Kapitel 12 -  Der Eindringling

Wieder vergingen friedliche Tage im schönsten Monat des Jahres und wir freuten uns, vom Rest der Welt in Ruhe gelassen zu werden. Gerd hatte sich entschieden, weiter in seiner Siedlung zu leben. Seiner Tochter ging es von Tag zu Tag besser. Die Frauen tauschten sich über Funk aus. Das bedeutete auch, dass wir mit unseren Ressourcen manchmal aushalfen, wenn die kleine Waldsiedlung, wie wir sie nannten, in eine Mangelsituation geriet. Das betraf vor allem Batterien und Kerzen. Dank den benachbarten Centers bestand in diesen Dingen bei uns kein Mangel. Solange der Vorrat reichte, konnten wir teilen. Ernst würde es dann werden, wenn Batterien und Akkus keine Leistung mehr erbrachten. Alles, was eine Fernbedienung benötigte, fiel dann aus. Teilweise funktionierten elektrische Geräte auch ohne Fernbedienung. Ich hatte darauf früher immer geachtet.
Wir genossen es über die Maßen, den Tag beim Frühstück mit Musik zu beginnen. Lange
vorher hatte ich alles, was wir an
CD´s und DVD´s besaßen, auf Festplatte archiviert, so dass wir jetzt lediglich einen Speicherstift laden mussten und schon gab es abends einen Spielfilm, wenn uns danach war oder tagsüber Musik. Beinahe waren wir dann manchmal geneigt, zu vergessen, was geschehen war. Die lieb gewordenen Gewohnheiten innerhalb unseres Hauses konnten wir beibehalten.Es reichte sogar noch für die beiden Frauen, zu denen wir ein Verlängerungskabel verlegt hatten, so dass auch sie im Haushalt mit elektrischem Strom versorgt werden konnten.
Jetzt, wo die warme und vor allem helle Jahreszeit mit viel Sonnenschein angebrochen war, bestand an Sonnenenergie kein Mangel mehr und dementsprechend voll blieben unsere Speicher. Sollte sich Gerd eines Tages entscheiden, zu uns zu stoßen, könnten wir die Anlage sogar noch um die Paneele auf einem der benachbarten Einfamilienhäuser erweitern. Dann verfügten wir über ausreichend Energie für 3  - 4 Familien.
Durch Gerd hatte ich ja vom räuberischen Treiben der Neustadt-Gang erfahren und das beunruhigte mich. Der Tag würde kommen, an dem ihre Raubzüge in die Nachbarschaft nördlich des Flusses, der in diesem Falle eine natürliche Grenze bildete, nichts mehr einbringen würden.
Wer sich nur vom Raub ernährte und nichts Eigenes schuf, brauchte zum Weiterleben diejenigen, die er berauben konnte, also diejenigen, die etwas schufen. Das war stets so gewesen und daran änderte sich auch jetzt nichts. Unwillkürlich musste ich an die Bestände des benachbarten Einkaufcenters denken. Ziemlich schnell wurde mir klar, wie gering die Vorräte an Nahrungsmitteln in solchen Einrichtungen ausfielen.
Höchstens 20 Prozent der dort angebotenen Waren stellten Nahrungsmittel dar, mal abgesehen von Getränken und Spirituosen. Der Rest bestand aus dem ganzen Zeug, was in jeder ähnlich gearteten Einrichtung angeboten wurde, also Waren jeglichen Bedarfs von Bleistiften über Klamotten und Schuhe bis hin zu Fahrrädern. Dazu kamen dann natürlich noch die Kosmetikartikel. Für den Normalfall funktionierte das durch die tägliche Belieferung. Eine interne Lagerhaltung fand ja aus Kostengründen so gut wie nicht mehr statt. Die Lager des Einzelhandels befanden sich auf Deutschlands Straßennetz. Nachdem diese Belieferung nun ausgefallen war, schrumpften für uns die Bestände der zum Leben verwertbaren Waren in beängstigender Geschwindigkeit. Ähnlich sah es garantiert in allen Einkaufseinrichtungen der Stadt aus. Das bedeutete, jetzt,  nach etwa 2 Monaten der Selbstbedienung und Ausräumens zeichnete sich das Ende des vermeintlichen Schlaraffenlandes ab.
Auch die Ressourcen der Neustadt-Gang schwanden. Irgendwann würden sie die natürliche Grenze des Flusses überschreiten und dann bedeutete dies Krieg!
Zuerst mit meinem Bruder, dann mit dem Schloss, später mit Gerd und dann mit uns auf dem Berg. Ich nährte in mir die stille Hoffnung, dass sich dieses ganze Pack bis dahin selbst zerfleischen würde und wir es nur noch mit einem Rest davon zu tun haben würden. Aber auch dann waren es noch zu viele!
Vom Doc hatten wir seit Wochen nichts mehr gehört. Gerds Familie wusste ebenfalls nicht, wo er abgeblieben war. In seinem Haus jedenfalls hatte er sich nicht wieder sehen lassen. Als zweiten Mann hätte ich ihn bei uns mehr als gut gebrauchen können.
Die Frauen schlugen sich allerdings prächtig! Sie arbeiteten hart und freuten sich wie  kleine Kinder an den eintretenden Erfolgen. Selbst die lange Zeit so ruhige Claudia lebte auf und steckte uns mit ihrer zurück gekehrten Lebensfreude an. Susanne sah in ihr eine Art Tochter und das war gut so.
