Kapitel 12 - Der Eindringling
Wieder
vergingen friedliche Tage im schönsten Monat des Jahres und wir
freuten uns, vom Rest der Welt in Ruhe gelassen zu werden. Gerd
hatte sich entschieden, weiter in seiner Siedlung zu leben. Seiner
Tochter ging es von Tag zu Tag besser. Die Frauen tauschten sich
über Funk aus. Das bedeutete auch, dass wir mit unseren Ressourcen
manchmal aushalfen, wenn die kleine Waldsiedlung, wie wir sie
nannten, in eine Mangelsituation geriet. Das betraf vor allem
Batterien und Kerzen. Dank den benachbarten Centers bestand in
diesen Dingen bei uns kein Mangel. Solange der Vorrat reichte,
konnten wir teilen. Ernst würde es dann werden, wenn Batterien und
Akkus keine Leistung mehr erbrachten. Alles, was eine Fernbedienung
benötigte, fiel dann aus. Teilweise funktionierten elektrische
Geräte auch ohne Fernbedienung. Ich hatte darauf früher immer geachtet.
Wir genossen es über die Maßen, den Tag beim Frühstück mit Musik zu
beginnen. Lange vorher hatte ich
alles, was wir an
CD´s und DVD´s besaßen, auf Festplatte archiviert, so dass wir
jetzt lediglich einen Speicherstift laden mussten und schon gab es
abends einen Spielfilm, wenn uns danach war oder tagsüber Musik.
Beinahe waren wir dann manchmal geneigt, zu vergessen, was
geschehen war. Die lieb gewordenen Gewohnheiten innerhalb unseres
Hauses konnten wir beibehalten.Es reichte sogar noch für die beiden
Frauen, zu denen wir ein Verlängerungskabel verlegt hatten, so dass
auch sie im Haushalt mit elektrischem Strom versorgt werden
konnten.
Jetzt, wo die warme und vor allem helle Jahreszeit mit viel
Sonnenschein angebrochen war, bestand an Sonnenenergie kein Mangel
mehr und dementsprechend voll blieben unsere Speicher. Sollte sich
Gerd eines Tages entscheiden, zu uns zu stoßen, könnten wir die
Anlage sogar noch um die Paneele auf einem der benachbarten
Einfamilienhäuser erweitern. Dann verfügten wir über ausreichend
Energie für 3 - 4 Familien.
Durch Gerd hatte ich ja vom räuberischen Treiben der Neustadt-Gang
erfahren und das beunruhigte mich. Der Tag würde kommen, an dem
ihre Raubzüge in die Nachbarschaft nördlich des Flusses, der in
diesem Falle eine natürliche Grenze bildete, nichts mehr einbringen
würden.
Wer sich nur vom Raub ernährte und nichts Eigenes schuf, brauchte
zum Weiterleben diejenigen, die er berauben konnte, also
diejenigen, die etwas schufen. Das war stets so gewesen und daran
änderte sich auch jetzt nichts. Unwillkürlich musste ich an die
Bestände des benachbarten Einkaufcenters denken. Ziemlich schnell
wurde mir klar, wie gering die Vorräte an Nahrungsmitteln in
solchen Einrichtungen ausfielen.
Höchstens 20 Prozent der dort angebotenen Waren stellten
Nahrungsmittel dar, mal abgesehen von Getränken und Spirituosen.
Der Rest bestand aus dem ganzen Zeug, was in jeder ähnlich
gearteten Einrichtung angeboten wurde, also Waren jeglichen Bedarfs
von Bleistiften über Klamotten und Schuhe bis hin zu Fahrrädern.
Dazu kamen dann natürlich noch die Kosmetikartikel. Für den
Normalfall funktionierte das durch die tägliche Belieferung. Eine
interne Lagerhaltung fand ja aus Kostengründen so gut wie nicht
mehr statt. Die Lager des Einzelhandels befanden sich auf
Deutschlands Straßennetz. Nachdem diese Belieferung nun ausgefallen
war, schrumpften für uns die Bestände der zum Leben verwertbaren
Waren in beängstigender Geschwindigkeit. Ähnlich sah es garantiert
in allen Einkaufseinrichtungen der Stadt aus. Das bedeutete,
jetzt, nach etwa 2 Monaten der Selbstbedienung und Ausräumens
zeichnete sich das Ende des vermeintlichen Schlaraffenlandes
ab.
Auch die Ressourcen der Neustadt-Gang schwanden. Irgendwann würden
sie die natürliche Grenze des Flusses überschreiten und dann
bedeutete dies Krieg!
Zuerst mit meinem Bruder, dann mit dem Schloss, später mit Gerd und
dann mit uns auf dem Berg. Ich nährte in mir die stille Hoffnung,
dass sich dieses ganze Pack bis dahin selbst zerfleischen würde und
wir es nur noch mit einem Rest davon zu tun haben würden. Aber auch
dann waren es noch zu viele!
Vom Doc hatten wir seit Wochen nichts mehr gehört. Gerds Familie
wusste ebenfalls nicht, wo er abgeblieben war. In seinem Haus
jedenfalls hatte er sich nicht wieder sehen lassen. Als zweiten
Mann hätte ich ihn bei uns mehr als gut gebrauchen
können.
Die Frauen schlugen sich allerdings prächtig! Sie arbeiteten hart
und freuten sich wie kleine Kinder an den eintretenden
Erfolgen. Selbst die lange Zeit so ruhige Claudia lebte auf und
steckte uns mit ihrer zurück gekehrten Lebensfreude an. Susanne sah
in ihr eine Art Tochter und das war gut so.
