Kapitel 6 - Nachbarn nebenan


Es sollte mehrere Tage dauern, bis wir wenigstens die Häuser in unserer unmittelbaren Umgebung durchsucht und diejenigen, die wir fanden, auch bestattet hatten. Dabei verfluchte ich meinen Bruder, der lieber gekniffen hatte, als uns zu helfen. Den hätten wir als Mann gut gebrauchen können, um die Toten aus den Häusern zu bringen.
Zunächst gingen meine Annahmen auch auf. Wir fingen mit unseren unmittelbaren Nachbarn an. Die Kontschaks waren immer unauffällige Menschen gewesen. Den ganzen Tag über hörte und sah man sie nicht, bis auf die Ausnahmen, zu denen einer von ihnen auf die Terrasse hinaustrat, um eine Zigarette zu rauchen. Weshalb sie das taten, ging mir nicht auf, denn sie rauchten im Winter ja auch drinnen. Wahrscheinlich sollten die Wände und die Gardinen nicht allzu schnell den in Raucherhäusern üblichen graugelben Farbton annehmen. Für uns waren sie Nachbarn von der Sorte, die eigentlich fast dem entsprachen, was wir uns von Nachbarn wünschten, nämlich keine zu engen Kontakte, Hilfe zur richtigen Zeit, Aufmerksamkeit zu den Zeiten von urlaubsbedingter Abwesenheit, ein bisschen Zeitung aus dem Briefkasten nehmen und sich ansonsten kaum sehen lassen. All´ das erfüllten sie. Dass es im Grundstück und im Haus teilweise nicht so aufgeräumt aussah, wie wir uns das vorstellten, war schließlich ihre Sache. Wir mussten ja nicht dort leben.
Beide hatten irgendwie in der EDV-Branche zu tun und arbeiteten in Schichten. So sahen sie sich bis auf die Wochenenden relativ wenig und wir sie auch nicht und wenn die Nachbarin dann zu Hause weilte, vergrub sie sich vor ihrem PC und pflegte die E-Mail-Accounts, fütterte die digitalen Haustiere virtueller Farmen oder bediente ihre Facebook-Freunde. Wir konnten es nicht verstehen, wie jemand, der den ganzen Tag mit EDV zu tun hatte, sich auch noch in seiner Freizeit diesen Dingen auslieferte aber es konnte und musste ja auch nicht jeder gleich gestrickt sein.

So vergingen die Jahre in immer gleichförmiger Abfolge, Job, PC, Facebook, Zigarette, E-Mail, Facebook, Zigarette, Essen, Schlafen. Wir wurden älter. Sie wurden ebenfalls älter aber uns trennten immerhin fast 15 Jahre Altersunterschied! Sie wunderten sich darüber, dass Manuela und ich für unser Alter noch relativ fit aussahen, während sie beide schon mit Mitte Vierzig Rückenprobleme, Atemprobleme, Probleme mit Übergewicht und, und  – bekamen.
Als junger Mensch sieht das zukünftige Leben nach unheimlich viel Zeit aus. Die Schulzeit will gar nicht vergehen. Die Eltern nerven und man kann es kaum erwarten, in einer eigenen Wohnung zu leben. Dann beginnen Job, Karriere, Familie, Anschaffungen, Geldbedarfe und Geldsorgen, teilweise auch Geldnöte. Während dieses ganzen Ablaufes gerät dann eines allzu oft außer Acht, - zu leben. Man lebt halt so nebenher, hat ab und zu mal Sex, wenn´s halt mal sein muss und bemerkt gar nicht, wie das Mädel, das man mal für die Schönste gehalten hat, allmählich verwelkt.