Wir füllten unsere Vorratslager mit dem, was uns die Felder an den Früchten gaben, die
vorher  in die Erde gebracht worden war oder in Mieten darauf warteten, von uns geholt zu werden. Im nächsten Jahr würde das vielleicht auch noch einmal so funktionieren aber dann war allmählich Schluss mit der Selbstbedienung. Dann waren wir selbst dran. Dann!
Erst einmal dahin kommen!
Erst einmal den nächsten Winter aushalten!
Erst einmal keinen irreparablen Schaden wegstecken müssen! Erst einmal nicht ernsthaft krank werden!
Erst einmal keinen Krieg führen müssen!
Wir waren dafür zu wenige, zu anfällig für alles an Widrigkeiten, die immer eintreten konnten. Es lag in der Natur der Dinge. Nie ging immer alles gut! Irgendwann war mal der Wurm drin und dann?
Diese Gedanken raubten mir den Schlaf. Da konnte Manuela noch so beschwichtigen. Ich fühlte mich allein und mit meinen inzwischen 61 Jahren zu alt, um meine Aufgabe hier noch stemmen zu können.
Bis auf Claudia waren wir eigentlich alle zu alt.
Daran änderte sich auch nichts, wenn Gerd zu uns ziehen würde. Gut, er hatte eine Tochter aber für  die Mädchen mussten wir eher sorgen, als dass sie für uns sorgten. So hatte sich die Gesellschaft im
Davor nun mal entwickelt. Altes Wissen hatte nichts mehr gegolten und das Meiste vom als viel besser gegoltenen neuen Wissen besaß plötzlich keinen Wert mehr.
Auf einmal waren jetzt Gartenbücher unheimlich wertvoll geworden.
Ohne Internet gab es keinen Google mehr, der Fragen beantwortete. Selbst Susanne hatte mit ihrer Arztpraxis nie die Zeit gefunden, sich mit Landwirtschaft oder Gartenbau zu beschäftigen. Dafür hatte sie ihre Leute, die diese Arbeit im Nebenjob für sie verrichteten.
Nun wurde Manuela zum großen Lehrer und ich hatte alles am Hals, was mit dem Begriff handwerkliche Tätigkeiten umschrieben werden konnte.
Ralf, repariere mal das und jenes. Ralf, der Zaun wurde von Rehen niedergetreten.
Ralf, die Pumpe funktioniert nicht mehr.
Ralf, der Abfluss ist verstopft usw. usw.
Ein zweiter Mann musste her! So hätten wir uns abwechseln können, wenn einer auf Beschaffungstour ging, während der andere unsere Siedlung bewachte. Wunschdenken! Der Doc wollte nicht und Gerd? Traute er sich nicht? Lag es an mir? War ich einfach zu dominant? Wieder einmal, obwohl ich das doch eigentlich ablegen wollte?
Konnte sein, dass sich diese Eigenschaft durch die besonderen Verhältnisse trotz besseren Wollens doch in den Vordergrund geschoben hatte. Andere Männer mochten so etwas nicht. Da half nur eins, - sobald wir uns wiedersehen würden, musste ich diesen Punkt ansprechen, ganz offen und ehrlich. Wenn Gerd bemerkte, dass ich diesen, meinen Schwachpunkt kannte, konnte er vorhandene Widerstände vielleicht überwinden. Mir kam es doch gar nicht auf Unterordnung an. Wir mussten zusammenhalten und uns aufeinander verlassen können. Alles Andere war doch einfach Quatsch!
Dann stand plötzlich der zweite Mann vor der Tür! Es handelte sich nur nicht um den Richtigen.  Da stand mein Bruder!
Unsere Festung war verschlossen wie immer. Wir wollten uns nicht mehr überraschen lassen, - wobei, dass mein Bruder wieder bei uns auftauchte, war Überraschung genug.
Diesmal klingelte er. Er hatte also wenigstens das gelernt. Als wir die Klingel hörten, zeigten wir uns nicht sofort offen, sondern schauten von oben aus dem Dachgeschoss zunächst erst einmal, wer da vor der Tür stand.
Als Manuela meinen Bruder sah, konnte sie nicht an sich halten und meinte sofort: „Was will denn dieses Arschloch schon wieder  hier?“
Ich stand hinter ihr am Dachfenster und hoffte, dass er uns nicht sah, weil ich immer noch nicht wusste, ob wir uns melden sollten oder nicht. „Woher soll ich das wissen“, sagte ich nur und schnaufte vernehmlich, wie immer in unangenehmen Situationen.
„Lassen wir den rein?“, fragte sie.
„Müssen wir wohl. Er weiß, dass wir da sind. Einer von uns ist immer im Haus. Das weiß er. Er ist nicht blöd.“
Also öffnete ich das Dachfenster. Mir erschien das abweisender, als wenn ich unten an der Tür gestanden hätte.
Er reagierte sofort und blickte zu uns hinauf.
„Was soll das?“ rief er hoch. „Wollt Ihr mich schon wieder nicht reinlassen? Was ist nur los mit Euch?“
„Moment!“, rief ich runter und zu Manuela gewandt: „Was machen wir mit ihm? Ich will ihn nicht hier haben und Du auch nicht.“
„Also soll er bleiben, wo er ist, - draußen!“
Manuela konnte hart sein. Wenn sie jemanden nicht riechen konnte, dann zeigte sie das ungeschminkt. Eigentlich war sie der diplomatische Teil in unserer Ehe. Sie schob ich stets vor, wenn es ums´s Verhandeln ging. Aber mein Bruder hatte es schon vor langer Zeit geschafft, bei ihr so durch zu sein, dass kein Bemühen dazu geführt hätte, etwas daran zu ändern und er bemühte sich ja auch nicht, sondern tat alles, um ihre Ablehnung nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern noch zu verstärken.