Wir füllten unsere Vorratslager mit dem, was uns die Felder an den
Früchten gaben, die vorher in die
Erde gebracht worden war oder in Mieten darauf warteten, von uns
geholt zu werden. Im nächsten Jahr würde das vielleicht auch noch
einmal so funktionieren aber dann war allmählich Schluss mit der
Selbstbedienung. Dann waren wir selbst dran. Dann!
Erst einmal dahin kommen!
Erst einmal den nächsten Winter aushalten!
Erst einmal keinen irreparablen Schaden wegstecken müssen! Erst
einmal nicht ernsthaft krank werden!
Erst einmal keinen Krieg führen müssen!
Wir waren dafür zu wenige, zu anfällig für alles an Widrigkeiten,
die immer eintreten konnten. Es lag in der Natur der Dinge. Nie
ging immer alles gut! Irgendwann war mal der Wurm drin und
dann?
Diese Gedanken raubten mir den Schlaf. Da konnte Manuela noch so
beschwichtigen. Ich fühlte mich allein und mit meinen inzwischen 61
Jahren zu alt, um meine Aufgabe hier noch stemmen zu
können.
Bis auf Claudia waren wir eigentlich alle zu alt.
Daran änderte sich auch nichts, wenn Gerd zu uns ziehen würde. Gut,
er hatte eine Tochter aber für die Mädchen mussten wir eher
sorgen, als dass sie für uns sorgten. So hatte sich die
Gesellschaft im Davor nun mal
entwickelt. Altes Wissen hatte nichts mehr gegolten und das Meiste
vom als viel besser gegoltenen neuen Wissen besaß plötzlich keinen
Wert mehr.
Auf einmal waren jetzt Gartenbücher unheimlich wertvoll
geworden.
Ohne Internet gab es keinen Google mehr, der Fragen beantwortete.
Selbst Susanne hatte mit ihrer Arztpraxis nie die Zeit gefunden,
sich mit Landwirtschaft oder Gartenbau zu beschäftigen. Dafür hatte
sie ihre Leute, die diese Arbeit im Nebenjob für sie
verrichteten.
Nun wurde Manuela zum großen Lehrer und ich hatte alles am Hals,
was mit dem Begriff handwerkliche Tätigkeiten umschrieben werden
konnte.
Ralf, repariere mal das und jenes. Ralf, der Zaun wurde von Rehen
niedergetreten.
Ralf, die Pumpe funktioniert nicht mehr.
Ralf, der Abfluss ist verstopft usw. usw.
Ein zweiter Mann musste her! So hätten wir uns abwechseln können,
wenn einer auf Beschaffungstour ging, während der andere unsere
Siedlung bewachte. Wunschdenken! Der Doc wollte nicht und Gerd?
Traute er sich nicht? Lag es an mir? War ich einfach zu dominant?
Wieder einmal, obwohl ich das doch eigentlich ablegen
wollte?
Konnte sein, dass sich diese Eigenschaft durch die besonderen
Verhältnisse trotz besseren Wollens doch in den Vordergrund
geschoben hatte. Andere Männer mochten so etwas nicht. Da half nur
eins, - sobald wir uns wiedersehen würden, musste ich diesen Punkt
ansprechen, ganz offen und ehrlich. Wenn Gerd bemerkte, dass ich
diesen, meinen Schwachpunkt kannte, konnte er vorhandene
Widerstände vielleicht überwinden. Mir kam es doch gar nicht auf
Unterordnung an. Wir mussten zusammenhalten und uns aufeinander
verlassen können. Alles Andere war doch einfach Quatsch!
Dann stand plötzlich der zweite Mann vor der Tür! Es handelte sich
nur nicht um den Richtigen. Da stand mein Bruder!
Unsere Festung war verschlossen wie immer. Wir wollten uns nicht
mehr überraschen lassen, - wobei, dass mein Bruder wieder bei uns
auftauchte, war Überraschung genug.
Diesmal klingelte er. Er hatte also wenigstens das gelernt. Als wir
die Klingel hörten, zeigten wir uns nicht sofort offen, sondern
schauten von oben aus dem Dachgeschoss zunächst erst einmal, wer da
vor der Tür stand.
Als Manuela meinen Bruder sah, konnte sie nicht an sich halten und
meinte sofort: „Was will denn dieses Arschloch schon wieder
hier?“
Ich stand hinter ihr am Dachfenster und hoffte, dass er uns nicht
sah, weil ich immer noch nicht wusste, ob wir uns melden sollten
oder nicht. „Woher soll ich das wissen“, sagte ich nur und
schnaufte vernehmlich, wie immer in unangenehmen
Situationen.
„Lassen wir den rein?“, fragte sie.
„Müssen wir wohl. Er weiß, dass wir da sind. Einer von uns ist
immer im Haus. Das weiß er. Er ist nicht blöd.“
Also öffnete ich das Dachfenster. Mir erschien das abweisender, als
wenn ich unten an der Tür gestanden hätte.
Er reagierte sofort und blickte zu uns hinauf.
„Was soll das?“ rief er hoch. „Wollt Ihr mich schon wieder nicht
reinlassen? Was ist nur los mit Euch?“
„Moment!“, rief ich runter und zu Manuela gewandt: „Was machen wir
mit ihm? Ich will ihn nicht hier haben und Du auch
nicht.“
„Also soll er bleiben, wo er ist, - draußen!“
Manuela konnte hart sein. Wenn sie jemanden nicht riechen konnte,
dann zeigte sie das ungeschminkt. Eigentlich war sie der
diplomatische Teil in unserer Ehe. Sie schob ich stets vor, wenn es
ums´s Verhandeln ging. Aber mein Bruder hatte es schon vor langer
Zeit geschafft, bei ihr so durch zu sein, dass kein Bemühen dazu
geführt hätte, etwas daran zu ändern und er bemühte sich ja auch
nicht, sondern tat alles, um ihre Ablehnung nicht nur aufrecht zu
erhalten, sondern noch zu verstärken.
