in der Soße.“
Jetzt fing er damit wieder an. Ich wusste in diesem Moment genau, worauf er anspielte. Während einer saublöden Diskussion zu einem dieser so sinnlosen Familientreffen, bei denen über Politik, Autos und Enkelkinder geredet wird, kamen wir, oder besser gesagt er auf die Sinnlosigkeit seines Lebens und das der Anderen zu sprechen.
- Also ehrlich, ist doch alles Scheiße! - hieß es dann. - Da kannst du ackern wie blöde und kommst trotzdem zu nichts. -
Ich versuchte das Ganze zu schlichten, indem ich feststellte, dass er doch zufrieden sein müsse, denn er besaß drei gesunde Kinder, eine gesicherte Existenz und eine ganz gute Gesundheit. Viele anderen Menschen müssten mit weniger zurechtkommen.
- Und du meinst, das genügt?- wollte er dann von mir wissen und ich wusste, dass ich besser meinen Mund hätte halten sollen. - Du hast ja auch alles! Du hast ja immer Glück gehabt!- polterte er los und schien nicht mehr zu bremsen. - Und ich? Nur Scheiße! Immer nur Scheiße! Erst die Pleite mit dem Laden, dann die Schulden und die Inkasso-Gangster und nun auch noch dieser Scheiß-Job. Da kannst du gar nicht mitreden. Du hast ja immer Glück gehabt! -

Das war´s, was ich gebraucht hatte. Alles, was wir uns mühsam aufgebaut hatten, galt in seinen Augen als Glückssache. Als Manuela mit mir und dem Jungen allein insgesamt 80 Tonnen Steine abgeladen hatten, war dies das reine Glücksgefühl. Als Manuela mit mir mutterseelenallein im strömenden Regen 2000 Schwerbetonsteine auf unserer Baustelle auf das Erdgeschoss wuchtete, wussten wir beide im gleichen Moment, - so muss das wahre Glück aussehen! Als ich dann meinen relativ sicheren Job hier zu Hause aufgab, weil ich deutlich vor mir sah, dass wir so niemals vorankommen würden und ich dann anschließend für ein Jahr Frau und Kind über die Woche allein ließ, um mich in der Ferne weiterbilden zu lassen, was sich dann anschließend auch voll für uns ausgezahlt hatte, taten wir das aus reinem Glück heraus. Jetzt reichte es! Ich konnte mir diesen Blödsinn nicht länger anhören und da konnte Manuela unter dem Tisch gegen meinen Fuß trampeln, so oft sie wollte, mein  emotionaler Druckbehälter war voll und benötigte dringend Entlastung. Also brachte ich ganz diplomatisch das Gleichnis  von der Suppe, das ich mir gerade hatte einfallen lassen.
Demnach verglich ich die Gesellschaft mit einem großen Kessel, in dem über einem Feuer Suppe kochte. Oben rührten wenige Hände mit einem großen Löffel den ganzen Brei. Das waren die oberen Zehntausend. Darunter kam lange Zeit nichts, - dann der Schaum kurz über der Suppe und dann unten die Suppe selbst.

Meiner Meinung nach bestand für unsereins ohnehin nur die Chance, Schaum zu werden, wenn man nicht zu denen gehörte, die da oben schon immer gerührt hatten. Diese Chance konnten nur die ergreifen, die ihr Leben nicht vermasselten und er hatte seines vermasselt, - Punkt.
Danach folgte ein längerer Moment der angespannten Ruhe. Manuela sagte nichts, trampelte auch nicht mehr gegen meine Füße, um mich davor zu bewahren, auszusprechen, was ich nun heraus gelassen hatte. Sie hasste solche Situationen, ich auch, aber manchmal half eben nur die ungeschminkte Wahrheit, nur dass ich meinen Vergleich vielleicht etwas zu ungeschminkt ausgedrückt hatte.         

Mein Bruder pumpte wie ein Maikäfer kurz vor dem Abheben. Seine Frau blickte  ängstlich zu ihm und vorwurfsvoll zu mir, so

nach dem Motto – Wie kannst du nur! - Seine Jungs kicherten. Ihnen schien der Vergleich zu gefallen.
- Willst du mir damit sagen, dass ich in deinen Augen nichts als Soße darstelle -, wollte er dann schnaufend von mir wissen. Und ich antwortete kurz und knapp mit – Ja - und einem anschließenden – Komm´ wir gehen jetzt! - zu Manuela.
Das hatte gesessen und ich wusste, dass er mir diesen Vergleich nie verzeihen würde. Bis heute nicht.
„Lassen wir das“, sagte ich deshalb. „Du kannst mir helfen. Die Frauen bereiten das Mittagessen zu und wir holen die Sachen aus dem Center, die Susanne und ich wegen des Warnschusses stehen lassen haben. Da wir im Center ausreichend Kartoffeln gefunden haben, gibt es heute Bratkartoffeln. Was meinst Du dazu?“
„Klingt gut“, meinte er.
Susanne sagte nichts dazu. Ihr schien es angenehm zu sein, sich schnellstens ins Haus zu verdrücken. Ihr behagte die ganze Unterhaltung ebenso wenig wie mir. Auf diese Weise schien die spürbare Spannung erst einmal aus dem Wege geschafft.