„Mensch Manu, es ist mein Bruder“, wandte ich ein.
„Richtig, es ist Dein Bruder. Mach´ was Du für Richtig hältst. Ich möchte ihn nicht im Haus haben. Ich traue dem Kerl nicht über den Weg. Der führt wieder was im Schilde. Ohne Grund bewegt sich der in seiner Faulheit nicht zu uns hinauf.“
Da hatte sie wohl Recht. Viel Bewegung, etwa einfach nur der Bewegung willen, das war nicht meines Bruders Ding. Nach allem, was ich inzwischen über ihn und seine Umgebung erfahren hatte, machte sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend breit.
„Du bleibst hier oben und hältst die Verbindung zur Gerd. Er soll auf Nachricht warten. Ich versuche, ihn draußen abzufertigen. So sichern wir uns ab, falls Du Recht behalten solltest. Eigentlich geht mir das alles zu weit. Mensch, wir reden von meinem Bruder wie von einem Monster.“
„Vielleicht ist er eins geworden“, stellte Manuela fest und schnappte sich das Walke-Talky. 
Ich ging hinunter und öffnete die Eingangstür. Mein Bruder drückte gegen die Außentür in der Annahme, ich betätigte den elektrischen Öffner so wie früher, tat ich aber nicht. Stattdessen blieb ich auf dem Podest, das sich an unsere Eingangstür anschloss, stehen, steckte beide Hände in die Hosentaschen und wartete einfach ab, was kommen würde.
„Hej, was wird das?“, rief er mir zu, als er merkte, dass er nicht nur nicht eingelassen, sondern offensichtlich auch unerwünscht ist.
„Was glaubst Du?“, rief ich ablehnend zurück.
„Diesmal habe ich doch anständig geklingelt“, meinte er und grinste dabei verächtlich.
„Stimmt“, gab ich zurück. „Hast was gelernt. Was führt Dich zu uns?“
Andreas verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und warf sich so in eine gewisse Pose des Starken. „Du fragst zu viel Bruder“, stellte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme fest. Es hatte etwas von Ungeduld und Wut zur gleichen Zeit. Die Wut hätte ich mir erklären können, die Ungeduld gab mir allerdings Rätsel auf. Neugierig geworden nahm ich mir vor, ihn etwas herauszufordern.
„Du sagst zu wenig Bruder“, bemerkte ich deshalb. „Das Spiel hatten wir schon einmal. Eigentlich hatten wir uns deutlich ausgedrückt. Wir sollten es lassen, uns gegenseitig auf den Geist zu gehen. Wir hier, - Du dort, das genügt und kann so bleiben.“
Er schüttelte langsam den Kopf.
„Geht nicht mehr“, widersprach er. „Die Zeiten ändern sich. Man muss sich anpassen. Wir müssen uns zusammentun! Hatte ich nicht versprochen wiederzukommen? Da bin ich!“
„Erwartest Du vielleicht, dass ich jetzt vor Freude in die Luft springe?“, fragte ich aufgebracht.
„Nö“, widersprach er, „aber dass Du mich rein lässt.“
„Vergiss´ es!“, rief ich ihm zu und es hatte den Klang, als würde ich ausspucken. „Sage jetzt, was Du von uns willst und dann hau´ wieder ab!“
Wieder schüttelte er seltsam langsam den Kopf und grinste. „Das funktioniert leider nicht so Bruderherz. Weißt Du was? Ich ändere jetzt einfach mal die  Spielregeln. Von nun an sage ich Dir, wo´s  lang geht. Wie findest Du das?“
Wieder kam in mir dieses mulmige Gefühl hoch. Alles in mir schrie – Alarm! -. Also ging ich kurz zurück zur Tür und sah Manuela, die auf halber Treppe stand.
„Ich habe alles mitbekommen“, sagte sie ziemlich ängstlich.
„Hier geht was vor, das mir nicht gefällt. Steht die Verbindung zu Gerd?“
„Alles in Ordnung“, antwortete sie. „Er zeigte sich ziemlich beunruhigt . Wir sollten vorsichtig sein. Gerd will sich umgehend auf den Weg zu uns machen, sobald ich ihm ein Zeichen gebe. Soll ich?“
„Das bekommen wir allein hin“, meinte ich noch und drehte mich wieder dem Eingang zu. Der nächste Blick änderte alles.
Mein Bruder stand nun nicht mehr allein vor dem Tor. Neben ihm befand sich nun eine alte Bekannte, die einen Arm von Susanne auf deren Rücken verdreht hatte. Mit der anderen Hand drückte sie ein Messer an  den Hals unserer Freundin. Von Claudia keine Spur.
Ich erkannte die Frau sofort. Die Biker-Braut war zurückgekehrt. Sie gehörte nun wirklich zu Andreas, so wie mir Gerd es beschrieben hatte und sie war wieder aktiv geworden, ganz wie bei der Familie unseres Doktors.
Scheiße!, dachte ich und fühlte mich ziemlich ohnmächtig angesichts der Situation, in der wir uns nun befanden. Hatte ich nicht gerade noch mit meiner Dominanz gegenüber meiner Umgebung gehadert?