„Mensch Manu, es ist mein Bruder“, wandte ich ein.
„Richtig, es ist Dein Bruder. Mach´ was Du für Richtig hältst. Ich
möchte ihn nicht im Haus haben. Ich traue dem Kerl nicht über den
Weg. Der führt wieder was im Schilde. Ohne Grund bewegt sich der in
seiner Faulheit nicht zu uns hinauf.“
Da hatte sie wohl Recht. Viel Bewegung, etwa einfach nur der
Bewegung willen, das war nicht meines Bruders Ding. Nach allem, was
ich inzwischen über ihn und seine Umgebung erfahren hatte, machte
sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend breit.
„Du bleibst hier oben und hältst die Verbindung zur Gerd. Er soll
auf Nachricht warten. Ich versuche, ihn draußen abzufertigen. So
sichern wir uns ab, falls Du Recht behalten solltest. Eigentlich
geht mir das alles zu weit. Mensch, wir reden von meinem Bruder wie
von einem Monster.“
„Vielleicht ist er eins geworden“, stellte Manuela fest und
schnappte sich das Walke-Talky.
Ich ging hinunter und öffnete die Eingangstür. Mein Bruder drückte
gegen die Außentür in der Annahme, ich betätigte den elektrischen
Öffner so wie früher, tat ich aber nicht. Stattdessen blieb ich auf
dem Podest, das sich an unsere Eingangstür anschloss, stehen,
steckte beide Hände in die Hosentaschen und wartete einfach ab, was
kommen würde.
„Hej, was wird das?“, rief er mir zu, als er merkte, dass er nicht
nur nicht eingelassen, sondern offensichtlich auch unerwünscht
ist.
„Was glaubst Du?“, rief ich ablehnend zurück.
„Diesmal habe ich doch anständig geklingelt“, meinte er und grinste
dabei verächtlich.
„Stimmt“, gab ich zurück. „Hast was gelernt. Was führt Dich zu
uns?“
Andreas verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und warf sich
so in eine gewisse Pose des Starken. „Du fragst zu viel Bruder“,
stellte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme fest. Es
hatte etwas von Ungeduld und Wut zur gleichen Zeit. Die Wut hätte
ich mir erklären können, die Ungeduld gab mir allerdings Rätsel
auf. Neugierig geworden nahm ich mir vor, ihn etwas
herauszufordern.
„Du sagst zu wenig Bruder“, bemerkte ich deshalb. „Das Spiel hatten
wir schon einmal. Eigentlich hatten wir uns deutlich ausgedrückt.
Wir sollten es lassen, uns gegenseitig auf den Geist zu gehen. Wir
hier, - Du dort, das genügt und kann so bleiben.“
Er schüttelte langsam den Kopf.
„Geht nicht mehr“, widersprach er. „Die Zeiten ändern sich. Man
muss sich anpassen. Wir müssen uns zusammentun! Hatte ich nicht
versprochen wiederzukommen? Da bin ich!“
„Erwartest Du vielleicht, dass ich jetzt vor Freude in die Luft
springe?“, fragte ich aufgebracht.
„Nö“, widersprach er, „aber dass Du mich rein lässt.“
„Vergiss´ es!“, rief ich ihm zu und es hatte den Klang, als würde
ich ausspucken. „Sage jetzt, was Du von uns willst und dann hau´
wieder ab!“
Wieder schüttelte er seltsam langsam den Kopf und grinste. „Das
funktioniert leider nicht so Bruderherz. Weißt Du was? Ich ändere
jetzt einfach mal die Spielregeln. Von nun an sage ich Dir,
wo´s lang geht. Wie findest Du das?“
Wieder kam in mir dieses mulmige Gefühl hoch. Alles in mir schrie –
Alarm! -. Also ging ich kurz zurück zur Tür und sah Manuela, die
auf halber Treppe stand.
„Ich habe alles mitbekommen“, sagte sie ziemlich
ängstlich.
„Hier geht was vor, das mir nicht gefällt. Steht die Verbindung zu
Gerd?“
„Alles in Ordnung“, antwortete sie. „Er zeigte sich ziemlich
beunruhigt . Wir sollten vorsichtig sein. Gerd will sich umgehend
auf den Weg zu uns machen, sobald ich ihm ein Zeichen gebe. Soll
ich?“
„Das bekommen wir allein hin“, meinte ich noch und drehte mich
wieder dem Eingang zu. Der nächste Blick änderte alles.
Mein Bruder stand nun nicht mehr allein vor dem Tor. Neben ihm
befand sich nun eine alte Bekannte, die einen Arm von Susanne auf
deren Rücken verdreht hatte. Mit der anderen Hand drückte sie ein
Messer an den Hals unserer Freundin. Von Claudia keine
Spur.
Ich erkannte die Frau sofort. Die Biker-Braut war zurückgekehrt.
Sie gehörte nun wirklich zu Andreas, so wie mir Gerd es beschrieben
hatte und sie war wieder aktiv geworden, ganz wie bei der Familie
unseres Doktors.
Scheiße!, dachte ich und fühlte mich ziemlich ohnmächtig angesichts
der Situation, in der wir uns nun befanden. Hatte ich nicht gerade
noch mit meiner Dominanz gegenüber meiner Umgebung
gehadert?
Im Augenblick
wünschte ich mir, dass ich mehr davon an den Tag gelegt hätte, als
es darum gegangen war, das Haus von Susanne so zu schützen, damit
nicht jeder ohne Schwierigkeiten ein- und ausgehen konnte. Material
dazu gab es im benachbarten Baumarkt genug, nur Susanne wollte
nicht in einem Käfig leben, wie sie sich ausdrückte. Da war ja
eigentlich auch was dran. Jedes Mal 3 Türen öffnen und wieder
schließen, konnte ziemlich lästig sein, beruhigte aber zugleich.