Auf dem Weg zum Center, den wir nun ohne jede Vorsicht nehmen konnten, da ich ja nun wusste, dass uns dort keine Überraschungen erwarteten, erfuhr ich von Andreas mehr  über die Lage am anderen Ende der Stadt.
Er wohnte seit dem Tod seiner Frau in der Tankstelle, in der sie die letzten Jahre gearbeitet hatte und bediente sich seitdem von den dort vorhandenen Lebensmitteln und Spirituosen. Seine Jungs suchten tagsüber die Stadt nach Verwertbarem ab, ohne dabei auf nennenswerte Konkurrenz gestoßen zu sein. Die Kontakte zu anderen Gruppen von Überlebenden verliefen bisher friedlich. Im Prinzip hatten diese Gruppen die Stadt unter sich aufgeteilt. Wie Susanne schon spöttisch gesagt hatte, - jeder besaß sein Einkaufscenter. Solange dort genügend Vorräte lagerten, bestand kein Spannungspotential für die wenigen Menschen, die sich das alles teilen mussten.  Im Norden der Stadt lebten zwei Gruppen von je ca. 20 Leuten. Im Osten, wo auch mein Bruder lebte, eine Gruppe  mit etwa 5 – 10 Menschen. Wie viele Überlebende im Schloss weilten, wusste niemand, offensichtlich existierte hier die größte Gruppe und wie es aussah, war dies der einzige Ort mit einer straffen Organisation im Hintergrund. Alle Anderen waren nichts anderes als Horden wie zu Urzeiten des Menschen. Jäger und Sammler, die bisher lediglich sammelten. Interessant wurde es erst dann, wenn diese Horden alles Gesammelte verzehrt hatten und auf die Jagd gehen würden.
Vom Süden, also unserer Gegend, hatte niemand ausreichend Informationen über die Lage, bis auf das Wissen, dass hier wahrscheinlich die größten Vorräte anzutreffen waren.