Im Augenblick wünschte ich mir, dass ich mehr davon an den Tag gelegt hätte, als es darum gegangen war, das Haus von Susanne so zu schützen, damit nicht jeder ohne Schwierigkeiten ein- und ausgehen konnte. Material dazu gab es im benachbarten Baumarkt genug, nur Susanne wollte nicht in einem Käfig leben, wie sie sich ausdrückte. Da war ja eigentlich auch was dran. Jedes Mal 3 Türen öffnen und wieder schließen, konnte ziemlich lästig sein, beruhigte aber zugleich. Sie sah das eben anders und ich hatte es ihr überlassen, für ihre Sicherheit zu sorgen oder eben auch nicht. Das stellte sich nun als Fehler heraus! Hinterher ist man immer klüger.
„Ruf´ Gerd“, sagte ich leise in den Hausflur hinein, so dass es draußen niemand hören konnte. „Er soll sich vorsehen!“
Manuela war jetzt die Treppe heruntergekommen und sah, was ich gesehen hatte.
„Ich hab´s gleich gewusst“, würgte sie entsetzt hervor. „So ein Dreckskerl!“
Schnell teilte sie Gerd, der am anderen Ende gespannt auf die weitere Entwicklung gewartet hatte, den neuesten Stand mit. Der wartete nicht lange, sondern radelte sofort los. Ich hoffte innig, dass er das mit der Vorsicht ernst nahm. Dann wendete ich mich wieder dem geschehen vor unserem Zaun zu.
„Nun bist Du sprachlos was?“, rief Andreas jetzt zu uns
hinüber.
Er hatte Recht. Ich wusste im Moment nicht, wie ich mit der neuen Situation umgehen sollte. Schlagartig fiel mir ein, was der Doc über den Tod seiner Frau erzählt hatte. Mein zweiter Fehler! Ich hätte dieses Weib damals nicht laufen lassen sollen. Hätte! Hätte! Das half nun auch nichts mehr. Ich taugte nun mal nicht zum kaltblütigen Mörder und diese Frau damals ohne Zwangslage umzubringen, wäre für mich Mord gewesen. Auch wenn wir nun durch sie in eine neue Notsituation geraten waren, änderte das nichts daran, dass ich es selbst mit dem Wissen, dass sie zu allem fähig war, nicht fertig gebracht hätte, mit ihrem Tod einfach reinen Tisch zu machen. Wohin kamen wir, wenn das eine der neuen Regeln wurde, - Reinen Tisch machen - ! Sollte der verbliebene Rest von uns am Ende lediglich dazu auserkoren sein, sich reinweg gegenseitig abzuschlachten? Wenn das wirklich alles war, was blieb, dann waren wir nichts weiter als ein missglücktes Experiment der Evolution. 5 Millionen Jahre Entwicklung für ein viel zu großes Gehirn, das am Ende zu nichts anderem taugte, als die eigene Gattung auszulöschen. Es konnten nicht alle so sein! Es gab andere! Es musste andere Menschen geben!
„Also gut“, sagte ich und zwang mich zur Ruhe. „Lass´ uns reden. Vor allem, sage der Frau, dass sie das Messer von Susannes Hals nehmen soll!“
Wieder grinste Andreas in Richtung der beiden Frauen und dann zu mir hoch.
„Du hast mir nicht zugehört, Bruder. Schade. Weißt Du, ich mag es nicht, wenn jemand meine Zeit verschwendet. Kapiere endlich, dass Du nicht mehr in der Position bist, Forderungen zu stellen. Du lässt mich jetzt schön rein und dann setzen wir uns alle an einen Tisch und besprechen die neuen Regeln. Du magst doch Regeln? Ich auch, wenn es meine sind. Also wird’ s bald?“
Er drückte wieder gegen das Tor und ich betätigte den Öffner. Dann ging ich hinunter und öffnete auch das Zwischentor und unser Zaungatter. 3 Tore und alle waren mit einem Schlag unnütz geworden.
Andreas trat auf mich zu, grinste immer noch angesichts seiner neuen Machtstellung, langte hinter sich und zog nun einen Revolver aus dem Gürtel, den er jetzt auf mich richtete.
„Jetzt kannst Du das Messer einstecken!“, rief er der Frau zu.
Die machte allerdings keinerlei Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten.sondern drückte weiter die Messerspitze tief in Susannes Hals. Die rang nach Luft und hatte sichtlich Mühe, sich so zu verhalten, dass das Messer nicht in die Haut eindringen konnte.
„Und wenn ich nicht will?“, fragte die Frau herausfordernd und ritzte die Haut ein bisschen tiefer ein, so dass etwas Blut am Hals herunterlief.
Nicht dass Andreas störte, was er da mitbekam, nein, das nun auch wieder nicht. Er konnte es einfach nicht ertragen, dass er etwas angeordnet hatte und sie sich ihm nun in seiner neuen Allmacht wieder einmal widersetzte.
„Habe ich Dich danach gefragt?“ fuhr er sie an, so als wäre sie Abfall für ihn. „Halte einfach Deine Fresse und mache gefälligst das, was man Dir sagt. Verstanden? Du nimmst jetzt das Messer runter und sorgst dafür, dass die Frau keine Dummheiten macht. Die ist Ärztin und wertvoller als Du, Du blöde Votze! Du taugst ja nicht einmal richtig zum Vögeln!“
Trotzig warf die so Gescholtene den Kopf in den Nacken. „Wenn Du keinen mehr hoch kriegst, Du Schlappschwanz, dann ist das Deine Sache und nicht meine. Leck´mich doch! Da mach´  ich´s mir doch lieber gleich selber!“
Mit diesem tiefen Einblick in das neue Familienleben meines Bruders senkte sie den Arm, der das Messer hielt und steckte das Messer in den Schaft ihres Stiefels. Susanne holte erst einmal tief Luft. Ich gab ihr schnell ein Zellstofftaschentuch, dass sie an die Wunde an ihrem Hals drückte. Dann begann sie zu weinen. Das kannte ich an ihr nun wieder gar nicht. Sicher  nur der Schreck!Susanne heulte nicht einfach los. Dazu war sie einfach nicht der Typ.