Sie sah das eben anders und ich hatte es ihr überlassen, für ihre
Sicherheit zu sorgen oder eben auch nicht. Das stellte sich nun als
Fehler heraus! Hinterher ist man immer klüger.
„Ruf´ Gerd“, sagte ich leise in den Hausflur hinein, so dass es
draußen niemand hören konnte. „Er soll sich vorsehen!“
Manuela war jetzt die Treppe heruntergekommen und sah, was ich
gesehen hatte.
„Ich hab´s gleich gewusst“, würgte sie entsetzt hervor. „So ein
Dreckskerl!“
Schnell teilte sie Gerd, der am anderen Ende gespannt auf die
weitere Entwicklung gewartet hatte, den neuesten Stand mit. Der
wartete nicht lange, sondern radelte sofort los. Ich hoffte innig,
dass er das mit der Vorsicht ernst nahm. Dann wendete ich mich
wieder dem geschehen vor unserem Zaun zu.
„Nun bist Du sprachlos was?“, rief Andreas jetzt zu uns
hinüber.
Er hatte Recht. Ich wusste im Moment nicht, wie ich mit der neuen
Situation umgehen sollte. Schlagartig fiel mir ein, was der Doc
über den Tod seiner Frau erzählt hatte. Mein zweiter Fehler! Ich
hätte dieses Weib damals nicht laufen lassen sollen. Hätte! Hätte!
Das half nun auch nichts mehr. Ich taugte nun mal nicht zum
kaltblütigen Mörder und diese Frau damals ohne Zwangslage
umzubringen, wäre für mich Mord gewesen. Auch wenn wir nun durch
sie in eine neue Notsituation geraten waren, änderte das nichts
daran, dass ich es selbst mit dem Wissen, dass sie zu allem fähig
war, nicht fertig gebracht hätte, mit ihrem Tod einfach reinen
Tisch zu machen. Wohin kamen wir, wenn das eine der neuen Regeln
wurde, - Reinen Tisch machen - ! Sollte der verbliebene Rest von
uns am Ende lediglich dazu auserkoren sein, sich reinweg
gegenseitig abzuschlachten? Wenn das wirklich alles war, was blieb,
dann waren wir nichts weiter als ein missglücktes Experiment der
Evolution. 5 Millionen Jahre Entwicklung für ein viel zu großes
Gehirn, das am Ende zu nichts anderem taugte, als die eigene
Gattung auszulöschen. Es konnten nicht alle so sein! Es gab andere!
Es musste andere Menschen geben!
„Also gut“, sagte ich und zwang mich zur Ruhe. „Lass´ uns reden.
Vor allem, sage der Frau, dass sie das Messer von Susannes Hals
nehmen soll!“
Wieder grinste Andreas in Richtung der beiden Frauen und dann zu
mir hoch.
„Du hast mir nicht zugehört, Bruder. Schade. Weißt Du, ich mag es
nicht, wenn jemand meine Zeit verschwendet. Kapiere endlich, dass
Du nicht mehr in der Position bist, Forderungen zu stellen. Du
lässt mich jetzt schön rein und dann setzen wir uns alle an einen
Tisch und besprechen die neuen Regeln. Du magst doch Regeln? Ich
auch, wenn es meine sind. Also wird’ s bald?“
Er drückte wieder gegen das Tor und ich betätigte den Öffner. Dann
ging ich hinunter und öffnete auch das Zwischentor und unser
Zaungatter. 3 Tore und alle waren mit einem Schlag unnütz
geworden.
Andreas trat auf mich zu, grinste immer noch angesichts seiner
neuen Machtstellung, langte hinter sich und zog nun einen Revolver
aus dem Gürtel, den er jetzt auf mich richtete.
„Jetzt kannst Du das Messer einstecken!“, rief er der Frau
zu.
Die machte allerdings keinerlei Anstalten, der Aufforderung Folge
zu leisten.sondern drückte weiter die Messerspitze tief in Susannes
Hals. Die rang nach Luft und hatte sichtlich Mühe, sich so zu
verhalten, dass das Messer nicht in die Haut eindringen
konnte.
„Und wenn ich nicht will?“, fragte die Frau herausfordernd und
ritzte die Haut ein bisschen tiefer ein, so dass etwas Blut am Hals
herunterlief.
Nicht dass Andreas störte, was er da mitbekam, nein, das nun auch
wieder nicht. Er konnte es einfach nicht ertragen, dass er etwas
angeordnet hatte und sie sich ihm nun in seiner neuen Allmacht
wieder einmal widersetzte.
„Habe ich Dich danach gefragt?“ fuhr er sie an, so als wäre sie
Abfall für ihn. „Halte einfach Deine Fresse und mache gefälligst
das, was man Dir sagt. Verstanden? Du nimmst jetzt das Messer
runter und sorgst dafür, dass die Frau keine Dummheiten macht. Die
ist Ärztin und wertvoller als Du, Du blöde Votze! Du taugst ja
nicht einmal richtig zum Vögeln!“
Trotzig warf die so Gescholtene den Kopf in den Nacken. „Wenn Du
keinen mehr hoch kriegst, Du Schlappschwanz, dann ist das Deine
Sache und nicht meine. Leck´mich doch! Da mach´ ich´s mir
doch lieber gleich selber!“
Mit diesem tiefen Einblick in das neue Familienleben meines Bruders
senkte sie den Arm, der das Messer hielt und steckte das Messer in
den Schaft ihres Stiefels. Susanne holte erst einmal tief Luft. Ich
gab ihr schnell ein Zellstofftaschentuch, dass sie an die Wunde an
ihrem Hals drückte. Dann begann sie zu weinen. Das kannte ich an
ihr nun wieder gar nicht. Sicher nur der Schreck!Susanne
heulte nicht einfach los. Dazu war sie einfach nicht der
Typ.
