Kapitel 4 - Stille
So war das also.
Jetzt hatte ich zwei Frauen! Toll, hätten früher einige von sich
gegeben, die dabei nur an das Eine gedacht hatten und nicht an
alles andere.
Ich dachte an das Eine im Moment sowieso nicht und alles andere
fiel mir schlagartig auf die Schultern. Manuela wollte ich
beschützen, mein Leben lang, zunächst versprochen und später
gelebt. Ihrem Wohlergehen galt meine Sorge.
Solange man mich in Ruhe ließ, kümmerte mich der „Rest“, wie ich es
in bitteren Momenten häufig ausdrückte, herzlich wenig. Die einzige
Ausnahme, die ich für diese Regel in meinem Leben zugelassen hatte,
war unser Sohn gewesen. Mein Gott, wo der jetzt wohl steckte. Ich
verscheuchte diesen Gedanken sofort wieder.
Tobias hatte sich damals doch noch impfen lassen. Manuela zwang ihn
mit ihrer ganzen Muttermacht dazu und heute waren wir froh darüber,
auch wenn wir von ihm und seiner Freundin Lana nichts weiter
wussten, als dass sie auf Teneriffa zum Kiten in den Urlaub
gefahren waren, bevor hier die Seuche ausbrach. Er würde einen Weg
finden, dessen war ich mir sicher. Da kam er nach seinem Vater. Wir
waren ebenso, Punkt.
Hier ging es aber um Versorgung, Schutz, Lebenserhaltung und nicht
um Sex. Ich kam mir so ungefähr vor wie ein Araber mit seinen
Frauen, der sich mehrere Frauen leistete, wenn er sie sich leisten
konnte. Das hatte ebenfalls allein mit Sex nichts zu tun, sondern
war Ausdruck von Wohlstand.
Ich musste an die Schwierigkeiten denken, die eine solche
Versorgungsnotwendigkeit mit sich brachte. Ignorieren konnte ich
diese Lage nicht so einfach. Schließlich hatte uns unsere Ärztin
beide gerettet.
Dank der Hilfe unserer Ärztin ging es uns beiden innerhalb weniger
Tage ausgezeichnet. Ich hatte sie in die Geheimnisse unserer
Festung eingeführt, was hieß, dass sie nun Bescheid wusste über die
Technik und die Vorratslage. Da staunte sie nicht schlecht, auch
wenn es sich nur um die Bestände für ca. 3 Monate handelte und das
auch nur für zwei Personen. Für 3 Personen wurden da ohne
Rechenkünstler zu sein ziemlich schnell 2 Monate draus. Das, was
sie zu ihrer Versorgung beitragen konnte, reichte vorn und hinten
nicht. Ihr Haushalt war eben ein Normalhaushalt gewesen, was
bedeutete, - einen Wocheneinkauf höchstens und damit war die
Bevorratung abgeschlossen.
Energetisch sah es genauso trüb aus. Ihr Haus verfügte über eine
Gasheizung. Damit hing sie an einer Zentralversorgung und die
Zentralversorgung hing wiederum an der Energieversorgung, wie eben
alles so schön miteinander zusammenhing. Das bedeutete aktuell, -
kein Strom, - kein Gas, - keine Wärme, - keine Kochgelegenheit und
damit kein abgekochtes Wasser, falls die vorhandenen
Getränkereserven aufgebraucht sind.
Trotzdem hatte sie darauf bestanden, weiterhin in ihrem Haus zu
wohnen, im Haus ihrer Familie. Die hatte sie ganz allein in ihrem
Garten hinter dem Haus begraben, ohne Kreuz, ohne jeglichen
Hinweis. Sie wollte nicht auch noch jeden Tag beim Blick in den
Garten darauf hingewiesen werden, was passiert war und war noch
kommen konnte. Da sie sich ohne Energie ihre Speisen nicht
selbst zubereiten konnte, kam sie zu den Mahlzeiten rüber zu uns.
Sie hatte ihr Klingelzeichen und nutzte es auch. Mich einmal mit
erhobenem Samurai Schwert auf der Treppe stehen zu sehen, hatte
offensichtlich gereicht.
Sie hieß Susanne, ein schöner Name und er passte zu ihr. Klein,
knapp 1,50m groß und dabei ziemlich rund gewachsen und das trotz
der wöchentlichen Jogging-Runden. Dazu hatte sie eine
gewöhnungsbedürftige burschikose Art an sich, die mit Sicherheit
nicht jedermanns Sache gewesen war. Uns störte das nicht. Wir
mochten direkte und offene Menschen. Also nahmen wir sie auch
so auf und teilten mit ihr.
Ich dachte weiter und natürlich prosaisch wie immer. In einer
Notsituation wie unserer konnte ein Arzt unter Umständen nicht mit
Gold aufgewogen werden. Sah man die Sache so, stellte sich der
Frauenzuwachs als überaus nützlich dar. Überhaupt stellte ich an
mir fest, dass ich inzwischen alles, was uns umgab, rein unter dem
Gesichtspunkt der Nützlichkeit zu betrachten begann. Im Moment
erschien mir das nicht sonderlich beunruhigend und an später wollte
ich in diesem Zusammenhang nicht denken. Ich dachte an unsere 2
Monate und an das, was wir danach unternehmen mussten, um unser
Leben fortsetzen zu können. So einfach konnten die Dinge werden.
Das Leben fortsetzen und mehr nicht. Kein Job, kein Urlaub, keine
Bank, kein Geld, kein Auto, - alles unnützer Tand!
Um den Sinn des Lebens wurde so viel philosophiert, dass einem der
Kopf davon fusselig werden konnte und dabei war es so einfach, nur
dass dies niemand begreifen oder einsehen
wollte.
Der Sinn des Lebens bestand im Leben selbst und sonst nichts. Die
Südländer hatten das zum Teil begriffen. Deshalb fuhren wir ja auch
so gern dorthin, um ein bisschen am Dolce Vita teilzuhaben. Kaum
zurück hieß es wieder Job, Karriere, Kohle, Handy, das ganze
Theater eben!