„Wird schon, - keine Angst“, versuchte ich sie zu beruhigen.
Sie blickte mich mit ihren Tränen in den Augen an und schüttelte nur den Kopf.
„Nichts wird“, entgegnete sie tonlos.
Mit einem Schlag ahnte ich, dass das nicht alles gewesen sein konnte, was uns heute zugestoßen war. Meine Augen suchten nach Claudia. Wenn sie in Susannes Haus gewesen waren, wo steckte dann Claudia?
„Wo ist das Mädchen“, wollte ich von Andreas wissen.
Der sah kurz nach seiner Partnerin, dann zu Susanne. „Was weiß ich“, sagte er achselzuckend. „Sie wird noch im Haus sitzen wie ein verängstigtes Rehlein. Vorhin jedenfalls bekam sie keinen Ton mehr heraus.“
„Jetzt auch nicht mehr“, meinte die neue Frau meines Bruders, während sie lässig mit der Hüfte wippte und sich grinsend mit verschränkten Armen an die Eingangssäule des Hauses lehnte.
Wieder begann Susanne aufzuschluchzen. Ich ahnte Schlimmes.
„Sie hat sie einfach erstochen“, würgte Susanne hervor. „Einfach so, - wie zum Spaß. Ich konnte nichts mehr tun. Sie hat mich nicht zu dem Mädchen gelassen und ich musste tatenlos zusehen, wie die Arme verblutete. Warum nur?“ Mit diesen Worten blickte sie voller Hass und Abscheu die Frau an.
Die winkte einfach nur ab. „Die ging mir mit ihrem Geplärre auf den Keks. Jetzt ist die blöde Kuh wenigstens still.“
Andreas drehte sich langsam zu ihr, holte mit der linken Faust aus, schlug jedoch nicht zu.
„Du bist wirklich zu allem zu dämlich! Keinen Moment kann man die Weiber aus den Augen lassen, schon passiert so eine Scheiße! Na ja, was Gutes hat die Sache. Wenigstens ein unnützer Esser weniger!“
„Ist das alles,was Dir dazu einfällt“, schrie ich ihn an. Mein Gott, unser Doktor hatte mir das Mädchen anvertraut und nun? Wir hatten versagt! Ich hatte versagt!
Andreas winkte ab und fuchtelte mit dem Revolver herum, aus dem er seine Überlegenheit bezog.
„Nun krieg Dich mal wieder ein“, meinte er bloß. „War doch nicht Deine Tochter. Oder? Was soll´s. Tot ist tot, da kann man nichts mehr machen. Also rein jetzt und sag´ Deiner Frau, dass ich einen Kaffee haben will.“
Mit diesen Worten drängte er mich ins Haus. Die beiden Frauen folgten.
Wir setzten uns in der Küche an den Tisch. Manuela stand kreidebleich am Schrank und ließ Wasser in den Kocher laufen.
Mein Bruder hatte es sich an der Stirnseite des Tisches bequem gemacht. Susanne und ich saßen links neben ihm auf der Bank. Er wusste inzwischen, dass es ausreichte, wenn er den Revolver auf uns beide richtete, um uns in Schach zu halten.
„Also Bruderherz“, begann er. „Dann lass´ uns mal die Sachen neu regeln.“
Ich lehnte mich vor und blickte ihn voller Verachtung an, auch wenn ihn das wenig zu interessieren schien.
„Dass mit dem Bruder kannst Du lassen“, schnaufte ich ihn an. „Ich habe keinen Bruder mehr! Von heute an bist Du ein  Eindringling hier und mehr nicht! Damit das zwischen uns klar ist.“
„Auch gut“, sagte er lapidar hin. „Das vereinfacht die Sache. Wie möchtest Du denn nun von mir genannt werden, mein Lieber?“
„Das ist mir scheißegal, verstehst Du“, fuhr ich ihn wieder an. „Hauptsache, Du verschwindest schnellstmöglich aus unserem Leben.“
Als Antwort kam von ihm ein selten blödes Grinsen und die Bemerkung: „Das könnt ihr haben, nur nach meinen Regeln, wie gesagt.“
Manuela sah mich unentwegt an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sie kannte mich und wusste, dass ich meinen Zorn nur noch mit Mühe im Zaun halten konnte. Im Moment brachte der aber nichts außer neuen Schwierigkeiten. Ich verstand und senkte nur die Augenlider. Danach atmete sie sichtlich auf.
„Also gut, nach Deinen Regeln“, sagte ich zu ihm. „Gehört die dazu?“ Ich wies mit dem Kopf auf seine neue Partnerin.
Andreas machte eine wegwerfende Geste.
„Sibylle?“, bemerkte er abwertend. „Die ist manchmal nützlich, mehr nicht. Du weißt doch, - Gold oder Weiber - ! Nur dass Gold im Moment an Wert verliert. Das ist das Problem. Da haben wir uns nun wirklich redlich bemüht, so viel wie möglich davon aufzutreiben und jetzt wollen die Arschlöcher im Schloss nichts mehr dafür rausrücken. Nicht zu fassen. Es würde für sie dann irgendwann auch nicht mehr reichen. Nur noch meinen Sprit wollen sie! Und was wenn der dann auch irgendwann für mich nicht mehr reicht? Haben die daran gedacht? Das ist denen doch scheißegal!“
Jetzt ging mir allmählich ein Licht auf. Das so einfache neue Weltbild meines Bruders ging nicht mehr auf. Er hatte offensichtlich ein Problem.