„Wird schon, - keine Angst“, versuchte ich sie zu
beruhigen.
Sie blickte mich mit ihren Tränen in den Augen an und schüttelte
nur den Kopf.
„Nichts wird“, entgegnete sie tonlos.
Mit einem Schlag ahnte ich, dass das nicht alles gewesen sein
konnte, was uns heute zugestoßen war. Meine Augen suchten nach
Claudia. Wenn sie in Susannes Haus gewesen waren, wo steckte dann
Claudia?
„Wo ist das Mädchen“, wollte ich von Andreas wissen.
Der sah kurz nach seiner Partnerin, dann zu Susanne. „Was weiß
ich“, sagte er achselzuckend. „Sie wird noch im Haus sitzen wie ein
verängstigtes Rehlein. Vorhin jedenfalls bekam sie keinen Ton mehr
heraus.“
„Jetzt auch nicht mehr“, meinte die neue Frau meines Bruders,
während sie lässig mit der Hüfte wippte und sich grinsend mit
verschränkten Armen an die Eingangssäule des Hauses
lehnte.
Wieder begann Susanne aufzuschluchzen. Ich ahnte
Schlimmes.
„Sie hat sie einfach erstochen“, würgte Susanne hervor. „Einfach
so, - wie zum Spaß. Ich konnte nichts mehr tun. Sie hat mich nicht
zu dem Mädchen gelassen und ich musste tatenlos zusehen, wie die
Arme verblutete. Warum nur?“ Mit diesen Worten blickte sie voller
Hass und Abscheu die Frau an.
Die winkte einfach nur ab. „Die ging mir mit ihrem Geplärre auf den
Keks. Jetzt ist die blöde Kuh wenigstens still.“
Andreas drehte sich langsam zu ihr, holte mit der linken Faust aus,
schlug jedoch nicht zu.
„Du bist wirklich zu allem zu dämlich! Keinen Moment kann man die
Weiber aus den Augen lassen, schon passiert so eine Scheiße! Na ja,
was Gutes hat die Sache. Wenigstens ein unnützer Esser
weniger!“
„Ist das alles,was Dir dazu einfällt“, schrie ich ihn an. Mein
Gott, unser Doktor hatte mir das Mädchen anvertraut und nun? Wir
hatten versagt! Ich hatte versagt!
Andreas winkte ab und fuchtelte mit dem Revolver herum, aus dem er
seine Überlegenheit bezog.
„Nun krieg Dich mal wieder ein“, meinte er bloß. „War doch nicht
Deine Tochter. Oder? Was soll´s. Tot ist tot, da kann man nichts
mehr machen. Also rein jetzt und sag´ Deiner Frau, dass ich einen
Kaffee haben will.“
Mit diesen Worten drängte er mich ins Haus. Die beiden Frauen
folgten.
Wir setzten uns in der Küche an den Tisch. Manuela stand
kreidebleich am Schrank und ließ Wasser in den Kocher
laufen.
Mein Bruder hatte es sich an der Stirnseite des Tisches bequem
gemacht. Susanne und ich saßen links neben ihm auf der Bank. Er
wusste inzwischen, dass es ausreichte, wenn er den Revolver auf uns
beide richtete, um uns in Schach zu halten.
„Also Bruderherz“, begann er. „Dann lass´ uns mal die Sachen neu
regeln.“
Ich lehnte mich vor und blickte ihn voller Verachtung an, auch wenn
ihn das wenig zu interessieren schien.
„Dass mit dem Bruder kannst Du lassen“, schnaufte ich ihn an. „Ich
habe keinen Bruder mehr! Von heute an bist Du ein
Eindringling hier und mehr nicht! Damit das zwischen uns klar
ist.“
„Auch gut“, sagte er lapidar hin. „Das vereinfacht die Sache. Wie
möchtest Du denn nun von mir genannt werden, mein
Lieber?“
„Das ist mir scheißegal, verstehst Du“, fuhr ich ihn wieder an.
„Hauptsache, Du verschwindest schnellstmöglich aus unserem
Leben.“
Als Antwort kam von ihm ein selten blödes Grinsen und die
Bemerkung: „Das könnt ihr haben, nur nach meinen Regeln, wie
gesagt.“
Manuela sah mich unentwegt an und schüttelte fast unmerklich den
Kopf. Sie kannte mich und wusste, dass ich meinen Zorn nur noch mit
Mühe im Zaun halten konnte. Im Moment brachte der aber nichts außer
neuen Schwierigkeiten. Ich verstand und senkte nur die Augenlider.
Danach atmete sie sichtlich auf.
„Also gut, nach Deinen Regeln“, sagte ich zu ihm. „Gehört die
dazu?“ Ich wies mit dem Kopf auf seine neue Partnerin.
Andreas machte eine wegwerfende Geste.
„Sibylle?“, bemerkte er abwertend. „Die ist manchmal nützlich, mehr
nicht. Du weißt doch, - Gold oder Weiber - ! Nur dass Gold im
Moment an Wert verliert. Das ist das Problem. Da haben wir uns nun
wirklich redlich bemüht, so viel wie möglich davon aufzutreiben und
jetzt wollen die Arschlöcher im Schloss nichts mehr dafür
rausrücken. Nicht zu fassen. Es würde für sie dann irgendwann auch
nicht mehr reichen. Nur noch meinen Sprit wollen sie! Und was wenn
der dann auch irgendwann für mich nicht mehr reicht? Haben die
daran gedacht? Das ist denen doch scheißegal!“
Jetzt ging mir allmählich ein Licht auf. Das so einfache neue
Weltbild meines Bruders ging nicht mehr auf. Er hatte
offensichtlich ein Problem.