Mein Bruder stand offenbar in lockerem Kontakt zu seiner lokalen Gruppe und über seine Tochter zu den Leuten im Schloss. Solange es vor Ort ausreichend Nahrung gab, scheuten die Menschen den Weg in unsere Gegend. Das Problem bestand im Transport. Durch Unfälle während der allgemeinen Flucht aus allen Richtungen der Stadt ins Zentrum hinein und wieder hinaus in die Trabantensiedlungen, in denen die meisten Menschen gewohnt hatten, schien das Innere der Stadt ziemlich verstopft zu sein. Die aus dem Norden hatten da überhaupt keine Chance, da es nur eine Brücke über die Saale gab und diese Brücke war ebenfalls verstopft. Die Fußgängerbrücke eignete sich nicht für Fahrzeuge. Also blieb jede Gruppe unter sich.
Seine Tankstelle hatte er verbarrikadiert und wie es aussah, schafften es die drei Männer dort, sich die anderen aus der näheren Umgebung vom Leibe zu halten. Wer was wollte, musste zahlen!  - Gold oder Weiber! - hatte mein Bruder triumphierend von sich gegeben. Das Geschäft schien aber bislang noch nicht so richtig angelaufen zu sein, da die benachbarten Lager noch voll waren und seine kleine Tankstelle niemand brauchte. Also war es nichts mit Gold oder Weibern und es blieb nur der Suff!
 Mir schauderte allein bei dem Gedanken, - vielleicht Hundert Überlebende von ehemals über 20.000 Einwohnern! Eine dunkle Stadt mit dunklen Wohnungen, in denen sie alle lagen, ohne dass einem von ihnen die Ehre eines Grabes zuteil wurde. Begraben im eigenen Saft, - wie mein Bruder sich krass aber wirklichkeitsgetreu ausdrückte. Ein Single-Schicksal nun für alle.
In diesem Augenblick musste ich an die Nachbarn in unserer Siedlung denken und nahm mir fest vor, wenigsten ihnen diese Ehre, in der Erde zu ruhen, zu gewähren.
Als wir zum Haus zurückgekehrt waren, ließen wir die beiden Einkaufswagen und die Rucksäcke am Kellerabgang des Hauses stehen und gingen hinein. Ich hatte absolut keine Lust, meinem Bruder unsere Kellerräume zu zeigen. Er kannte sie ja von früher aber nicht im gegenwärtigen Zustand als Vorratslager, Speicher und Energiestation. Diese Details wollte ich lieber für mich behalten, auch wenn es sich um meinen Bruder handelte. Dabei musste ich eigenartiger Weise immer an die Bibel denken. - … und Kain schlug Abel tot, ging in ein anderes Land und heiratete. - Der Satz gab mir zu denken. Gleichzeitig dachte ich aber auch, Mann, das ist dein Bruder und dann solche Gedanken! Warum sagte er auch so einen Scheiß wie - Gold oder Weiber - . Auf welch´ geistigem Standard lebte er im Augenblick? Wo befand sich der Rest von dem Bruder, für den ich mich mal als Kind geprügelt hatte. Dafür hatte ich nie Dank eingefordert. Ich war der Ältere und da musste ich den Kleinen verteidigen. Eine Zeit lang kamen wir auch noch gut miteinander aus,-  selbst als er dann erwachsen geworden war und heiratete. Danach veränderte er sich. Manuela und ich fragten uns oft, ob seine Frau dahinter steckte oder ob bei ihm nun der schlechtere Teil unserer gemeinsamen genetischen Veranlagung durchbrach. Während ich beispielsweise meinen  Jähzorn in den Griff bekam, schaffte er das nie. Manuela und ich legten im Laufe unserer Ehe die verbreitetsten gesellschaftlichen Krankheiten ab, nein – nicht Bluthochdruck oder Übergewicht, sondern Gier und Wichtigkeit! Andreas und seine Frau Ingrid gönnten anderen hingegen nicht den Dreck unter dem Fingernagel! Dabei kam dann ständig dieses `Du hast ja immer Glück´ – Gequatsche, das uns beide nervte. Während er gern immer einen auf Familienzusammenführung machte, distanzierten wir uns zunehmend von den beiden. Uns war egal, ob sie das merkten oder ob sie das störte. Wir hatten dadurch unsere Ruhe und darauf kam es an.
Ich öffnete die Haustür und wir traten ein. Er kannte ja schon alles. Trotzdem fiel mir auf, wie er jede Einzelheit argwöhnisch begutachtete.
Im Flur roch es bereits nach den Bratkartoffeln. Susanne und Manuela warteten bereits in der Küche auf uns. Auf dem Tisch standen Schüsseln mit Blattsalat, Gläser mit Apfelsaftschorle und saure Gurken. In den Pfannen brutzelten die Kartoffeln und die Spiegeleier.
„Euch geht es ja richtig gut“, stellte Andreas fest. „Sieht aus wie früher, riecht wie früher, - ist wie früher! Man könnte meinen, es sei nichts passiert. Der Weltuntergang hat ohne Euch statt-gefunden.“
Manuela drehte sich kurz um und meinte: „Von wegen ohne uns. Wir saßen voll mitten drin. Ohne Susanne würden wir beide wahrscheinlich gar nicht mehr leben. Sie hat uns in der Infektionszeit geholfen. Durch sie bekamen wir das Tamiflu. Zusammen mit der Impfung vor einigen Jahren gelang es uns, den Ausbruch der Krankheit im Griff zu behalten.“
Andreas sah verwundert zu Susanne rüber, die sich an die Stirnseite des Tisches gesetzt hatte. „Wie sind Sie an das Tamiflu gekommen?“- wollte er wissen.
„Ich bin Ärztin“, antwortete sie kurz.
„Ach ja, Ärztin?“-stellte er fest. „Das ist ja richtig praktisch in der jetzigen Zeit. Kaum zu glauben. Mein Bruder hat es wieder geschafft. Eine Ärztin zum privaten Gebrauch, ein funktionierender Haushalt mitten in der größten Katastrophe aller Zeiten, Strom, Wasser, - einfach alles. Man könnte direkt neidisch werden.“
Manuela schien diese Bemerkung sichtlich in den falschen Hals bekommen zu haben. „Wart Ihr das nicht schon immer?“ bemerkte sie bissiger, als beabsichtigt.
Ich sah sie an und schüttelte leicht den Kopf. Seit vielen Jahren kamen die beiden nicht mehr miteinander zurecht. Andreas musste immer den Macho spielen, wenn wir mal etwas zusammen unternahmen, was selten genug der Fall gewesen war und wenn er dann so richtig das herausstellte, was allgemein als ein richtiger Kerl bezeichnet wurde, dann gingen bei Manuela alle Lichter an. Meistens endete das dann in einer knappen, aber eindeutigen Bemerkung,  welche diese Art Kommunikation sofort beendete, so wie jetzt. Und genauso sagte mein Bruder darauf: „Reg´ Dich nicht schon wieder auf. Ich sag´ ja nichts mehr.“
„Ist auch besser. Es ist niemand mehr da, für den Du und die anderen Kerle den Max spielen müssen. Jetzt kannst Du mal zeigen, was wirklich in Dir steckt. Schließlich leben Deine Kinder noch, auch wenn die inzwischen groß genug sind und auf sich allein aufpassen können. Um Ingrid tut es mir leid. Ich habe ihr früher Unrecht getan. Heute weiß ich, dass sie es auch nicht leicht mit Dir gehabt hat. Aber Schluss jetzt damit. Das Essen ist fertig.“