Dabei ist das äußere Verwelken nicht mal das Hauptproblem. Der innere, geistige Verfall ist viel schlimmer. Genährt durch alle möglichen Annehmlichkeiten der modernen Medienwelt fällt das kaum einem auf. Der einzige, der im Haus dann redet, ist das Fernsehgerät, mit einer Ausnahme, - wenn Besuch im Hause ist. Sonst herrscht Schweigen, nur unterbrochen vom täglichen Arbeitstrott, der die einzige Abwechslung vom häuslichen Einerlei darstellt. Fällt diese Abwechslung dann weg, durch Arbeitslosigkeit oder später im Alter, als Rentner,  ist die Katastrophe vorprogrammiert. Hinter einer langjährigen Ehe steckt meistens eine sehr kluge Frau, heißt es, - hinter einem ausgefüllten Leben im Alter ebenso.  
Das hatten beide noch vor sich und trotzdem schon Angst davor. Alt werden wollte jeder, - alt sein dagegen niemand! Das war ein Problem für eine Gesellschaft, deren Alterspyramide auf dem Kopf stand. Es sieht eben nicht immer schön oder adrett aus, wenn die Mutter die Sachen der Tochter trägt oder sich in Jugendgeschäften solche kauft. Das galt für Frauen ebenso wie für Männer. Mitten in den Fünfzigern aber das eigentliche Alter war doch noch so weit entfernt. Alle toll, alle cool, alle taff! Tolle Kerle konnten ununterbrochen mit den Weibern und heiße Omas wollten es doch sowieso. Wer´s glaubte? Und wie´s dahinter ausschaut, geht keinen was an! Dafür gab es Schlösser an den Türen und zur Schau getragene Fassaden zum Verbergen der lästigen Realität. Eine Gesellschaft, angefüllt mit Alten, die auf jugendlich machten und nicht alt sein wollten, so wie den Jungen, die von den Alten nicht ans Steuer gelassen, abgedrängt und unterdrückt wurden.
Eigentlich stellte diese Pandemie für eine solche Gesellschaft doch eine Erlösung dar. Es war schnell gegangen, hatte kaum Schmerzen bereitet. Niemand musste unnötig lange beim Sterben zusehen und alle waren zur gleichen Zeit hinüber. Gut, - nicht alle, aber in unserer unmittelbaren Umgebung fanden wir nur Tote.
Beim Nachbarn verschafften wir uns durch die Kellertür Zugang zum Haus. Wie in vielen Fällen stellte dieser Eingang die Schwachstelle der Hausabsicherung dar, - eine einfache, dünne Holztür mit einem 15-Euro-Schloss und einem Schließblech, das eher zu Wohnzimmertüren gepasst hätte. Da brauchte ich lediglich etwas mit einem stärkeren Schraubendreher zu hebeln und schon sprang das gute Stück auf.
Das Innere des Hauses kannte ich relativ gut. Unsere Häuser standen aneinander und die Räume konnten als spiegelverkehrt angeordnet gelten. Mit unseren Solar-Taschenlampen in den Händen traten wir ein und bemerkten sofort diesen charakteristischen Geruch, den verwesende Körper ebenso mit sich brachten. Ohne beide gefunden zu haben, wussten wir sofort Bescheid. Dies schon vorher ahnend, hatten wir uns feuchte Tücher mitgenommen, die wir mit Minzöl aus unserer Sauna getränkt hatten. Die banden wir uns jetzt vor die Gesichter. Im Halbdunkel stiegen wir die Treppe zum Erdgeschoss hoch. Hier mischte sich der Stärker werdende Verwesungsgeruch mit kaltem Rauch. Diese Mischung überdeckte das Minzöl in den Tüchern kaum noch. Schnell öffneten wir alle Fenster im Flur, in der Küche und im Wohnzimmer.
Im Erdgeschoss sah es aus wie immer, - etwas unordentlich eben. Was fehlte, war das große Chaos! Wie im Einkaufscenter machten die Räume wieder den Eindruck der verlassenen Aufgeräumtheit, so als würde jeden Moment jemand die Treppe herunter kommen. Der Nachbar hatte im Unterschied zu unserem Haus den Treppenaufgang zum Obergeschoss, in dem sich das Schlafzimmer, sowie das Bad befanden, mit einer Tür verschlossen. Diese öffnete ich jetzt.