Keine Zeit zum Nachdenken!
Keine Lust auf Verzicht!
Zurückhaltung?
Ein bisschen Zurückhaltung, - das war drin und das versuchten wir
beide zu leben. Das erregte Anstoß, Missverständnis und auch
Missachtung. Da wir uns einen Stand erarbeitet hatten, in dem wir
uns über die Meinung von Bekannten, Nachbarn oder Verwandten
hinwegsetzen konnten, ohne Schaden zu nehmen, ließ uns das kalt.
Meine Chefs waren weit weg im tiefsten Süden Deutschland und die
interessierten sich für mein Leben nicht. Die interessierte nur,
wie ich meinen Job machte und was das Ganze kostete.
Wenn ich meinte „Zurücknehmen“, dann hieß das nichts Besonderes.
Dann meinte ich so was wie 50 fahren, wenn da 50 steht (von mir aus
auch 55) aber nicht 65 oder 70!
Oder ein Stückchen Papier oder eine Kippe in den Abfallbehälter
werfen und nicht dort fallen zu lassen, wo es mir gerade zur Last
geworden ist.
Ein Hund kackt nicht von allein auf einen Fußweg. Hunde lieben es
ins Gras zu kacken und selbst dort kann man die Hinterlassenschaft
entsorgen, damit kein anderer hineintritt. Aber nein, mein Hund
muss jetzt also soll er jetzt. Den Dreck können dann andere
wegräumen. Problematisch wird die Situation nur dann, wenn es diese
Anderen nicht gegeben hat und man selbst in die Scheiße der
Vorgänger tritt. Das ist dann aber wirklich eine ausgemachte
Schweinerei! Oder?
Aufstehen im öffentlichen Verkehrsmittel, - das hat dann schon was
von Kultur und nichts von „Weil ich es mir wert bin“.
Die kleinen vernachlässigten Dinge des Lebens sind es, durch welche
die großen Sauereien möglich und gerechtfertigt werden. Alles fängt
einmal klein an. Leider denkt bei aller persönlicher Wichtigkeit
kaum einer daran.
„Weil ich es mir wert bin.“ Dieser Werbeslogan, der hatte was. Der
traf den Nerv der Zeit. Erst komme ich, dann noch einmal ich und
dann, - na ja, ich einfach noch einmal. So geht das immer und
überall. Man könnte verrückt darüber werden.
Und jetzt? Was galt jetzt?
Ich habe nun zwei Frauen! Wir sind eine Essensgemeinschaft und
helfen einander, falls nötig und Hilfe war von nun an nötig. Ich
hatte früher viel zu häufig über ähnliche Situationen, wie diese
gegrübelt und versucht, alle Varianten des Unglücks, das über uns
gekommen war, durchzuspielen. Am Ende stand eigentlich immer ein
und dieselbe Erkenntnis, - alleine schaffst du das nicht! Wir
hatten noch 2 Monate in unserer Festung. Die waren schnell herum.
In unserer Siedlung schien außer uns 3 Personen niemand mehr am
Leben zu sein, was nicht bedeutete, dass anderswo auch niemand mehr
lebte.
Was war aus den Menschen auf dem Schloss geworden? Wer und vor
allem wie viele lebten dort noch und wie viel hatten die dort oben
zu beißen? Hunger kam noch weit vor dem Sexualtrieb und zwar nach
etwa 3 Tagen. Die waren inzwischen längst um. Wenn es in der Stadt
keine Nahrung mehr gab, würde die Suche außerhalb beginnen, was
hieß, irgendwann würden sie auch zu uns auf den Berg kommen, denn
hier lag das Einkaufscenter, der größte Einkaufstempel der Umgebung
und in dessen Nähe hatten gerade mal wir Drei überlebt.
So lange wollte ich nicht warten. Beim Abendessen teilte ich das
den Frauen mit.
„Morgen besuchen wir das Center“, ließ ich zwischen zwei Bissen
fallen.
Manuela blickte mich überrascht an.
„Hältst du das für klug? Wenn ich mich richtig erinnere, wollten
wir uns in unserem Haus einschließen und abwarten, bis sich die
Situation da draußen von allein geklärt hat.“
„Wird sie nicht“, erwiderte ich. „Die Situation hat sich geändert.“
Ich blickte auf unsere Frau Doktor und die senkte den
Kopf.
„Ralf denkt an die Vorräte und die Anderen, die kommen werden, um
sie sich zu holen“, warf sie ein.
„Wir müssen schneller sein. Das ist es immer im Leben“, stellte ich
fest. „Wie heißt es so schön, nicht der Große frisst den Kleinen,
sondern der Schnellere den Langsamen.“
„Du und Deine Sprüche.“ Manuela seufzte. Sie kannte meine Sprüche
zur Genüge und mochte es nicht, wenn ich diese immer wieder zum
Besten gab.
„Er hat aber recht“, half mir Susanne über.
„Alles ist anders geworden“, fuhr ich fort. „Da draußen herrscht
Chaos. Das heißt Rechtslosigkeit! Könnt Ihr euch auch nur annähernd
vorstellen, was das bedeutet? Es werden Leute kommen, die nehmen
sich, was sie brauchen. Was dem im Wege steht, wird beseitigt. So
einfach wird das sein.“
„So schlimm wird es schon nicht kommen.“
Das war typisch meine Manuela, - immer positiv denken, selbst wenn
der Arsch voller Tränen steht, dachte ich. „Nein, Manu, schlimmer!
Denk´ an das, was uns Susanne berichtet hat. Die Bundeswehr ist
weg. Reste der Polizei und einige andere haben sich auf dem Schloss
verschanzt. Wir wissen nichts darüber, was dort vorgeht und wir
wissen nichts darüber, was in der Stadt oder dem Umland los
ist.“
„Ich weiß was“, meldete sich Susanne. „Wir sind doch offiziell alle
tot!“
„Wieso das?“ wollte ich wissen.