Jeder bekam seinen Teller mit einer ordentlichen Portion und glücklicher Weise wurde dadurch die eben noch hochgekochte Stimmung gedämpft.
„Was führt Dich eigentlich zu uns?“- versuchte ich ihn auf ein anderes Thema zu bringen. Dabei entging mir, dass ich diese Frage so nebenbei stellte, so ziemlich ohne richtiges Interesse. Er merkte das sofort und dementsprechend war auch seine Reaktion.
„Das klingt nicht nett. Freust Du Dich nicht? Hej, Dein Bruder ist da!“- sagte er.
Eigentlich freute ich mich nicht so richtig und das von Anfang an nicht. Erstens hatte ich es nicht so mit -einen auf Familie zu machen -,  und zweitens wusste ich, dass er und Manuela sich nicht leiden konnten.
Manuela war ihm offensichtlich zu selbstbewusst und hatte  seiner Ansicht nach eine viel zu große Klappe. Damit konnte sie auch mal verletzen. Das kannte ich selbst sehr gut und wenn man es in der Art darauf anlegte, wie es Andreas oft genug getan hatte, dann musste er bei ihr damit rechnen, dass eine Entgegnung kam, die sich gewaschen hatte.
„Ich freue mich, dass es Dir gut geht und dass Deine Kinder leben“, sagte ich deshalb immer noch ziemlich nüchtern, obwohl ich mich redlich bemühte, einen diplomatischeren Ton anzuschlagen. Weshalb sollte ich eigentlich immer diplomatisch reagieren? Manuela verlangte das von mir. Ich war da eher der Freund eines offenen und dann teilweise harten Wortes. Dann fiel die Klappe eben zu. Aus die Maus und fertig! Na ja, vielleicht übertrieb ich es da manchmal mit der Offenheit und ruinierte Kontakte, ehe sie so richtig begonnen hatten. Andererseits, - wenn ich mich zusammengerissen hatte, wenn es diplomatisch zurückhaltend abgelaufen war, dann schob ich damit viel zu häufig den Abbruch des Kontaktes nur hinaus bis auf den Zeitpunkt, an dem nach dem Durchschauen der Wahrheit klar wurde, dass wieder einmal ein Freundschaftsversuch gescheitert war.
Inzwischen hatte ich ihr solche Versuche überlassen Mir reichte die erreichte Anzahl von Fehlversuchen und ich hatte keine Lust mehr darauf diese Sammlung zu vergrößern. Schade eigentlich, denn ich war ein recht kommunikativer Mensch, der gerne Geschichten erzählte und damit auch seine Zuhörer fand aber nicht bei Ohren, die gar nicht mehr hören konnten, da sie offenbar im Laufe der Zeit zu reiner Dekoration am Kopf geworden waren. Gut, ich verallgemeinerte nicht mehr so sehr aber ich suchte eben nicht mehr und das führte so allmählich zur Isolation. Ich selbst bedauerte das nicht. Manuela tat mir leid, da sie ein ziemlich geselliger Mensch war.
Die Gattin meines Hausarztes hatte zu ihrem Mann gesagt, so dass ich es hören konnte, - es kann doch nicht sein, dass nach 20 Jahren ein derartiger Grad der allgemeinen Verblödung eingetreten ist! Sicherlich beruhte dieser für sie eher unübliche Ausbruch auf der täglichen Erfahrung in ihrer Gemeinschaftspraxis und die war nun mal nicht rosig. Da brauchte man sich nur mal in der leider üblichen Wartezeit ruhig hinsetzen und einfach nur zuhören. Mir ging das sinnentleerte Gerede bereits nach 30 Minuten auf den Geist. Die beiden hörten sich das dann in der Sprechstunde jeden Tag, jede Woche, jahrelang an. Da hatten sie mir gegenüber einen entscheidenden Vorteil, denn mir fehlte dieser repräsentative Querschnitt des Normalbürgers.
Ich sagte da einfach: - Es kann doch nicht sein, dass ich aus dem Haus trete und sofort über den ersten Bescheuerten stolpere! Noch schlimmer wurde es während meines Jobs, wenn ich endlose Stunden auf deutschen Autobahnen verbrachte und dort Variationen zumeist männlichen Balzverhaltens hinter dem Lenkrad studieren konnte. Dieser Praxistest wog vielleicht schwerer als manches Psychologiestudium. Vor allem saß er tiefer, zu tief für jemanden, das genau darauf wartete, in dieser Beziehung bestätigt zu werden. Das Schlimme daran war, dass ich nicht enttäuscht wurde. Darauf konnte man sich verlassen. Wo gab es eine solche Sicherheit sonst noch?
Jahrelang hatte ich mich dann bei Manuela damit gerechtfertigt, dass Verblödung nun mal zu leichterem Regieren unbedingt erforderlich war. Wer nicht nachdachte, fragte nicht. Wer sich nicht bewegte, entdeckte nicht  und wer nicht entdeckte, der schluckte, was ihm vorgekaut vorgesetzt wurde. Das hatte zu allen Zeiten funktioniert. Nur perfektioniert worden war es erst jetzt, im einundzwanzigsten Jahrhundert, im sogenannten Informationszeitalter. Dabei fragte ich mich ständig, um welche Informationen es sich da handelte? Waren es nicht genau die Informationen, die ich nach Meinung derer, die diese verfasst hatten, konsumieren sollte? Dessen war ich mir absolut sicher und deshalb hatte ich mir angewöhnt, Informationen zu hinterfragen, sie von mehreren Seiten zu betrachten. Was dabei herauskam war erschreckend genug. Denn es stellte sich mehr und mehr heraus, dass diese Informationslieferanten in einer Frechheit mit der Blödheit ihrer medialen Kunden rechneten, die mich regelmäßig wütend werden ließ. Im Prinzip konnte man so gut wie keiner Nachricht trauen ohne den Verdacht, manipuliert zu werden, was ja auch der Wahrheit entsprach. Spöttisch bemerkte ich dann immer, dass nicht einmal mehr der Wetterbericht der Wahrheit entsprechen würde.
Mein lieber Bruder hier entsprach in seiner ganzen Erscheinung dem Bild, das mehr als 20 Jahre Manipulation aus einem eigentlich intelligenten Menschen gemacht hatten. Wobei es oftmals den Anschein hatte, als ob Intelligenz und Verstand nicht immer den gleichen Körper benutzen würden. Das traf aber nicht nur auf meinen Bruder zu. Er hatte es einfach fertig gebracht, jede Initiative aus der Hand zu legen und sich stattdessen bedienen zu lassen, - von seiner Frau, - von der Gesellschaft, so nach dem Motto, - nun lass es mal auf dich zukommen.
Auch wenn es sich um meinen Bruder handelte, bedauerte ich fast, dass ein Exemplar dieser Art Mitmensch die Katastrophe ebenfalls überlebt hatte. Glaubte man an Gottes Plan, so wie damals bei der Sintflut, dürften solche Pannen nicht passieren. Da sollten es doch auch nur die reinen Exemplare sein, die in die Arche hinein durften. Pannen gab es anscheinend immer und überall.