„Wir haben von Deiner Goldsuche in der Stadt gehört“, sprach ich zu
ihm und mir war, als spräche ich zu einem Haufen Abfall.
„So, so. Sieh einer an. Ihr habt davon gehört. Nichts wisst Ihr,
Ihr überheblichen Schlaumeier!“ blaffte er mich an. „Ihr wisst doch
immer alles besser, he? Was wisst Ihr denn davon, in stinkenden
Buden herumzusuchen und überall nur auf halb verfallene Kadaver zu
stoßen, die einen zum Kotzen bringen? Nichts wisst Ihr. Ihr sitzt
hier oben auf Eurem Refugium, lebt in Saus und Braus mit Strom und
fließend Wasser. Deine Frau kocht gerade Wasser für einen Kaffee.
Nicht zu fassen. Alles wie früher. Einfach genial, wirklich. Das
habt Ihr fein hinbekommen, Ihr zwei.“
„Keiner hat Euch dazu gezwungen, die Toten zu schänden!“, fuhr ich
ihn an.
„Nun halt aber mal die Luft an, ja!“, schnaubte er zurück. „Wen
interessiert es denn noch, was mit den Leichen passiert? Verreckt
ist verreckt. Da kräht kein Hahn mehr danach. Wenn deren Krempel
für mich von Nutzen ist, dann nehme ich mir, was ich haben will.
Kapiert? Es reicht, wenn sie mich mit ihrem Gestank zum Kotzen
bringen. Ich rieche sie immer noch, auch wenn ich nicht mehr in
ihrer Nähe bin.“
Es erschütterte mich, zu sehen, was einmal mein eigener Bruder
gewesen war. Der gleiche Stamm hatte zwei Äste hervorgebracht, die
verschiedener nicht hätten sein können. Was hatte nur dazu geführt?
Konnte es sein, dass unterschiedliche Weichenstellungen im Verlauf
des Lebens einen Menschen so veränderten, das so was dabei
herauskam? Offensichtlich ja.
Meiner Meinung nach stand jeder Mensch in seinem Leben mehrfach an
Scheidepunkten, an denen man sich entscheiden musste, welche
Richtung die Richtige ist. Versagte man einmal, dann erhielt jeder
die Chance, diesen Irrtum wieder auszubügeln, ohne dass dadurch
Nachteile für das spätere Leben erwuchsen. Versagte man das zweite
Mal, wurde es schon schwieriger. Dann blieben Folgen, die den
Betreffenden unter Umständen für den Rest seines Lebens begleiten
würden. Versagte man anschließend jedoch das dritte Mal, dann war
man auf gut Deutsch - im Arsch - !
Was konnten solche Scheidepunkte sein, die Berufswahl, die
Eheschließung mit einem bis dahin fremden Menschen, Kredite,
Schulden, Fehltritte? Es handelte sich stets um einschneidende
Ereignisse und mein Bruder hatte alles dazu beigetragen, um
letztendlich – im Arsch – zu sein. Das war aber nicht sein
Hauptproblem. Sein Problem bestand darin, dass seiner Auffassung
nach immer die Anderen die Schuld an seiner Misere trugen, nie er
selbst und so verbog sich allmählich sein früher mal guter
Charakter in das jetzige Zerrbild.
„Merkst Du eigentlich, was aus Dir geworden ist?“, wollte ich jetzt
von ihm wissen. „Bist Du eigentlich noch ein Mensch? Ich kann
keinen sehen!“
Er winkte einfach nur ab. „Du nervst. Wie immer! Eure Meinung
interessiert nicht mehr. Jetzt geben wir den Ton an!“
„Deine Jungs machen da mit?“, fragte ich ihn immer noch mit
Entsetzen.
„Klar! Sind ja meine Jungs!“, erwiderte er voller Stolz.
„Und wo sind sie jetzt?“ Das wunderte mich wirklich. Weshalb war er
nicht in voller Stärke angerückt? Dann hätten sie uns glatt
überrollen können.
Andreas winkte ab. „Die haben ihren eigenen Kopf. Sind ja auch alt
genug. Es gibt da Ärger mit der Gang in der Neustadt. Wir müssen da
ein bisschen mehr Präsenz zeigen, verstehst Du? Die beiden machen
das schon. Außerdem ist es Zeit, sich zu trennen. Wir hocken jetzt
schon viel zu lange aufeinander. Sibylle und die Jungs können sich
nicht riechen. Die Zankerei geht mir mittlerweile auf den Sack.
Jeden Tag dasselbe Theater. Das mit dem Scheiß-Schloss funktioniert
nicht mehr so richtig. Dadurch nervt die Tochter, weil sie nur noch
kleine Rationen für uns besorgen kann. Die kannst Du inzwischen
vergessen. Immer diese Bettelei. Für die Jungs reicht es
vielleicht. Die ziehen sowieso ihr eigenes Ding durch. Meine
Meinung zählt da nicht mehr viel. Ist auch egal. Eben Zeit für
Veränderungen. Da habe ich mir gedacht, wir teilen uns. Eine Hälfte
der Familie ist nun Euer Gast.“
Er fand das offensichtlich richtig gut. Zu den beiden Jungs, die
inzwischen erwachsene Männer geworden waren, hatten Manuela
eigentlich immer einen seltenen, jedoch ganz guten Kontakt gehabt,
ebenso zu Anke, der Tochter. Als Jugendliche hatten sie sich
ziemlich chaotisch verhalten, so dass wir häufig dachten, aus denen
wird nie mal was Ordentliches. Sie hatten trotzdem alle drei die
Kurve gekriegt. Dass ihnen dann Sibylle, die neue Frau ihres
Vaters, nicht in den Kram passte, erschien verständlich.