„Hast Du nicht den gelben Fleck an eurem Briefkasten gesehen?“ Als
sie mein erstauntes Gesicht sah fuhr sie fort: „Also nicht? Ist
doch kaum zu übersehen.“
„An unserem Briefkasten?“- wollte Manuela wissen.
„Nicht nur an eurem, an allen der Siedlung, soweit ich es sehen
konnte. Das ist die Bundeswehr gewesen. Die sind herumgefahren und
haben überall geklingelt und geklopft, ob sich noch jemand im Haus
befindet. Alle, die sich gemeldet haben, wurden mitgenommen. Wo
sich niemand meldete, gab´s den gelben Fleck als
Zeichen.“
„Wofür?“ Manuela wollte die Endgültigkeit dieser Handlungsweise
immer noch nicht akzeptieren.
„Für den Tod, - so wie im Mittelalter!“ Damit stand Susanne auf.
„Ich gehe jetzt nach Hause und schließe mich wieder mal ein. Morgen
komme ich mit!“
„Wozu?“ fragte ich in einem Tonfall, der ihr anzeigte, dass ich ihr
Angebot wohl eher als Belastung empfand.
„Damit wir uns gegenseitig decken können, falls wir auf andere
Überlebende treffen. Außerdem können 2 mehr tragen als
einer.“
„Und 3 mehr als 2“ warf Manuela ein.
„Du hütest unser Haus.“ lehnte ich ab und das so, dass Manuela
wusste, hier gab es keine Diskussion mehr. „Wenn wir nicht
zurückkehren können, ist alles vorbei“, sagte ich und sie
verstand.
„Bist Du bereit, Dich und uns zu verteidigen, falls es dazu kommen
sollte?“, wollte ich von Susanne wissen.
„Ich werde es wissen, wenn es so weit ist“, erwiderte sie
entschlossen und ich glaubte ihr.
„Hoffentlich! Wer zögert, ist danach tot! Merke Dir das.“
„Gilt das auch für Dich?“
So war sie, - immer die große Klappe. „Mach´ Dir darüber keine
Sorgen. Für den Fall kenne ich mich.“
„Und was heißt das?“ Sie stand jetzt in der Tür und warf mir noch
einmal einen eher fragenden als herausfordernden Blick
zu.
„Weil ich sie hasse“, würgte ich hervor. „Das muss Dir
genügen.“
„Das genügt“, sagte sie mit einem vielsagenden Blick und verließ
uns in die hereingebrochene Dunkelheit.
Ich saß noch immer am Tisch und blickte vor mich hin nach unten. Es
war wieder aus mir herausgebrochen und dafür ging ich mit mir
selbst ins Gericht, mehr als Manuela es jetzt tun würde.
„Musste das sein?“ Sie sah mich mit diesem Blick an, der mich immer
ganz klein machte. Ich wollte ihr nicht wehtun, aber manchmal
rutschte es eben heraus.
„Heute musste es sein“, sagte ich mit Nachdruck und blickte sie
traurig an. „Wenn sie uns entdecken, wenn sie feststellen, dass wir
überlebt haben, werden sie uns nach dem Leben trachten. Sie sind so
und dafür hasse ich sie alle!“
„Wie kannst Du so von allen sprechen?“ warf sie mir vor. „Wir
können froh sein, wenn noch andere außer uns überlebt haben. Es
sind nie alle schlecht. Du sprichst von denen, die noch da sind,
wie von Tieren.“
Jetzt blickte ich ihr lange und eindringlich in die Augen. „Nein,
Du irrst dich“, sagte ich langsam. „Tiere sind nicht so!“ Darauf
erwiderte sie nichts. Was sollte man auch auf so was erwidern. Es
gibt so abschließende Sätze, da erübrigt sich einfach alles und das
war so einer. „Wir gucken morgen mal nach dem Rechten, was noch so
da ist von dem ganzen Konsumzauber. Durch unsere Krankheit haben
wir vielleicht was verpasst. Jetzt, wo wir zu dritt sind, könnten
wir noch ein paar Dinge gebrauchen, falls wir noch was finden, so
was wie Brotmehl zum Beispiel oder Müsli. Obst und Gemüse ist
bestimmt weg oder verdorben. Da mache ich mir keine Hoffnungen. Wir
nehmen die Rucksäcke mit und packen ein, was wir tragen können.
Falls die Luft rein ist, holen wir anschließend mehr.“
„Und was mache ich hier allein, während ich darauf warte, dass sie
euch erwischen?“
„Du hütest das Haus. Habe ich doch gesagt. Außer uns kommt hier
keiner mehr rein und wenn einer in unserer Abwesenheit kommt, dann
stellst Du dich tot, was wir ja offiziell auch sind.“
„Und wenn die über den Zaun klettern, was dann?“ Sie hatte wirklich
Angst vor dem, was da am nächsten Morgen auf sie zukommen
würde.
„Dann schnappst Du Dir die Gaspistole, gehst nach oben und schießt
in die Luft. Wir wissen dann Bescheid und kommen sofort zurück“,
versuchte ich sie zu beruhigen.
„Und dann?“
„Dein Schuss wird sie erschrecken. Damit rechnen sie nicht. Ebenso
wenig rechnen sie damit, dass da noch jemand kommt, der bewaffnet
ist.“ Ich überlegte schnell, was ich dafür am besten mitnehmen
würde. „Wir nehmen die Schwerter mit. Das muss reichen.“
“ Komm´, wir gehen hoch. Du musst schlafen, damit Du morgen
ausgeruht an die Sache gehen kannst.“
Wir räumten gemeinsam den Küchentisch ab, kontrollierten die
Eingänge und die geschlossenen Rollos (Das Licht hätte uns bei der
allgemeinen Dunkelheit kilometerweit verraten) und stiegen in das
Obergeschoss. Diesmal wollte ich sehen, wie die Dunkelheit um uns
herum aussah, wenn es sie denn wirklich gab. Bisher hatte einfach
niemand daran gedacht, nach den Anderen zu sehen.