Da ich also kein Freund von Schmeicheleien war, fügte ich hinzu: „Ansonsten hält sich meine Freude in Grenzen. Weißt Du, unser bisheriges Leben liegt in Scherben. Wir besitzen keine Nachricht von unserem Jungen und seiner Freundin. Wer weiß, ob sie noch leben. Ununterbrochen grübele ich darüber, wie wir die nächsten Tage  und Wochen überleben. Wie und wovon werden wir in Zukunft leben, da wir nun einmal am Leben geblieben sind. Nimm es mir nicht übel. In meinem Sorgen-Paket war für Dich bisher kein Platz. Du lebst! Also gut! Ich freue mich.“
Er schien mit meiner Erklärung zufrieden zu sein. „Dein Junge ist wie wir. Der kommt durch!“, sagte er.

„Das hat mit unserer Familie nichts mehr zu tun“, entgegnete ich. Offensichtlich spielte er auf die Fähigkeiten unseres Vaters nach dem zweiten Weltkrieg an, als er in diesen schwierigen Zeiten seine Familie durchgebracht hatte, wenn auch nicht immer mit ganz lauteren Mitteln. „Hier sind mir zu viele Zufälle mit im Spiel. Ich weiß ja nicht einmal, ob sich die beiden damals haben impfen lassen. Da bist du besser dran. Deine Kinder leben hier und nicht 400 km weit weg von Zuhause.“
Er winkte ab. „Und was habe ich davon? Die Tochter lebt da in der Sekte auf dem Schloss und die Jungs essen mir die Haare vom Kopf.“
Erstaunt sah ich ihn an. „Ich dachte, ihr seid versorgt?“
Wieder winkte er ab. „Dachte ich auch so mit dem Einkaufsmarkt um die Ecke in der Hinterhand.“
„Aber?“ fragte ich nach.