Die Luft, die uns entgegenwehte, verschlug uns den Atem. Manuela wurde es schlecht. Sie musste sich aus dem Fenster gebeugt übergeben. Ich würgte ebenfalls. Susanne schien härter verpackt zu sein. An mir vorbei schritt sie die Treppe hinauf zum Obergeschoss. Ich wartete vorerst noch unten. Ehrlich gesagt war ich nicht scharf auf die neue Erfahrung, die ich dort oben machen würde. Eigentlich hatte ich es mir doch denken können. Nach mehreren Tagen sahen Leichen nun einmal nicht mehr taufrisch aus. Ich selbst hatte aber noch keine solche gesehen! Von oben hörte ich, wie Susanne die Fenster im Dachgeschoss alle öffnete und verspürte sofort den Durchzug, der den Geruch schnell entweichen ließ .
„Wo bleibst Du denn?“, rief sie mich von oben. „Alles kann ich nicht allein machen! - Männer!“ fügte sie noch hinzu.
Also riss ich mich zusammen und ging ihr nach. Kurz entschlossen trat ich ein und da lagen sie beide auf dem Bett. Tote in Leichenstarre und deutlichen Anzeichen von Verwesung haben nichts Schönes an sich. Mir fiel auf, dass die beiden nebeneinander lagen, als wären sie so im Tode platziert worden. Die Gesichter hatten sich gelblich verfärbt. Neben den Köpfen befanden sich inzwischen braun gewordene Blutlachen, - Ergebnisse der bekannten Blutungen aus Mund, Nase und Augen. Besonders unangenehm dagegen fand ich die Spuren von Blut, Urin und Fäkalien, die bei beiden in Höhe des Unterleibes das Betttuch verfärbt hatten. Von diesen Stellen ging ein noch unangenehmerer Geruch aus, was leicht erklärlich war.
Susanne stand neben dem Bett und blickte nachdenklich auf die Toten.
„Schon komisch“, sagte sie. „Das sieht aus, wie bei allen, von denen ich bisher gehört hatte, oder die ich gesehen habe. Wenn sie sterben, legen sie sich friedlich hin, ergeben sich der Krankheit, sterben beinahe friedlich, überlassen sich dem Verfall ihres Körpers und dem Versagen ihrer Organe und das war´s dann. Nie Spuren von einem Kampf oder von Panik, sondern immer dieses friedliche Hinübergleiten. Die beiden hier hatten mit meinen Patienten im Krankenhaus überhaupt nichts zu tun und trotzdem das gleiche Erscheinungsbild. Überhaupt stimmt mit der ganzen Epidemie irgendetwas nicht. Für mich wirkt das fast wie ein designter Tod!“
Erstaunt blickte ich sie an. „Wie meinst Du das?“
„Alles ging so wahnsinnig schnell. Die Verbreitung erfolgte in bisher nie gekannter Geschwindigkeit. Da blieb nicht die geringste Chance auf eine Gegenwehr der Gesellschaft oder des Gesundheitswesens.“
„Das taugte doch sowieso längst nichts mehr“, wandte ich sofort ein und musste an die inzwischen längst Realität gewordene Zwei, wenn nicht Drei-Klassen-Medizin denken, der man sich in dem Moment ausgesetzt sah, wenn man sie dringend benötigte. Sicher, - jeder wurde versorgt aber wie! Das hing dann doch entscheidend vom Geldbeutel desjenigen ab, der versorgt werden wollte. Ohne Moos nichts los! So war das eben.