„Wir haben von Deiner Goldsuche in der Stadt gehört“, sprach ich zu ihm und mir war, als spräche ich zu einem Haufen Abfall.
„So, so. Sieh einer an. Ihr habt davon gehört. Nichts wisst Ihr, Ihr überheblichen Schlaumeier!“ blaffte er mich an. „Ihr wisst doch immer alles besser, he? Was wisst Ihr denn davon, in stinkenden Buden herumzusuchen und überall nur auf halb verfallene Kadaver zu stoßen, die einen zum Kotzen bringen? Nichts wisst Ihr. Ihr sitzt hier oben auf Eurem Refugium, lebt in Saus und Braus mit Strom und fließend Wasser. Deine Frau kocht gerade Wasser für einen Kaffee. Nicht zu fassen. Alles wie früher. Einfach genial, wirklich. Das habt Ihr fein hinbekommen, Ihr zwei.“
„Keiner hat Euch dazu gezwungen, die Toten zu schänden!“, fuhr ich ihn an.
„Nun halt aber mal die Luft an, ja!“, schnaubte er zurück. „Wen interessiert es denn noch, was mit den Leichen passiert? Verreckt ist verreckt. Da kräht kein Hahn mehr danach. Wenn deren Krempel für mich von Nutzen ist, dann nehme ich mir, was ich haben will. Kapiert? Es reicht, wenn sie mich mit ihrem Gestank zum Kotzen bringen. Ich rieche sie immer noch, auch wenn ich nicht mehr in ihrer Nähe bin.“
Es erschütterte mich, zu sehen, was einmal mein eigener Bruder gewesen war. Der gleiche Stamm hatte zwei Äste hervorgebracht, die verschiedener nicht hätten sein können. Was hatte nur dazu geführt? Konnte es sein, dass unterschiedliche Weichenstellungen im Verlauf des Lebens einen Menschen so veränderten, das so was dabei herauskam?  Offensichtlich ja.
Meiner Meinung nach stand jeder Mensch in seinem Leben mehrfach an Scheidepunkten, an denen man sich entscheiden musste, welche Richtung die Richtige ist. Versagte man einmal, dann erhielt jeder die Chance, diesen Irrtum wieder auszubügeln, ohne dass dadurch Nachteile für das spätere Leben erwuchsen. Versagte man das zweite Mal, wurde es schon schwieriger. Dann blieben Folgen, die den Betreffenden unter Umständen für den Rest seines Lebens begleiten würden. Versagte man anschließend jedoch das dritte Mal, dann war man auf gut Deutsch  - im Arsch - !
Was konnten solche Scheidepunkte sein, die Berufswahl, die Eheschließung mit einem bis  dahin fremden Menschen, Kredite, Schulden, Fehltritte? Es handelte sich stets um einschneidende Ereignisse und mein Bruder hatte alles dazu beigetragen, um letztendlich – im Arsch – zu sein. Das war aber nicht sein Hauptproblem. Sein Problem bestand darin, dass seiner Auffassung nach immer die Anderen die Schuld an seiner Misere trugen, nie er selbst und so verbog sich allmählich sein früher mal guter Charakter in das jetzige Zerrbild.
„Merkst Du eigentlich, was aus Dir geworden ist?“, wollte ich jetzt von ihm wissen. „Bist Du eigentlich noch ein Mensch? Ich kann keinen sehen!“
Er winkte einfach nur ab. „Du nervst. Wie immer! Eure Meinung interessiert nicht mehr. Jetzt geben wir den Ton an!“
„Deine Jungs machen da mit?“, fragte ich ihn immer noch mit Entsetzen.
„Klar! Sind ja meine Jungs!“, erwiderte er voller Stolz.
„Und wo sind sie jetzt?“ Das wunderte mich wirklich. Weshalb war er nicht in voller Stärke angerückt? Dann hätten sie uns glatt überrollen können.
Andreas winkte ab. „Die haben ihren eigenen Kopf. Sind ja auch alt genug. Es gibt da Ärger mit der Gang in der Neustadt. Wir müssen da ein bisschen mehr Präsenz zeigen, verstehst Du? Die beiden machen das schon. Außerdem ist es Zeit, sich zu trennen. Wir hocken jetzt schon viel zu lange aufeinander. Sibylle und die Jungs können sich nicht riechen. Die Zankerei geht mir mittlerweile auf den Sack. Jeden Tag dasselbe Theater. Das mit dem Scheiß-Schloss funktioniert nicht mehr so richtig. Dadurch nervt die Tochter, weil sie nur noch kleine Rationen für uns besorgen kann. Die kannst Du inzwischen vergessen. Immer diese Bettelei. Für die Jungs reicht es vielleicht. Die ziehen sowieso ihr eigenes Ding durch. Meine Meinung zählt da nicht mehr viel. Ist auch egal. Eben Zeit für Veränderungen. Da habe ich mir gedacht, wir teilen uns. Eine Hälfte der Familie ist nun Euer Gast.“
Er fand das offensichtlich richtig gut. Zu den beiden Jungs, die inzwischen erwachsene Männer geworden waren, hatten Manuela eigentlich immer einen seltenen, jedoch ganz guten Kontakt gehabt, ebenso zu Anke, der Tochter. Als Jugendliche hatten sie sich ziemlich chaotisch verhalten, so dass wir häufig dachten, aus denen wird nie mal was Ordentliches. Sie hatten trotzdem alle drei die Kurve gekriegt. Dass ihnen dann Sibylle, die neue Frau ihres Vaters, nicht in den Kram passte, erschien verständlich.