Unsere Dachfenster zeigten nach Norden und nach Süden, die
Seitenfenster nach Westen zu unseren Nachbarn. Dort leuchtete kein
Licht, keine Kerze oder sonst was. Auch sie hatten den gelben Fleck
gehabt, waren demnach verstorben wie alle anderen. Ich würde
nachsehen, das nahm ich mir vor. Die Stadt konnten wir von unseren
Fenstern nicht sehen. Was wir sahen, - es war stockdunkel. So sah
eine Welt ohne Strom aus. Es fehlte dieses ununterbrochene
Dämmerlicht, das selbst in tiefster Nacht noch wie Lichtstaub das
Dunkel verschmutzte. Diese Dunkelheit hatte für mich etwas Reines,
Ursprüngliches. Ich wusste, warum ich so empfand. Es war dasselbe
Gefühl, welches mich überkam, wenn wir auf unseren Sportrunden
manchmal für längere Zeit niemanden trafen und völlig allein nur
dem Klang unserer Schritte und unseres Atems lauschten. In diesen
Momenten sprach ich dann immer von unserem H5N1-Weg und Manuela sah
mich immer wieder aufs Neue entsetzt an, weil sie diesen Vergleich
überhaupt nicht komisch fand. Dies nun war eine H5N1-Nacht oder
doch nicht?
Am Stadtrand, Richtung Tscherben und Pieckau glaubte ich, einige
wenige flackernde Lichtpunkte zu sehen. Mit dem Fernglas erkannte
ich deutlich Lagerfeuer. Menschen sah ich nicht. Dafür reichte die
Auflösung nicht aus. Um mehr zu sehen, stieg ich aus der Dachluke
auf das Dach und setzte mich mit dem Fernglas in der Hand rittlings
auf den Dachgiebel. Von hier oben aus konnte man das ganze Flusstal
überblicken. Auch das Schloss konnte man am Tage von hier aus gut
erkennen. Jetzt lag die Stadt im Dunkel. Lediglich über dem Schloss
glaubte ich ein schwaches Glimmen zu erkennen. Vielleicht brannten
Feuer im Hof?- dachte ich. Vielleicht hockten sie da um die offene
Feuerstelle und ahnten nicht, dass sie nun dem Neandertaler näher
waren als jemals zuvor in den vergangenen Jahrtausenden.
Die Nacht war kurz, so wie Susanne es vorausgesehen hatte. Im
Moment gingen mir derart viele Dinge durch den Kopf, dass dort kein
Platz für einen gesunden Schlaf zu sein schien. Draußen brach der
Morgen an. Es schien ein schöner und warmer Frühlingstag zu werden.
Gutes Wetter für gute Laune, sagte ich mir, rappelte mich auf, ging
zum Fenster wie immer und blickte durch die Bäume zu unseren
Nachbarn, bei denen sich nichts mehr rührte seitdem es Manuela und
mir wieder gesundheitlich besser ging. Manuela räkelte sich noch in
ihrem Bett. Ich bewunderte sie dafür.
„Gehst Du schon?“ fragte sie verschlafen.
„Ja“, antwortete ich. „Je eher, desto besser. Du weißt doch, nur
der frühe Vogel frisst den Wurm.“ Dann versuchte ich ein Lächeln,
doch das schien nicht so recht zu glücken.
„Pass´ auf Dich auf“, sagte sie wie immer, wenn ich sie in den
letzten Jahren verlassen hatte, um dienstlich durch ganz
Deutschland über seine Autobahnen zu hetzen. Das gehörte jetzt auch
der Vergangenheit an.
„Hab´ keine Angst. Ich bin vorsichtig.“ Auch das hatte ich all´ die
Jahre immer wieder geantwortet, ihr einen kurzen Kuss gegeben und
dann
ging´s los.
Bevor ich das Haus verließ, wollte ich mir noch einen Überblick
verschaffen. Die Leiter zum Dachfenster hatte ich am Abend zuvor
stehen lassen. Oben angekommen öffnete ich nahezu zaghaft die
Fensterklappe, was bei dem Gewicht des außen angebrachten Gitters
gar nicht so leicht war. Das Gitter diente zuvor als Hagelschutz
und vervollständigte jetzt meine Festung im Dachbereich. Meine
Vorsichtigkeit erschien mir im nächsten Moment wiederum absurd,
denn wenn überall gelbe Zeichen an den Häusern prangten, wer sollte
dann das Quietschen meines Dachfensters hören. Egal, ich wurde eben
das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet wurde, wenn ich meinen
Kopf aus unserer Festung hinausstreckte.
Diesmal setzte ich mich nicht draußen aufs Dach wie gestern Nacht,
sondern blickte vorsichtig über den Ziegelrand des Dachfirstes.
Ringsherum herrschte eine nahezu beängstigende Ruhe und Leere. So
etwas an einem Wochentag, an dem sonst Massen von Fahrzeugen auf
der gegenüberliegenden Hauptstraße unterwegs waren, - daran musste
man sich erst einmal gewöhnen. Das tat in den Ohren beinahe weh.
Nur das leichte Wehen des Windes und das Gezwitscher der Vögel
unterbrach ab und zu die Stille.
Auf der Hauptstraße bewegte sich nichts. Die Ampelanlage
funktionierte wie alles andere elektrisch Betriebene natürlich auch
nicht. Vom ca. 1 km entfernten Gewerbegebiet drang kein Geräusch zu
uns herüber. Dort lief natürlich auch nichts mehr. Aus einigen
Gebäuden qualmte es verdächtig. Hatte es dort gebrannt? Ich
wusste überhaupt nichts über die aktuelle Lage. Das wurde mir mehr
und mehr bewusst. Dieses Rätselraten gefiel mir nicht. Ich liebte
klare Tatsachen um mich herum, möglichst alles wissen, alles unter
Kontrolle behalten, den Zufall ausschalten, das war mein Ding. Das
hier war alles andere als mein Ding!