Er wiegte nachdenklich den Kopf und holte tief Luft. „Wir kommen da nicht mehr so leicht ran. Die Anderen dort halten Wache und wir sind nur zu dritt. Das ist zu gefährlich. Die bringen es fertig und schlagen einen von uns tot!“
Ich  konnte nicht fassen, was ich da hörte.
„Sag´ bloß, ihr habt euch zu allem Übel auch noch mit den wenigen Überlebenden in eurer Nachbarschaft verfeindet?“
„Ja sollte ich etwa denen meinen Sprit schenken?“, brauste er auf.
„Wie soll ich das nun wieder verstehen?“
„Na die wollten Benzin oder Diesel für ihre Notstromaggregate aus dem TOOM-Baumarkt in ihrem Wohngebiet. Aber doch nicht umsonst! Nichts ist umsonst! Sie hatten nichts zum Anbieten. Also forderte ich einfach wieder: - Gold oder Weiber – und da wurden sie dämlich.“
Da saß er vor mir in seiner ganzen Herrlichkeit. Toll hatte er das hinbekommen. Einfach toll! Wie war das? Intelligenz und Verstand wohnten nicht immer im gleichen Körper. Das traf hier voll zu!
„Das wäre ich wahrscheinlich auch geworden. Und jetzt?“
Andreas blickte mich seltsam blöde und trotzig an. „Jetzt knacken sie die Tanks der herumstehenden Autos. Geht anscheinend auch. Von mir gibt’ s nichts! So hat jeder Seins!“
Es reizte mich einfach, ihn jetzt ein bisschen zu locken.
„Meinst du wirklich? Die haben den Kaufmarkt mit seinen Vorräten und du deinen Sprit und die Sachen aus dem Tankstellenshop, Schokolade, Kekse, Waffeln und so. Nun wird mir klar, weshalb du beim Essen so reinhaust.“
„Schmeckt wie früher“; sagte er nur grinsend.
„Klar. Besser als Kekse und Schokolade auf jeden Fall“, meinte ich.
„Keine Angst. Die kommen wieder angekrochen“, stellte er fest.
Ich dachte kurz nach. Hatte seine Rechnung nicht einen Haken?
„Du hast doch nicht das Monopol auf Kraftstoff. Da gibt’ s doch noch die Aral-Tankstelle an der Autobahn.“
„Stimmt“, bestätigte er kurz. „Das Problem ist der Transport. Mit Autos kommt man schlecht durch. Da stehen LKWs quer. Die Stadt ist verstopft und die Aral-Tanke da draußen ist leer. Als die Armee und die Stadt-Oberen Richtung Landeshauptstadt abzogen, haben die sich dort geholt, was sie brauchten.“
„Ich sehe schon, Du sitzt auf der besten Quelle“, gab ich ihm recht.

„Genau!“ - gab er triumphierend zurück.
„Gold oder Weiber! War´s nicht so?“ - fragte ich provozierend.
„Richtig!“- bestätigte er und fühlte sich angesichts dieser Macht sichtlich wohl.
„Im Moment brauchen die Dich aber nicht unbedingt“, stellte ich fest. „Haut nicht so hin mit - Gold oder Weiber – was?“
„Abwarten“, meinte Andreas. „Mal sehen wie lange noch! Außerdem gibt’ s noch andere. Zum Beispiel die vom Schloss.“

Jetzt wurde ich neugierig. „Was sind das für Leute dort?“, wollte ich wissen.
„Weiß ich doch nicht“, antwortete er. „Irgend so eine Ami-Sekte. Nennen sich „Noahs Kinder“. Machen mächtig auf geheim. Kommt keiner ran! Die haben eigene Wachen und so. Sind alle bewaffnet. MP´s und so.“
Mir fiel sofort der Zettel an meiner Windschutzscheibe ein.
„Wieso Amis?“, fragte ich ihn.
„Das Schloss gehörte denen doch schon vorher“, erklärte er mir. „Nannte sich damals Schwesternschule. Von wegen. Das ich nicht lache. Die haben Weiber genug da!“
Er konnte einem wirklich mit seinen Weibern auf den Geist gehen.