„Na prima!“, stellte ich fest, immer noch in der Hoffnung, einen
Rest von dem wieder zu finden, was einmal mein kleiner Bruder
gewesen war. „Da hast Du Dir mit der da ja die richtige
Gesellschaft für Dich ausgesucht.“
„Das lass´ mal meine Sorge sein. Die macht schon keinen Ärger. Die
weiß ganz genau, dass sie entsorgt wird, sobald sie nicht mehr
spurt. Wichtiger ist, dass Ihr zukünftig spurt. Verstanden?“ Bei
allem Hohn in seiner Stimme,vermeinte ich noch etwas Unsicherheit
herauszuhören. Zweifelte er an seinem eigenen Plan?
Inzwischen begann das Wasser im Kocher zu sprudeln und das Gerät
stellte sich aus. Manuela machte keine Anstalten, den Kaffee
aufzubrühen und Andreas war zu sehr mit seinem neuen Lebensplan
beschäftigt, so dass er auch nicht mehr an den Kaffee dachte,
sondern nun darlegte, wie er sich seine Zukunft und die unsere so
vorgestellt hatte.
Er wollte hier einfach alles übernehmen, gab er von sich. Jetzt sei
er endlich mal dran, was vom Kuchen abzubekommen. Wir sollten froh
sein, wenn wir am Leben blieben und konnten in eines der anderen
Häuser ziehen und ihn zukünftig mit den Gütern versorgen, die
er von uns einfordern würde. Susanne sollte bei ihm im Haus
wohnen und seine neue Frau werden. Für Sibylle hatte er keine
Verwendung mehr. Die konnte machen, was sie wollte, würde aber auch
von uns versorgt werden, wenn ihr danach wäre. So einfach sah er
das.
Wir Drei saßen da und blickten in den Lauf seines Revolvers. So
schnell konnte ein Stück Stahl zum Leitbild einer neuen
Gesellschaftsordnung werden. Dann forderte er Manuela auf, zusammen
mit Sibylle unsere gesamte Bewaffnung herauszurücken. Beide
verließen die Küche.
Ich vernahm noch, wie Manuela die Toilette aufsuchte, um sich zu
übergeben, während Sibylle vor der teilweise geöffneten Tür stand.
Dann stiegen sie die Treppe hoch. Wusste Andreas alles von uns?
Kannte er alles, was ich so beschafft hatte? Woher denn? Wir hatten
mit niemandem darüber geredet. Nach wenigen Minuten kamen beide
wieder zurück und Sibylle legte meine Schwerter und die Gaspistole
auf den Tisch. Keine Spur von den Waffen, die noch im Keller
lagen.
„Ist das alles?“, wollte er wissen.
„Was weiß ich denn?“, erwiderte Sibylle. „Bin ich Jesus? Such´ doch
selber.“
„Ist das alles?“, fragte er mich jetzt. „Finde ich doch noch was,
bekommt Deine Frau meinen Ärger darüber zu spüren.
Klar?“
Ehe ich antworten
konnte, stand Manuela da.
„Das ist alles, Du Scheusal!“, rief sie und spuckte vor ihm
aus.
Er lachte sie nur abfällig aus.
„Na prima. Dann gehen wir jetzt beide nach unten und sehen nach,
während sich meine Freundin hier mit den beiden beschäftigt. Was
hältst Du davon?“
Er blickte Manuela herausfordernd an. Früher war er ihr nie
gewachsen gewesen. Sie hatte ihn immer spüren lassen, dass sie in
ihm nur einen jämmerlichen Waschlappen gesehen hatte. Damit war er
nie richtig fertig geworden. Auch jetzt kam er mit ihrer Verachtung
nicht zurecht und überspielte sie mit zur Schau getragener Härte.
Er packte sie ziemlich brutal am Arm und wollte sie zur Tür
ziehen.
Im gleichen Moment wurde diese aufgeschlagen und Gerd stand da.
Alle, auch ich, waren völlig überrascht. Ehe sich Andreas wieder
gefangen hatte, warf sich Manuela zur Seite, fiel auf die
Arbeitsplatte zu, fing sich ab, packte den Wasserkocher und goss
das immer noch heiße Wasser in Richtung Andreas.
Zwar wehrte der gedankenschnell den heißen Guss mit einem Arm ab,
bekam aber immer noch genug über Arme, Oberkörper und Gesicht ab,
dass er laut aufschreiend sein Gesicht bedeckte, wobei er die Waffe
fallenließ.
Gerd griff sofort zu, nahm sie auf und richtete den Revolver auf
den immer noch wimmernden Andreas.
Sibylle hatte das Ganze relativ fassungslos beobachtet, während sie
neben Susanne gesessen hatte. Jetzt bückte sie sich blitzschnell,
um das Messer aus ihrem Stiefelschaft zu ziehen. Doch dazu kam es
nicht mehr. Als sie sich wieder mit dem Messer in der Hand
aufrichtete, schlug ihr Susanne mit dem Mut der Verzweiflung und
der Kraft des Hasses den Ellbogen ins Gesicht, so dass Sibylles
Kopf schlagartig mit gebrochener Nase nach hinten flog. Umgehend
entwand ihr Susanne das Messer und stach es der völlig verblüfften
Frau in die Brust.
Susanne wusste, wohin sie stechen musste. Wenig später fiel
Sibylles Oberkörper nach vorn auf den Tisch und bleib dort
liegen.
Gerd hielt meinen Bruder mit dem Revolver in Schach und forderte
ihn auf, sich auf den Küchenstuhl zu setzen.