Was mir sofort auffiel und mich total verwirrte war diese Leere.
Ich hatte mit herumstehenden Fahrzeugen gerechnet, mit Trümmern
oder Absperrungen und deren Reste oder mit Leichen, aber nichts
dergleichen. Die Straße und der Parkplatz des Centers machten einen
absolut aufgeräumten Eindruck. An die Absperrungen nach Ausbruch
der Seuche konnte ich mich noch gut erinnern, ebenso an die Massen
von Fahrzeugen, die zum EKZ hin anstanden. Vor mir lag ein leerer
Platz, so wie an einem Sonntag, wenn dort vielleicht einige Skater
unterwegs gewesen sind. Von Absperrungen keine Spur mehr, auch
keine Soldaten waren zu sehen. Gespenstisch! Diese Leere setzte
sich in Richtung Unterdorf auf der Nebenstraße zum Center fort.
Lediglich die Autos der Anwohner parkten wie üblich vereinzelt am
Straßenrand.
Auf der anderen Seite zur Stadt hin änderte sich das Bild. Bis zur
Kreuzung gegenüber stand kein Fahrzeug auf der Landstraße. Von der
Kreuzung an standen die Fahrzeuge dagegen dicht an dicht, teilweise
zweispurig in Richtung Stadt. Die Straße vor unserem Haus verengte
sich nach wenigen Metern zu zwei einspurigen Fahrstreifen, - einer
Richtung Waldsiedlung und der andere Richtung Gartenanlage und
Wäldchen. Bei letzterer standen mehrere Fahrzeuge abseits der
schmalen Straße im Graben. Durch das Fernglas glaubte ich zu
erkennen, dass die Heckbereiche der Fahrzeuge verbeult sein
mussten. Was hatte sich hier abgespielt, während ich weggetreten
gewesen war? Offensichtlich hatten alle, die sich zuvor hier noch
gedrängelt hatten, das Terrain verlassen. Dabei schien nicht alles
ohne Störungen abgelaufen zu sein. Nirgends sah ich einen Menschen,
auch keine toten. Alles leer, zurückgelassen weshalb auch
immer.
Egal. Von Chaos keine Spur. Das gefiel mir ausnehmend gut. Ich
mochte Ordnung über alles. Wenn Ordnung herrschte, befand ich mich
in meinem Element. Unordnung erzeugt in mir nur eine Regung, -
wieder Ordnung herzustellen. Ich persönlich empfand das gar nicht
einmal als so schlimm. Für meine Umgebung schien das allerdings
nicht immer zuzutreffen. Da konnte ich ganz schön nervig sein, das
war mir schon klar. Jetzt kümmerte sich keiner mehr darum.
Vielleicht Susanne, unsere Frau Doktor? Mal sehen.
Auch sie schien nicht besonders geschlafen zu haben, denn sie trat
jetzt aus dem Haus, verschloss alles und bewegte sich auf unser
Anwesen zu. Das gelang ihr einfacher als uns, denn ihr Haus besaß
keinerlei Zaun, keinerlei Abgrenzung. Das galt zum Zeitpunkt der
Errichtung des Hauses als der letzte Schrei, egal wie unsinnig es
im Einzelfall auch sein konnte. Ohne Zaun keine Grenze, ohne Grenze
kein Hausfriedensbruch, - so einfach gestaltete sich dann die Lage.
Bei uns mussten Eindringlinge über zwei Zäune klettern und das war
dann mindestens einmal Hausfriedensbruch zu viel. Jeder sollte
seine Chance haben, auch die, nach einer Warnung wieder zurück zu
klettern. Mir hätte eine solche Offenheit weder in normalen Zeiten,
noch in unserer augenblicklichen Situation gefallen. Musste sie ja
auch nicht. War ja nicht mein Haus. Das war wieder praktisch
gedacht und aktuell nicht effektiv. Eine Ärztin konnte jetzt
wichtig sein. Nicht vergessen! Eigentlich war sie unersetzlich! Ihr
durfte also ebenfalls nichts passieren. Weshalb ließ ich sie dann
weiterhin in ihrem Haus? So ein Leichtsinn! Bisher noch tolerierbar
aber ich würde das ändern, nahm ich mir vor. Eins war schon mal
gut, - zwei Frühaufsteher zusammen. Das ließ sich einrichten. So
konnte man arbeiten.
Ich schloss das Dachfenster weniger vorsichtig und ging noch einmal
zu Manuela, die jetzt ebenfalls aufgestanden war und mich im
Nachthemd empfing, auch wie immer. Diese Nostalgie stimmte mich in
diesem Moment etwas traurig. „Sie ist schon da“, sagte ich
kurz.
„Ich hab´s am Fenster gesehen“, antwortete sie. „Sie wartet vor der
Außentür. Sie überlässt es diesmal Dir, unsere Festung zu
öffnen.“
„ Das kann ich auch besser als sie. Sie lässt immer den Drahtverhau
offen. Wozu habe ich da einen provisorischen Eingang hineingebaut,
wenn ihn keiner benutzt.“ Aus dem Schlafzimmerschrank holte ich mir
einen groben Jeansgürtel und band ihn mir um die Hüfte. Dann begab
ich mich in mein Arbeitszimmer, holte das Katana von der Wand und
hängte mir den Tragegurt quer über die Schulter. Das Tanto
verstaute ich im Gürtel. Dort hinein steckte ich dann noch ein
massives Beil. Ich hatte da so eine Ahnung, wozu uns das nützlich
sein würde.
„Gerüstet wie für eine Schlacht“, sagte sie spöttisch als ich so in
voller Kriegsausrüstung vor ihr stand.
„Der letzte Samurai“, witzelte ich. „Hatte Susanne einen Rucksack
dabei?“
„Ich denke, ja“, sagte sie.