„Da hast Du nicht ganz Unrecht“, bestätigte sie meine Ansicht. „Trotzdem reagiert die Organisation in einem Bedrohungsfall wie diesem. Die Gesellschaft mit all´ ihren Bereichen wehrt sich gegen den Totalausfall. Was nützt es den Begüterten, wenn es niemanden mehr gibt, der ihren Reichtum erarbeitet und wachsen lässt? Welchen Sinn macht Reichtum, wenn niemand mehr da ist, der ärmer ist als sie selbst? Reichtum ist nur im Vergleich mit Armut angenehm. Allein stelle ich mir das ungemein öde vor und die Betreffenden denken sicherlich genauso. Also muss die Gesellschaft vor einer solchen Bedrohung bewahrt werden, konnte es hier aber nicht! Das ist beispiellos! Ich kannte Szenarien, die von einem Ausfall von 25% ausgingen. Die waren schon erschreckend genug. Aber das hier? Dieser Super Gau? Ich weiß nicht. Das passt alles nicht in mein Bild von Mutter Natur.“
„Bezweifelst Du die Natürlichkeit dieser Epidemie?“ wollte ich wissen.
„Könnte man so sagen“, erklärte sie. „Kein Erreger ist so angelegt, dass er seinen Wirt aussterben lässt. Damit würde er selbst aussterben und das hat nichts mit Evolution zu tun. Unsere Spezies hatte es im Verlauf ihrer Entwicklung schon öfter mit schweren Angriffen aus dem Reich der Mikroben zu tun und wurde damit immer fertig. Es überlebten immer genügend Menschen, die sich angepasst hatten und diese Anpassung weiter vererbten. Es ist ein andauerndes Hin - und Her von Angriff und Verteidigung mit dem Ziel der Weiterentwicklung. Dieses Prinzip ist nun Geschichte!“
„Was machen wir mit den Beiden?“, riss ich sie aus ihren Gedanken.
„Wolltest Du sie nicht beerdigen?“, fragte sie mich.

Das wollte ich schon aber gleichzeitig musste ich sofort an die Beschaffenheit unseres Bodens denken und dabei zweifelte ich an unseren Möglichkeiten. Um ein Grab für zwei Personen auszuschachten, würde ich mit Sicherheit einen halben Tag mit Spitzhacke und Schaufel zubringen. Kies war noch eine geschmeichelte Bezeichnung für das, was unter einer dünnen Schicht Gartenerde auf mich wartete.
„Eigentlich schon“, sagte ich deshalb und atmete für den immer  noch vorherrschenden Geruch im Zimmer viel zu tief durch. „Ich bezweifle nur, dass wir das allein schaffen. Wenigstens die Leute aus den Häusern im unmittelbaren Umkreis wollte ich bestatten. Das wären dann ungefähr 10 – 12 Personen. Das schaffen wir allein nie!“
„Und verbrennen?“, fragte sie.
„Denke an die Rauchfahne“, gab ich zu bedenken. „Die sieht man noch in mehreren Kilometern im Umkreis. Ich halte das für keine gute Idee.“
„Ach ja, Du fürchtest ja Banden, die uns dann ausrauben, wenn sie wissen, hier lebt noch jemand.“
Ich fand das gar nicht so lustig. „Weiß man´s? Was unternimmst Du gegen drei oder vier Männer, vielleicht bedeutend jünger als ich es bin, die vor der Tür stehen und sagen: - Gib´ her! - . Wenn du dann gibst, fehlt es uns. Gibst du nicht, holen sie es sich. Du kannst es dir heraussuchen, was dir besser gefällt. Mit gefällt beides nicht.“
„Hast ja recht“, lenkte sie ein. Auf einmal ging ein Leuchten über ihr Gesicht. „Mir fällt da was ein“, sagte sie und ging schnell zu dem Dachfenster, das zur Straße gewandt war. „Was hältst  Du davon, wenn wir eine Art Schacht in den Hügel gegenüber graben. Das ist doch weicher, aufgeschütteter Boden vom Aushub der Entwässerungsteiche für den Parkplatz des Centers. Wenn wir die Sträucher beseitigen, müsste das doch möglich sein?“
Ihre Idee war gar nicht so schlecht, dachte ich mir. Nicht übel die Frau Doktor. Ich hatte mir früher des Öfteren Mutterboden von dort geholt, wenn es darum ging, die Gemüsebeete in unserem Garten aufzufüllen.