„Und Deine Tochter lebt auch dort?“
Er winkte wieder ab. „Nee, die arbeitet dort. Ist doch Kinderärztin. Das brauchen die angeblich. Was weiß ich. So hab´ ich sie wenigstens nicht auch noch auf dem Hals.“
Soviel zum Thema Familienbande, dachte ich.
„Und was suchst du  außer verwandtschaftlichen Kontakten hier bei uns auf dem Berg. Wir wohnen ja nun nicht gerade in deiner Nachbarschaft. Geht es dir hier auch um Gold oder Weiber?“, frage ich bissig.
Er grinste Susanne an, die sich dabei sehr unwohl fühlte.
„Ich hatte die Nase von meinem Tankstellenfraß voll und dachte, hier fündig zu werden“, meinte er immer noch grinsend.
„Bist Du ja. Du isst Bratkartoffeln. Bei uns hast Du aber selbst das Transportproblem“, stellte ich fest.
Andreas lehnte sich wohlig zurück. „Man könnte sich ja hier bei Euch ansiedeln. „Steht ja genug leer jetzt.“
Manuela erschrak sichtlich. Ich aber auch. Das ging dann mit Sicherheit nicht gut!
„Das könntest Du“, bestätigte ich vorsichtig. „Aber allein vom Bedienen im Center kommst Du auch nicht ewig weiter. Ich bin drüben gewesen. Was noch da, ist verdirbt zusehends. Fleisch sowieso. Wurst und Schinken wurde ausgeräumt. Bleiben noch Reste von Obst, Gemüse und Kartoffeln. Große Vorratshaltung haben die damals doch nie betrieben. Kostet doch alles Geld. Es lebe die – Just in time – Lieferung! Geh´ selbst rüber  Nimm´ Dir, was Du brauchst.“
Andreas schien erstaunt.
„Du bist gut“, sagte er. „Nimm´ dir, was du brauchst. Meldest Du denn keine Ansprüche darauf an?“
„Worauf?“

„Na auf alles da, auf Klamotten, Elektronik, einfach alles!“- platzte er heraus.
Lächelnd schüttelte ich den Kopf.
„Das kann man nicht essen“, erwiderte ich trocken.
„Aber schachern kann man damit, wenn die Zeit ran ist.“ In Gedanken daran rieb er sich die Hände.
„Bis dahin habe ich andere Sorgen, als einen Handel zu betreiben“, lehnte ich ab.
Er lachte los.
„Du hast doch die wenigsten Sorgen! Du hast doch alles, das Haus, Wasser, Nahrung, Strom und nicht zu vergessen, - zwei Frauen!“ Wieder grinste er Susanne an.
„Das wird mir jetzt zu blöde“, empörte sich Susanne und stand auf.
„Was hat die denn auf einmal?“, fragte Andreas unschuldig in die Runde.
Susanne stand an der Küchentür, bedankte sich bei Manuela für das Essen. Zu mir sagte sie nur: „Es war nicht nett, Deinen Bruder kennen gelernt zu haben. Danke noch mal für alles.“ Damit drehte sie sich um und verließ das Haus.
„Wo geht sie hin?“, wollte Andreas wissen.
Manuela räumte nun den Tisch ab. „Sie wohnt nicht bei uns“, sagte sie. „Wir teilen alles, was wir zum Leben brauchen. So etwas ist heute schon viel“, fügte sie hinzu. Der Blick, den sie mir dabei zuwarf, zeigte mir, das es ihr auch so ziemlich reichte, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte.
„Und nun?“ Andreas schob den leeren Teller von sich weg und lehnte sich zurück.
„Ich hoffe, Du bist gesättigt“, antwortete ich. „Gut gestärkt kannst Du mir nämlich sehr behilflich sein.

„Wobei?“ Jetzt war es offensichtlich an ihm, neugierig zu sein.
„Beim Beerdigen“, antwortete ich knapp.
Beinahe erschrocken blickte er uns beide an. „Spinnst Du?“ fragte er ohne Verständnis.
„Nicht im Geringsten“, gab ich zurück. „Meine Nachbarn liegen herum und verwesen. In bin zwar kein unbedingt gläubiger Mensch, kein Christ im herkömmlichen Sinne, wenn Du so willst aber so viel Anstand muss sein.“
Jetzt zeigte Andreas mit dem Zeigefinder an seine Stirn. „Das ist nicht Dein Ernst!“
„Und ob“, erwiderte ich entschlossen.