„Also dann wollen wir mal.“ Zusammen gingen wir die Treppe
nach unten, wo ich mir den bereitstehenden Campingrucksack über die
Schulter warf. So konnte man das Katana darunter kaum sehen. „Denke
daran. Hier sind alle tot. Das Zeichen draußen besagt das. Kein
Lebenszeichen von dir. Erst wenn jemand über den Zaun und die
Drahtsperre klettern sollte, gibst Du den Warnschuss für uns an.
Jeder Schuss für die Anzahl der Eindringlinge. Ich weiß dann, was
zu tun ist.“
„So dynamisch habe ich Dich lange nicht gesehen.“ Sie schmunzelte.
„ Die Gefahr scheint Dich jünger zu machen. Vor nicht allzu langer
Zeit hast Du ganz anders gesprochen. Weißt du noch, wie Du Dich
genannt hast?“
Ich musste lächeln. „Ja, `Der alte Mann vom Berge´. Klingt gar
nicht mal schlecht für einen alten Haudegen.“
„Raus jetzt, Du alter Mann.“ Sie gab mir spitzbübisch wie immer
einen kleinen Schubs in den Vorraum.
Hier schien das Licht durch die Schutzverglasung der Eingangstür
herein und tauchte den kleinen Raum in ein freundliches Licht,
während das Haus sonst im Halbdunkel lag, weil wir die Rollos nicht
öffnen wollten. Bloß kein Lebenszeichen abgeben! Dann schloss ich
auf und trat hinaus in einen lichtdurchfluteten Morgen. Tief atmete
ich die frische Luft ein, so, als ob es sich um ein Lebenselixier
handeln würde. Ich drehte mich noch einmal um und winkte ihr zu,
auch so wie immer und sie winkte voller Schalk zurück. So war sie,
immer gut gelaunt, voller Leben, nie langweilig. Manche Männer
hatten Glück, ich auch.
Vom Tor her winkte mir schon Frau Doktor zu. Sie wirkte überhaupt
nicht lustig. Kein Wunder nach dem Verlust, den sie noch lange
nicht weggesteckt hatte. Trotzdem gefiel mir die Entschlossenheit,
die sie an den Tag legte. Sie wollte und konnte die Dinge anpacken,
die zu erledigen waren. Das passte zu diesem Morgen.
„Na, auch schon ausgeschlafen?“ rief sie mir zu.
Ich blickte sofort in alle Richtungen, weil sie ziemlich laut
gesprochen hatte.
„Keine Angst“, beschwichtigte sie meine Vorsicht. „Keiner da.
Schlafen alle noch, - für immer.“
„Wir sollten trotzdem vorsichtig sein“, gab ich zu bedenken. Das
mit dem Durchgang durch die Drahtsperre war wirklich eine Sache für
sich. Aber was für mich, der diese Sperre errichtet hatte, lästig
war, bedeutete auch für andere ein lästiges Hindernis. Am Vordertor
begrüßten wir uns per Handschlag wie alte Kumpels.
„Siehst aus wie ein echter Krieger“, stellte sie mit abschätzendem
Blick auf meine Bewaffnung fest. „Hältst Du das für
notwendig?“
„Wenn es nicht notwendig ist, bin ich nicht traurig darüber“,
antworte ich. „Gestern Abend habe ich noch auf dem Dach gesessen
und mich umgeschaut. Wir sind nicht die Einzigen!“
„Das wusste ich“, sagte sie. „Aber um hierher zu kommen, müssen sie
3 – 4 Kilometer laufen. Bis sie so weit sind, muss der Hunger schon
ganz schön groß sein und wenn er erst einmal so groß ist, können
sie nicht mehr 3 – 4 Kilometer laufen.“
„Bewundernswerte Logik! Das wird nicht auf alle zutreffen“,
entgegnete ich. „Schon immer hatten einige mehr als andere. Daran
wird sich auch jetzt nichts ändern. Vielleicht fahren sie auch. Die
Straße nach Weißenberg schien von meinem Ausguck da oben frei zu
sein.“
Sie schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Als ich das letzte Mal
vom Krankenhaus hier hoch unterwegs gewesen bin, kam ich an der
Steigung nach dem Bahnübergang nicht weiter. Da steht ein
Sattelschlepper quer zur Fahrbahn auf der Straße. Ich musste das
Auto stehen lassen und bin dann die 2 Kilometer zu Fuß
weitergegangen. Das dürfte allen anderen, die da hoch wollten,
ebenso ergangen sein. So leicht kommt da niemand dran vorbei und
Räumfahrzeuge gibt es nicht mehr. Die in die Stadt wollten, hatten
da auch keine Chance aber das hast du vom Dach aus sicherlich auch
gesehen.“
„Ja, da steht alles ab der Kreuzung Richtung Stadt voll. Wenden
konnte und wollte auch keiner. Die stehen alle in eine Richtung und
nirgends eine Spur von einer Leiche. Wo sind die alle
hin?“
„Wie ich,- zu Fuß nach Hause“, antwortete sie. „Wohin gehst du,
wenn du panische Angst hast? Natürlich nach Hause, in deine
Wohnung, deine Höhle wie zu allen Zeiten. Weil du dich da
sicher fühlst. Weil es deine vertrauten vier Wände sind. Ich
denke, die liegen alle in ihren Wohnungen. Zu Zeiten der Pest war
das nicht anders. Entweder die Menschen zogen sich vor Angst zurück
oder sie wurden isoliert, sobald andere annahmen, sie wären
infiziert.“
Ich sah sie fassungslos an. Susanne hatte das eben völlig
teilnahmslos von sich gegeben, so, als ging sie das kaum was an.
War sie so hart verpackt oder konnte sie nicht mehr anders
reagieren.
„Du meinst die ganze Stadt?“ sagte ich fassungslos.