„So machen wir´s“, sagte ich deshalb kurz entschlossen. „Eine Klasse-Idee!“, bemerkte ich anerkennend und Susanne freute sich. „So können wir den Graben groß genug schaufeln, um alle darin unterzubringen.

Das ist immer noch besser, als wenn sie weiter in ihren Häusern          liegen bleiben.“
„Das sehe ich auch so“, meinte sie. „Und wie bekommen wir die beiden hier runter? Der Mann wog garantiert so um die 100 Kilogramm. Den schleppt jetzt im Tode niemand so einfach nach unten.“
Damit hatte Susanne vollkommen Recht. Der Nachbar war schon immer mit seinen 1,93 Metern ein Schwergewicht gewesen. Durch den Tod meiner Mutter und meines Vater wusste ich, wie schwer es sein konnte, wenn der zu Tragende nicht mehr mithelfen konnte. Dann hatte ich den rettenden Einfall.
Wir banden die Betttücher über den Köpfen zu einem Knoten zusammen. Die Naht vom Kopf zu den Füßen verschloss ich mit einem Tacker. Das ging schnell und für unseren Zweck erwies sich diese Verfahrensweise als völlig ausreichend. Eingebettet in diesem Sack zogen wir die Toten aus dem Bett und ließen sie dann anschließend vorsichtig die Treppe hinuntergleiten. Draußen legten wir ein Stück Pappe unter das schwere Mittelteil, so dass der Sack nicht aufriss, wenn wir ihn über die Straße zogen. Am Sichtschutzhang legten wir ihn dann an der Stelle ab, an der ich graben wollte. Ich hatte mir hierzu die Stirnseite ausgesucht, weil ich den Aushub anschließend in den Entwässerungsteich schaufeln konnte. In gleicher Weise verfuhren wir mit Frau Kontschak. Das Ganze hatte noch den Vorteil, dass wir uns nicht jedes Mal dem Anblick der entstellten Leiche stellen mussten und unsere Arbeit wenigstens in dieser Hinsicht einen anonymen Charakter bekam.
Unsere Nachbarn auf der anderen Seite, die Garecks, fanden wir ebenso gemeinsam im Schlafzimmer liegend wie die Kontschaks. Sie trug noch immer ihre dicke Wolljacke und die hohen Winterhausschuhe, mit denen sie sich über das Winterhalbjahr bis hinein in den Mai hinein gegen die Kälte in ihrem nahezu ungeheizten Haus zu schützen versuchte. Das blond gefärbte Haar hing ihr wirr ins Gesicht. Der  Mund stand halb offen und gab den herunter gesackten, billigen Zahnersatz preis. Die Arme hatte sie so, als würde sie noch im Tode frieren, ineinander verschränkt, wobei die Hände in den Ärmeln steckten. Ich sah sie an, eigentlich doch eher bedauernd. Nun würde sie nie mehr frieren müssen, egal, wer von beiden den Sparzwang in ihrer Ehe begonnen hatte. Jetzt hatte sie selbst die Temperatur ihres ewig kalten Hauses angenommen.