„Na prima!“, stellte ich fest, immer noch in der Hoffnung, einen Rest von dem wieder zu finden, was einmal mein kleiner Bruder gewesen war. „Da hast Du Dir mit der da ja die richtige Gesellschaft für Dich ausgesucht.“
„Das lass´ mal meine Sorge sein. Die macht schon keinen Ärger. Die weiß ganz genau, dass sie entsorgt wird, sobald sie nicht mehr spurt. Wichtiger ist, dass Ihr zukünftig spurt. Verstanden?“ Bei allem Hohn in seiner Stimme,vermeinte ich noch etwas Unsicherheit herauszuhören. Zweifelte er an seinem eigenen Plan?
Inzwischen begann das Wasser im Kocher zu sprudeln und das Gerät stellte sich aus. Manuela machte keine Anstalten, den Kaffee aufzubrühen und Andreas war zu sehr mit seinem neuen Lebensplan beschäftigt, so dass er auch nicht mehr an den Kaffee dachte, sondern nun darlegte, wie er sich seine Zukunft und die unsere so vorgestellt hatte.
Er wollte hier einfach alles übernehmen, gab er von sich. Jetzt sei er endlich mal dran, was vom Kuchen abzubekommen. Wir sollten froh sein, wenn wir am Leben blieben und konnten in eines der anderen Häuser ziehen und ihn zukünftig mit den Gütern versorgen, die er  von uns einfordern würde. Susanne sollte bei ihm im Haus wohnen und seine neue Frau werden. Für Sibylle hatte er keine Verwendung mehr. Die konnte machen, was sie wollte, würde aber auch von uns versorgt werden, wenn ihr danach wäre. So einfach sah er das.
Wir Drei saßen da und blickten in den Lauf seines Revolvers. So schnell konnte ein Stück Stahl zum Leitbild einer neuen Gesellschaftsordnung werden. Dann forderte er Manuela auf, zusammen mit Sibylle unsere gesamte Bewaffnung herauszurücken. Beide verließen die Küche.
Ich vernahm noch, wie Manuela die Toilette aufsuchte, um sich zu übergeben, während Sibylle vor der teilweise geöffneten Tür stand. Dann stiegen sie die Treppe hoch. Wusste Andreas alles von uns? Kannte er alles, was ich so beschafft hatte? Woher denn? Wir hatten mit niemandem darüber geredet. Nach wenigen Minuten kamen beide wieder zurück und Sibylle legte meine Schwerter und die Gaspistole auf den Tisch. Keine Spur von den Waffen, die noch im Keller lagen.
„Ist das alles?“, wollte er wissen.
„Was weiß ich denn?“, erwiderte Sibylle. „Bin ich Jesus? Such´ doch selber.“
„Ist das alles?“, fragte er mich jetzt. „Finde ich doch noch was, bekommt Deine Frau meinen Ärger darüber zu spüren. Klar?“

Ehe ich antworten konnte, stand Manuela da.
„Das ist alles, Du Scheusal!“, rief sie und spuckte vor ihm aus.
Er lachte sie nur abfällig aus.
„Na prima. Dann gehen wir jetzt beide nach unten und sehen nach, während sich meine Freundin hier mit den beiden beschäftigt. Was hältst Du davon?“
Er blickte Manuela herausfordernd an. Früher war er ihr nie gewachsen gewesen. Sie hatte ihn immer spüren lassen, dass sie in ihm nur einen jämmerlichen Waschlappen gesehen hatte. Damit war er nie richtig fertig geworden. Auch jetzt kam er mit ihrer Verachtung nicht zurecht und überspielte sie mit zur Schau getragener Härte. Er packte sie ziemlich brutal am Arm und wollte sie zur Tür ziehen.
Im gleichen Moment wurde diese aufgeschlagen und Gerd stand da. Alle, auch ich, waren völlig überrascht. Ehe sich Andreas wieder gefangen hatte, warf sich Manuela zur Seite, fiel auf die Arbeitsplatte zu, fing sich ab, packte den Wasserkocher und goss das immer noch heiße Wasser in Richtung Andreas.
Zwar wehrte der gedankenschnell den heißen Guss mit einem Arm ab, bekam aber immer noch genug über Arme, Oberkörper und Gesicht ab, dass er laut aufschreiend sein Gesicht bedeckte, wobei er die Waffe fallenließ.
Gerd griff sofort zu, nahm sie auf und richtete den Revolver auf den immer noch wimmernden Andreas.
Sibylle hatte das Ganze relativ fassungslos beobachtet, während sie neben Susanne gesessen hatte. Jetzt bückte sie sich blitzschnell, um das Messer aus ihrem Stiefelschaft zu ziehen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als sie sich wieder mit dem Messer in der Hand aufrichtete, schlug ihr Susanne mit dem Mut der Verzweiflung und der Kraft des Hasses den Ellbogen ins Gesicht, so dass Sibylles Kopf schlagartig mit gebrochener Nase nach hinten flog. Umgehend entwand ihr Susanne das Messer und stach es der völlig verblüfften Frau in die Brust.
Susanne wusste, wohin sie stechen musste. Wenig später fiel Sibylles Oberkörper nach vorn auf den Tisch und bleib dort liegen.
Gerd hielt meinen Bruder mit dem Revolver in Schach und forderte ihn auf, sich auf den Küchenstuhl zu setzen.