„Nicht nur die Stadt“, antwortete sie trocken. „Das ganze Land,
vielleicht die Welt? Wer weiß das schon. So etwas hat es noch
nie gegeben. Dafür gibt es keine Beispiele. Gewarnt haben
Epidemiologen seit der Spanischen Grippe, nur, auf sie gehört
hat niemand. Und das hier ist schlimmer als die Spanische
Grippe!“
„Das ging so schnell“, stellte ich mehr fragend fest. „So was ist
doch nicht normal! Oder wie siehst du das?“
„Weiß nicht“, antwortete sie sichtlich ratlos. „Keiner meiner
Kollegen hatte dafür eine Erklärung, ich auch nicht. Was nützt uns
das alles. Jetzt haben wir den Dreck und müssen ihn auslöffeln, ob
wir wollen oder nicht. So ist das mit dem Überleben. Mich hat
niemand gefragt, ob ich das wollte. Bei Dir sieht die Sache
offensichtlich ein bisschen anders aus.“ Sie wies mit einer
Drehung des Kopfes in Richtung Drahtsperre.
„Vielleicht ist es eine Art Verschrobenheit von mir“, erklärte ich
darauf. „Ich hatte es schon immer mit Weltuntergang-Szenarien. Bloß
aufs Erleben war ich eigentlich gar nicht so scharf.“
„Dann schlägt ja jetzt Deine große Stunde“, meinte sie
spöttisch.
„Mag sein“, stimmte ich mit etwas Galgenhumor zu. „Aber ganz allein
wird das auch nichts. Meine beiden Frauen müssen mir schon etwas
helfen.“
„So, so, Deine beiden Frauen“, sagte sie. Dabei blickte sie mich
scheel von unten an und grinste ein bisschen.
„Ich meine das eher sozial als familiär“ wehrte ich schnell
ab.
„Dann ist es ja gut“, bemerkte sie offensichtlich erleichtert.
„Dann wollen wir mal ganz sozial schauen, was unsere lieben
Mitmenschen übrig gelassen haben, bevor sie alle das Zeitliche
gesegnet haben.“
„Du kannst einen sagenhaften Humor haben, weißt Du das?“, fragte
ich sie wieder erstaunt. „Solche Bemerkungen sind sonst wohl eher
mein Ding. Frag mal Manuela. Die kennt das.“
„Tolle Frau hast Du“, stellte sie fest. „Schade, dass man früher
kaum miteinander geredet hat. Wo wir doch im Prinzip Nachbarn
gewesen sind. Da muss erst so etwas passieren, dass die Leute
zusammenrücken.“
„So ist das doch immer“, sagte ich zu ihr. „ Wenn´s allen gut geht,
macht jeder sein Ding und kümmert sich nur um den eigenen Kram.
Nachbarn sind da manchmal sogar störend. Ich bin da nie für
übermäßige Gemeinschaftsaktionen gewesen.“
„Ach deswegen die Tu ja-Hecke und der Zaun“, meinte sie.
„Genau. Richtig gesehen. Lieber ein bisschen mehr Sichtschutz, als
zu wenig. Heute bin ich froh, dass es ist, wie es ist.“
„Kann aber auf die Dauer auch anstrengend sein oder?“ Das klang
wieder spöttisch.
„Sagte Manuela früher auch. Mein
Gott, wie das klingt, dieses „Früher“, so wie zu Kaisers oder Erichs Zeiten. Dabei ist es
doch gerade erst gestern gewesen.“ Ich blickte mich nachdenklich
um. „Nun ja, fast gestern. Ein paar Tage haben alles
geändert.“
„Ich hatte nach unseren abendlichen Gesprächen der letzten Tage den
Eindruck, dass Du dir eine solche Veränderung gewünscht
hast.“
„Manchmal habe ich das von mir gegeben“ stimmte ich zu. „Weißt Du,
wir waren alle so satt. Richtig schlecht ging es eigentlich doch
niemand. Mit richtig schlecht meine ich, zu hungern oder so
ähnlich. Geachtet hat das kaum jemand. Einige gönnten dir nicht
einmal den Dreck unter dem Fingernagel. Wie hieß es doch so schön
in der einen Werbung: Mein Haus, mein Auto, mein, mein, mein! Ein
bisschen mehr unser hätte uns allen gut getan.“
„Ho, ho“, lachte sie. „gehst Du jetzt unter die Linken?“
„Ach hör´ doch mit denen auf. Die hatten ihre Chance und haben sie
vertan. Das die anderen keine Heiligen sind, haben diejenigen, die
nur etwas nachdenken konnten, doch vorher gewusst.“
„Deshalb hat man es den meisten ja auch in den letzten zwanzig
Jahren Stück für Stück abgewöhnt“, stellte sie fest und es hätten
meine eigenen Worte sein können. Die Kleine wurde mir
sympathisch.
„Das werden die Übriggebliebenen schnell wieder lernen müssen.
Sonst gehen sie drauf! An Zufälle glaube ich nur bedingt“, sagte
ich. „In unserem Fall hat er uns vermutlich etwas Zeit verschafft,
indem ein Unfall die Zufahrtsstraße gesperrt hat. Die Straße nach
Langenburg ist aber noch offen. Von dort werden sie kommen, wenn
sie was zum Fahren aufgetrieben haben.“
Susanne blickte in die Richtung, von der ich gesprochen hatte. „Du
meinst die aus West?“ fragte sie.
„Letzte Nacht glaubte ich in Richtung Schloss einen Lichtschein
gesehen zu haben. Auch dort lebt noch jemand. Auf die Frage Freund
oder Feind will ich es unter den Umständen von Hunger und Not nicht
ankommen lassen.“
„Wie willst Du das anstellen?“ fragte sie.