Doch wo steckte er? Neben ihr lag er nicht, was mich auch verwundert hätte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er sich im Moment des Todes neben den Menschen gelegt hatte, der ihm Jahre zuvor so unsäglich auf den Geist gegangen war. Ich kannte das vom Schwager meines Bruders. Dessen Frau ging ihm genauso auf den Geist, vielleicht sogar noch mehr als die kalte Frau Gareck hier. Sein Beispiel zeigte mir, dass Männer offensichtlich in der Lage waren, sich eine Art interne Verteidigungs-Strategie aufzubauen. Sie hörten einfach nicht mehr hin, wenn die andere Ehehälfte wieder einmal geiferte, irgendetwas auszusetzen hatte oder die ewige Nörgel-Taktik ansetzte, die einfach nur den einen Sinn hatte, den Alten auf die Palme zu bringen, - mehr nicht. War das geschafft, schienen sie zufrieden. Er war dem Herzinfarkt wieder einen Schritt näher und sie einen Schritt weiter auf dem Weg zur finanziell gut versorgten Witwe. Und wenn sie das dann geschafft hatten, was dann? Dann langweilten sie sich zu Tode. Mit dem jüngeren, agilen Lover klappte sowieso nicht so, wie ausgemalt. Die kümmerten sich um alles andere, aber nicht um eine alte Schabracke, die keiner mehr wollte und für deren Getue es nur noch einen bösen Begriff gab, - notgeil!

Nicht dass Frau Gareck notgeil gewesen wäre. Ich denke mal, diese Fähigkeit war ihr seit einiger Zeit abhandengekommen. Oder sie war rein zeitlich darüber hinweg. Es war eigentlich nur noch traurig, mit anzusehen, wie die beiden so nebeneinander her lebten, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Zuneigung. Wie sie da so lag, musste ich daran denken, wie sie im Garten immer wieder stoisch kleine Melodien vor sich her summte, ohne Sinn, ohne jeden Verstand. Andere atmeten. Sie gab Töne von sich und atmete auf diese Weise vor sich hin. Gänsehaut konnte man dabei bekommen.
Ich blickte auf das herunter gesunkene Gebiss und fühlte Erleichterung, dass aus diesem Mund keine Kindermelodien mehr kamen. Dem alten Gareck musste das genauso ergangen sein, denn als seine Frau das Zeitliche segnete, hatte er sich verdrückt, um dem Drama nicht länger beizuwohnen.
Wir fanden ihn im Nebenzimmer dort, wo er sich immer aufgehalten hatte, vor seinem PC. Dessen Bildschirm gab nun keine vollbusigen Weiber mehr wieder, sondern glänzte in mattem Grau. Der Rest des Zimmers bestand aus einer sagenhaften Sauerei aus Blut und Geweberesten, die er sich aus seinem Gehirn geblasen hatte, nachdem er die in den Mund gesteckte Pistole abgedrückt hatte. Er saß zur Seite gesunken in seinem Chefsessel aus Kunstleder. Der Arm, der die Waffe geführt hatte, hing seitlich herunter und die Pistole lag auf dem Fußboden.
Ich wunderte mich nicht großartig darüber, dass Herr Gareck eine Waffe besessen hatte. Schließlich hatte er als Offizier beim Bund gedient und führte seine Waffe einfach weiter als Mitglied eines Schützenvereins.
So ein Arschloch, dachte ich mir, nachdem ich mir die Sauerei im Zimmer angesehen hatte. Konnte er sich nicht so umbringen, dass andere nicht mit diesem Brei hier umzugehen hatten? Das ging doch auch anders, aufhängen zum Beispiel oder sich eine Überdosis verpassen. Nein, er wählte den einfachen, schnellen Weg und sorgte dafür, dass an seinem Hinterkopf ein genügend großes Loch gerissen worden war, so dass das gesamte Gehirn an der Wand hinter ihm klebte.