Da standen wir nun, schnell und aufgeregt atmend, gegenüber eine Tote, daneben Susanne und vor uns Andreas, der uns wie ein verwundetes Tier in einer irren Mischung aus Wut und Furcht anstarrte.
Der Revolver zitterte in Gerds Hand.
„Mach´ jetzt keinen Fehler und schön ruhig sitzen bleiben, mein Freund!“, forderte er Andreas auf.

“Das war ja gerade zur rechten Zeit“, meinte er zu uns und blickte wie gebannt auf den am Tisch sitzenden Mann, der Gott sei  Dank nicht mitbekam, wie unsicher Gerd in diesem Augenblick war.
„Wie bist Du nur reingekommen?“, wollte ich wissen.

Jetzt kam ein Lächeln zurück in seine Züge. „Ein Fenster war nur angelehnt und da hing Toilettenpapier raus. Da bin ich rein.“
Jetzt blickte ich voller Bewunderung zu Manuela.
„Wenn ich Dich nicht hätte“, brachte ich voller Stolz hervor und konnte es einfach nicht fassen, wie eiskalt sie reagiert und uns alle gerettet hatte.
„Denkst Du, ich lasse zu, dass wir uns dieser Mörderbande so einfach ergeben? Niemals!“ Dann stand sie auf, ging zu Andreas und riss seinen nach unten gesunkenen Kopf an den Haaren zurück.
„Was machen wir nun mit dem hier?“, fragte sie in den Raum und forderte damit alle auf, ihr Urteil über ihn zu sprechen.
Wir sahen uns an und es herrschte zunächst eine gewisse Sprachlosigkeit. An diese nun notwendige Konsequenz hatte im Überschwang des Sieges niemand gedacht.
„Er hat Strafe verdient!“, äußerte sich als Erster Gerd. „Aber Mord können wir ihm nicht nachweisen.“
„Er ist immer der Drahtzieher!“, klagte ihn wieder Manuela an. „Er muss weg, sonst haben wir nie Ruhe vor diesem Kerl!“

Ich hatte sie noch nie so gesehen. Sie glühte vor Hass auf diesen Menschen, der einmal mein kleiner Bruder gewesen war.
Der blickte wieder irr um sich.
„Das könnt Ihr nicht machen“, jammerte er, während ihm Wasser und Speichel im Gesicht herunterliefen. „Das wäre Mord! Ihr seid keine Mörder!“, schrie er jetzt um sein Leben.
Langsam stand Susanne auf, schob Sibylle seitlich vom Tisch auf den Boden, wo diese leblos lang hinschlug. Dann  stieg sie darüber und bleib vor Andreas mit deren Messer in der Hand stehen.
„Das wäre also Mord“, sprach sie zu ihm. „Aber Claudia war nur ein unnützer Esser. Und was bist Du?“, schrie sie ihn an und stieß mit einem Ruck das Messer in seine auf dem Tisch liegende rechte Hand und nagelte diese an die Tischplatte.
Er schrie mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht auf und versuchte, seinen Arm zu befreien.
Wir hatten eins vergessen, - Susanne war Ärztin. Sie hatte bei Sibylle gewusst, wohin sie stechen musste. Sie wusste es auch, als sie Andreas´ Hand durchbohrte. Die Klinge steckte in seinem Handgelenk und hatte so Knochen, Sehnen und Nerven durchtrennt. Nie wieder würde er diese Hand so benutzen können wie früher. Ohne chirurgischen Eingriff verkam sie zu einem leblosen Anhängsel seines Armes.
Susanne blickte ihn voller Abscheu an und sah dann in die Runde.
„Jetzt braucht Ihr Euch nicht mehr entscheiden, was mit diesem Kerl hier geschehen soll. Ich habe Euch diese Entscheidung abgenommen. Ihr könnt ihn jetzt so, wie er ist, gehen lassen. Wenn er das nächste Mal pinkeln muss, wird er sich erinnern, dass er mal eine rechte Hand für seinen Fortsatz da unten hatte. Und wenn ihm das nicht reicht, schneide ich ihm das Ding da kunstgerecht ab, falls er es noch einmal wagt, sich einem von uns zu nähern. Geht das in Deinen verdammten Schädel Du Stück Dreck?“
Sie schleuderte ihm ihre Worte förmlich ins Gesicht. Dann zog sie ohne Vorwarnung die Klinge aus dem Tisch und dem Handgelenk, setzte sich daneben und verband die Wunde, so, als wäre gerade eben nichts geschehen.
Ich beobachte sie schweigend bei ihrer Arbeit, denn nichts anderes tat sie da. Sie machte einfach wieder ihre Arbeit an einem Patienten.
Eigentlich brauchte ich für diese Frauen keinen zweiten Mann, der mich in ihrem Schutz unterstützen könnte. Wir brauchten Frieden und die Hoffnung, endlich in Ruhe unser Leben führen zu können.
Nachdem wir meinen Bruder hatten gehen lassen, gebeugt, verletzt, gedemütigt, niedergeworfen aus dem Olymp der Macht
einer kleinen Waffe hinab in die Gosse seines nun folgenden einhändigen Elends, glaubten wir allen Ernstes, nun diese Ruhe erzwungen zu haben.
Seine Sibylle fand ihr Grab in der Nähe der anderen Toten der Siedlung, nur dass ihr Ausweis an der Tafel der Toten fehlte.
Als wir Claudia ins Grab legten, stand auf einmal unser Doc hinter uns. Wie aus dem Nichts tauchte er einfach auf und verabschiedete sich von seiner Tochter.
Er zog in das Haus von Susanne und blieb dort.