„Und Du glaubst allen Ernstes, dass ich Dir dabei helfe, halb verfaulte Leichen von Leuten aus den Häusern zu kratzen, die ich nicht einmal kenne?“ Völlig entrüstet stand er auf. Allein der Gedanke widerte ihn an.
„Ich hatte es zumindest von meinem Bruder erhofft“, gab ich zu bedenken.
„Falsch gehofft, Bruderherz“, polterte er los. „Den Job erledigst Du schön alleine.“
„Wie Du meinst“, sagte ich und stand ebenfalls auf. „Dann kannst Du jetzt zurück zu Deiner Tankstelle gehen und mich nicht länger aufhalten. Ich habe hier nämlich noch zu tun.“
„Wirfst Du mich raus?“- empörte er sich. „Willst Du das jetzt wirklich durchziehen?“
„Natürlich!“ Ich war jetzt die Ruhe selber. Was gesagt werden musste, war gesagt worden. So etwas erleichterte. „Je länger wir damit warten, desto schwieriger wird es.“
„Und was hast Du davon“, fragte er fast vorwurfsvoll. „Das dankt Dir keiner mehr!“
„Muss man ständig von allem was haben“, wollte ich wissen. „Ich meine, ich bin früher auch nicht gerade ein Heiliger gewesen aber das hier waren meine Nachbarn, Menschen, gute und weniger gute. Für mich hätten die das auch getan.“
Andreas lachte auf. „Wenn Du Dich da nicht irrst.“
„Kann sein.“ Ich dachte für einen Moment ernsthaft darüber nach, wie es umgekehrt hätte aussehen können. Nein! Wie sagte Manuela so schön, - nicht negativ denken! Das verdirbt den Tag. Recht hatte sie! „Ich denke, sie würden es ebenso für mich tun“, sagte ich mit Überzeugung in der Stimme. Solche Dinge unterscheiden uns vom Tier, weißt du?“
„Hör´ mir auf mit Deinen blöden Sprüchen“, fuhr er mich an. „Dieses intellektuelle Gequatsche braucht keiner mehr!“

„Das sehe ich anders“, entgegnete ich.

„Dann mach´ doch, was du nicht lassen kannst“,  sagte er noch und wendete sich zur Tür. „Ich gehe jetzt. Viel Spaß mit deinen Nachbarn“, meinte er noch spöttisch. „Komme ich hier allein raus?“- wollte er noch wissen.
„Ich helfe Dir gern“, sagte Manuela und beeilte sich, ihm die Haustür zu öffnen.

„Wir passen nicht zusammen“, stellte er fest und blickte abfällig zu mir rüber.
„Stimmt“, bemerkte Manuela und schob ihn zur Tür hinaus.
Susanne hatte die Zwischensperre offen gelassen. Am Straßentor drehte sich Andreas noch einmal um.
„Wir sehen uns bestimmt wieder“, rief er Manuela und mir zu. Dann warf er das Tor hinter sich zu und überquerte die Straße. Aus dem Strauchwerk auf der gegenüberliegenden Straßenseite zog er ein Fahrrad, schwang sich darauf und radelte in Richtung Center.
Manuela kam zurück zum Haus. Ich stand in der Türöffnung und sah meinem Bruder nach.
„Da hat man nur einen Bruder und der ist - .“ Ich brach den Satz ab.

„... ein Arschloch!“- beendete ihn Manuela. „Sag´s ruhig, weil es stimmt.“
„Trotzdem Schade“, sagte ich nachdenklich. „Zu zweit hätten wir bessere Chancen, das alles durchzustehen.“
„Vergiss´ es!“- wandte sie schroff ein. „Sei froh, dass er weg ist. In spätestens einer Woche wäre der Streit da gewesen. Und dann?“
Sie blickte mich fragend an.
„Dann schlägt Kain Abel tot“, rutschte es mir heraus.
Sie sah mich an, schüttelte den Kopf. „So was beschreit man nicht! Das denkt man nicht einmal!“

„Ist mir so herausgerutscht“, beruhigte ich sie. „Er ist weg und gut.“
„Hoffentlich für immer!“ rief sie in die Richtung, in der er mit dem Rad verschwunden war.
„Glaube ich nicht“, entgegnete ich. „Wir sollten jetzt anfangen.
Frag´ Susanne, ob sie uns helfen will.“
Während meine Frau zur Nachbarin ging, verstaute ich die Lebensmittel aus den Einkaufswagen im Keller. Immer, wenn ich in unserer ehemaligen Garage stand, in der sich nun die Lebensmittel in Regalen stapelten, begann ich zu rechnen und stellte mir immer wieder die gleiche Frage: - Und was dann? -
Manuela sagte in solchen Situationen: - Dann ist morgen. Lass uns das Heute erledigen! - Leicht gesagt für jemand wie mich, der ununterbrochen Fragen stellte und auf Antworten wartete.
Heute begannen wir deshalb mit unserer menschlichen Pflicht den Nachbarn gegenüber, die mehr als zwanzig Jahre neben uns und mit uns gelebt hatten.

Bis das vorüber war,  hatten die Fragen zu warten.