Susanne stand hinter mir und würgte. Nun ja, es roch ja auch nicht gerade nach Parfüm in dem Zimmer. Ich hatte keine Lust zum Aufräumen, sondern packte den leblosen Körper und wir schleppten ihn zu den anderen der Umgegend. Nebenbei dachte ich an seine Pistole. Die war etwas Genaueres als meine Behelfswaffen, die ich mir im Laufe der Zeit zugelegt hatte. Damit konnte ich Angreifer auf Distanz halten, falls es notwendig werden sollte. Die Munition dazu würde ich sicherlich im Haus finden. Der Waffenschrank, den er für diese Waffe benötigte, stand hoffentlich offen. Wer schloss schon seinen Waffenschrank ab, wenn er die Absicht hatte, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Unter Umständen fand ich dort noch mehr. Ich dachte so an eine Schrotflinte oder etwas ähnliches. Dabei erschrak ich wieder einmal über mich selbst. Was war eigentlich aus mir für ein Monster geworden, fragte ich mich. Gut, - ich mochte meine Mitmenschen nicht besonders. Daraus machte ich schon früher, zu Zeiten der angeblichen Normalität, keinen Hehl.
Da ging es mir fast so, wie unserem Doc. Der teilte meine Ansicht von allgemeiner Verblödung völlig, nur sprach er nicht darüber. Er sprach überhaupt sehr wenig. Zu einer Äußerung musste ich ihn schon locken, was mir auch stets gelang und dann überschritten wir die von den Krankenkassen vorgesehene Sprechzeit. Mein Gott, in dem Mann steckte eine Ladung Verzweiflung, da konnte einem Angst und Bange werden. In dem geistigen Zustand gehörte schon was dazu, die Leute zu behandeln und nicht einfach umzubringen. Das klingt übertrieben, war es aber nicht.

Einen Moment hielt ich inne und stellte wieder diese totale Gefühlslosigkeit in mir fest.  Was hier geschehen war, stand außerhalb meines Einflusses. Wenn es Schuldige gab, dann betraf es alle, die gesamte Gesellschaft. Wir hatten uns die Suppe selbst eingebrockt und zum Auslöffeln waren herzlich wenig von uns übrig geblieben.

Nachdem wir die Nachbarn links und rechts unseres Hauses geborgen hatten, glaubte Manuela, Michelins  Hündin zu hören. Michelin nannten wir den übernächsten Nachbarn zur rechten, weil er durch sein Übergewicht so viele Ringe am Leib angesammelt hatte wie die Werbefigur dieses Reifenherstellers. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin lebten sie zur Miete in einem Standardhaus, das von Dana, der Retriever-Hündin, mehr oder weniger bewacht wurde. Sie war ein liebes Tier, das eigentlich keiner Seele etwas zuleide tat. Jetzt, wo mich Manuela darauf hinwies, hörte ich das Tier auch aus dem Haus winseln.
Das wieder mal übliche Standardschloss für 15,-Euro aus dem Baumarkt setzte meinem Hebel keinen nennenswerten Widerstand entgegen. Kaum hatten wir die Tür aufgebrochen, stürzte Dana auch schon heraus, rannte um uns herum und veranstaltete ein mordsmäßiges Gebell. Wir konnten sie kaum beruhigen.
Aus dem Haus schlug uns wieder der inzwischen bekannte Verwesungsgeruch entgegen. Sie hatte es also auch erwischt. Wieder lagen beide im Obergeschoss im Schlafzimmer in ihren Betten und es wurde Plackerei für die Frauen und mich, vor allem Michelin die Treppe hinunter zu bekommen.
Als er dann zusammen mit den anderen am Hang im gemeinsamen Grab lag, reichte es für diesen Tag, obwohl wir wussten, dass uns eigentlich keine Zeit blieb. Der Zustand der Toten wurde von Tag zu Tag schlimmer und damit erreichte auch unsere psychische und physische Belastung einen Grenzwert, trotz aller Routine, die wir uns inzwischen angeeignet hatten. Die Bilder wiederholten sich von Haus zu Haus, in denen wir auf die ehemaligen Bewohner trafen. Standen dagegen mal Häuser leer, überkam uns sogar etwas wie  Freude, da in dem Fall keine Arbeit auf uns wartete.