Da standen wir nun, schnell und aufgeregt atmend, gegenüber eine
Tote, daneben Susanne und vor uns Andreas, der uns wie ein
verwundetes Tier in einer irren Mischung aus Wut und Furcht
anstarrte.
Der Revolver zitterte in Gerds Hand.
„Mach´ jetzt keinen Fehler und schön ruhig sitzen bleiben, mein
Freund!“, forderte er Andreas auf.
“Das war ja gerade
zur rechten Zeit“, meinte er zu uns und blickte wie gebannt auf den
am Tisch sitzenden Mann, der Gott sei Dank nicht mitbekam,
wie unsicher Gerd in diesem Augenblick war.
„Wie bist Du nur reingekommen?“, wollte ich wissen.
Jetzt kam ein Lächeln
zurück in seine Züge. „Ein Fenster war nur angelehnt und da hing
Toilettenpapier raus. Da bin ich rein.“
Jetzt blickte ich voller Bewunderung zu Manuela.
„Wenn ich Dich nicht hätte“, brachte ich voller Stolz hervor und
konnte es einfach nicht fassen, wie eiskalt sie reagiert und uns
alle gerettet hatte.
„Denkst Du, ich lasse zu, dass wir uns dieser Mörderbande so
einfach ergeben? Niemals!“ Dann stand sie auf, ging zu Andreas und
riss seinen nach unten gesunkenen Kopf an den Haaren
zurück.
„Was machen wir nun mit dem hier?“, fragte sie in den Raum und
forderte damit alle auf, ihr Urteil über ihn zu sprechen.
Wir sahen uns an und es herrschte zunächst eine gewisse
Sprachlosigkeit. An diese nun notwendige Konsequenz hatte im
Überschwang des Sieges niemand gedacht.
„Er hat Strafe verdient!“, äußerte sich als Erster Gerd. „Aber Mord
können wir ihm nicht nachweisen.“
„Er ist immer der Drahtzieher!“, klagte ihn wieder Manuela an. „Er
muss weg, sonst haben wir nie Ruhe vor diesem Kerl!“
Ich hatte sie noch
nie so gesehen. Sie glühte vor Hass auf diesen Menschen, der einmal
mein kleiner Bruder gewesen war.
Der blickte wieder irr um sich.
„Das könnt Ihr nicht machen“, jammerte er, während ihm Wasser und
Speichel im Gesicht herunterliefen. „Das wäre Mord! Ihr seid keine
Mörder!“, schrie er jetzt um sein Leben.
Langsam stand Susanne auf, schob Sibylle seitlich vom Tisch auf den
Boden, wo diese leblos lang hinschlug. Dann stieg sie darüber
und bleib vor Andreas mit deren Messer in der Hand
stehen.
„Das wäre also Mord“, sprach sie zu ihm. „Aber Claudia war nur ein
unnützer Esser. Und was bist Du?“, schrie sie ihn an und stieß mit
einem Ruck das Messer in seine auf dem Tisch liegende rechte Hand
und nagelte diese an die Tischplatte.
Er schrie mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht auf und versuchte,
seinen Arm zu befreien.
Wir hatten eins vergessen, - Susanne war Ärztin. Sie hatte bei
Sibylle gewusst, wohin sie stechen musste. Sie wusste es auch, als
sie Andreas´ Hand durchbohrte. Die Klinge steckte in seinem
Handgelenk und hatte so Knochen, Sehnen und Nerven durchtrennt. Nie
wieder würde er diese Hand so benutzen können wie früher. Ohne
chirurgischen Eingriff verkam sie zu einem leblosen Anhängsel
seines Armes.
Susanne blickte ihn voller Abscheu an und sah dann in die
Runde.
„Jetzt braucht Ihr Euch nicht mehr entscheiden, was mit diesem Kerl
hier geschehen soll. Ich habe Euch diese Entscheidung abgenommen.
Ihr könnt ihn jetzt so, wie er ist, gehen lassen. Wenn er das
nächste Mal pinkeln muss, wird er sich erinnern, dass er mal eine
rechte Hand für seinen Fortsatz da unten hatte. Und wenn ihm das
nicht reicht, schneide ich ihm das Ding da kunstgerecht ab, falls
er es noch einmal wagt, sich einem von uns zu nähern. Geht das in
Deinen verdammten Schädel Du Stück Dreck?“
Sie schleuderte ihm ihre Worte förmlich ins Gesicht. Dann zog sie
ohne Vorwarnung die Klinge aus dem Tisch und dem Handgelenk, setzte
sich daneben und verband die Wunde, so, als wäre gerade eben nichts
geschehen.
Ich beobachte sie schweigend bei ihrer Arbeit, denn nichts anderes
tat sie da. Sie machte einfach wieder ihre Arbeit an einem
Patienten.
Eigentlich brauchte ich für diese Frauen keinen zweiten Mann, der
mich in ihrem Schutz unterstützen könnte. Wir brauchten Frieden und
die Hoffnung, endlich in Ruhe unser Leben führen zu
können.
Nachdem wir meinen Bruder hatten gehen lassen, gebeugt, verletzt,
gedemütigt, niedergeworfen aus dem Olymp der Macht
einer kleinen Waffe hinab in die Gosse seines nun folgenden
einhändigen Elends, glaubten wir allen Ernstes, nun diese Ruhe
erzwungen zu haben.
Seine Sibylle fand ihr Grab in der Nähe der anderen Toten der
Siedlung, nur dass ihr Ausweis an der Tafel der Toten
fehlte.
Als wir Claudia ins Grab legten, stand auf einmal unser Doc hinter
uns. Wie aus dem Nichts tauchte er einfach auf und verabschiedete
sich von seiner Tochter.
Er zog in das Haus von Susanne und blieb dort.