„Wir inszenieren dort auch einen Unfall, ganz einfach.“ Damit hatte
ich die Strategie der kommenden Tage festgelegt. „Da gibt es eine
enge Stelle, so eine Art Hohlweg, durch den sich die ohnehin
schmale Straße zwängt. Wenn wir in dem Bereich einige der
Fahrzeuge, die auf der Hauptstraße stehen, ineinander verkeilen,
kommt da keiner durch und auch diese Seite ist gesichert.“ Das
stellte ich mir eigentlich ziemlich einfach vor. Die Zündschlüssel
würden die ehemaligen Besitzer sicherlich nicht stecken gelassen
haben, aber mein Auto besaß eine Abschleppvorrichtung und die
anderen auch. Also Gang raus, das Ding an den Haken und ab zum
Engpass. Dort würden wir die Autos dann einfach ineinander rollen
lassen, bis ein ansehnlicher Haufen entstanden war. Das müsste erst
einmal reichen.
Auch Susanne schien das als guten Vorschlag gelten zu lassen. „Dann
hat jeder sein Center für sich allein. Wir haben unseres und die
aus dem Westteil der Stadt das ihre“, meinte sie.
„Ich hätte nie gedacht, die für unser Nest viel zu große Zahl an
Verkaufseinrichtungen einmal unter diesem Aspekt zu sehen.“ jetzt
musste ich beinahe lachen.
Wir blickten uns nochmals in alle Richtungen um und liefen los. Ich
ging voraus und Susanne folgte mir im Abstand von zehn Metern. Der
uns deckende Lärmschutzwall blieb links hinter uns liegen und
gedeckt durch die frisch ergrünten Büsche der Grünanlagen an der
Zufahrtsstraße zum Center überquerten wir die Straße. Wohl tausend
Mal waren wir diesen Weg früher gegangen um unsere Besorgungen im
Center zu machen. Diesmal war alles anders. Obwohl es nur gut 300
Meter entfernt von unseren Häusern lag, schien mir dieser Weg ohne
Deckung nach der Straße viel zu weit zu sein. Hier konnte jeder
sehen, dass wir uns in Richtung Center bewegten. Dabei wollte ich
ja nur verhindern, dass überhaupt jemand erfuhr, dass wir hier noch
existierten. Wenn niemand von uns wusste, konnte auch niemand was
von uns wollen. Ganz einfach. Wenn jemand was von uns wollte,
hatten wir zwei Möglichkeiten, - geben oder nicht geben. Gaben wir,
dann fehlte es uns. Gaben wir nicht, dann fehlte es den Anderen und
die würden versuchen, es sich zu nehmen und das hieß wie zu allen
Zeiten, - Krieg! Krieg hieß Gewalt und Gewalt hieß immer wieder
neue Gewalt mit Verlusten und Opfern. So viele zum Opfern waren
doch gar nicht mehr da, sagte ich mir. Da an Krieg zu denken, kam
mir nun fast schon wieder pervers vor. Aber so war es doch schon
immer gewesen, - pervers. Nur in anderen Maßstäben.
Ohne jemanden gesehen zu haben, erreichten wir die Ecke des
Baumarktes. Susanne rückte zu mir auf.
„Und, was habe ich Dir gesagt“, meinte sie. „ Keiner mehr da. Deine
Besorgnis ist völlig umsonst.“
Ich lehnte mich erst einmal an das Absperrgitter, hinter dem wie
immer die Zaunelemente und Steine lagen. Weiter hinten standen die
Stauden und Töpfe, sowie allerlei Kram für Heim und Garten. Das
kannte ich alles, ohne hinzusehen. Mich beschäftigte im Moment der
Gedanke an diese abnorme Stille, dieses mir einerseits sehr
angenehme Alleinsein und andererseits überfiel mich der Ansatz von
Panik jetzt, wo ich wirklich fast allein war. Unwillkürlich musste
ich an US-amerikanische Kinofilme denken, in denen ähnliche
Szenarien wieder und wieder auf die eine oder andere Art
durchgespielt worden waren. Auch da gab es Pandemien, massenhaft
Tote, Massaker, Armeen, Zombies und gute, strenggläubige
Amerikaner, die dann alles wieder richteten, - natürlich unter
US-amerikanischer Führung. Wenn schon die Welt gerettet wurde, dann
amerikanisch. Und am Ende ritt John Wayne auf dem breiten Hintern
seines Pferdes in Richtung Sonnenuntergang. Alles
Quatsch!
Die Wirklichkeit sah ganz anders aus! Wie sehr uns Hollywood
vorgegeben hatte, wie die Wirklichkeit auszusehen hatte, stellte
ich nun wieder fest, wo nichts Hollywood entsprach. Im Prinzip
fehlte eigentlich die Action. Das war es! Das hier wurde ein
einfacher, unspektakulärer Spaziergang ganz ohne Zombies.
Nach kurzer Pause bewegten wir uns zum rechten Eingang des Centers,
gleich hinter dem Baumarkt, kurz nach den an die Wand angelehnten
PKW-Anhängern, deren Anwesenheit ich angenehm mit dem Gemüt eines
Buchhalters abhakte, weil ich die Dinger sicherlich noch gebrauchen
konnte. An der Bratwurstbude neben der Drehtür roch es noch nach
verbranntem Fleisch und altem Fett. Die Bude stand offen. Auf dem
Rost lagen verkohlte Würste und Steaks. Das Feuer war längst
erloschen. Es sah so aus, als hätte die Verkäuferin den Stand
einfach verlassen und vergessen, ihre Ware vom Rost zu
nehmen.
Neben dem Geruch nach Verbranntem meinte ich noch einen anderen,
weit strengeren Geruch wahrzunehmen, den Geruch von verdorbenem
Fleisch. Schnell warf ich einen Blick durch die Tür hinter den
Tresen und fand die Bestätigung meiner Vermutung in Form von halb
aufgelösten Wurst-und Fleischresten in einem Wassertrog, der einmal
dazu gedient hatte, die Ware für kurze Zeit frisch zu halten, aber
nicht über mehrere Tage hin. Angewidert warf ich die Tür wieder zu
und folgte Susanne, die an der Drehtür auf mich wartete.
„Hier bewegt sich nichts“, stelle sie nach einem Versuch, die
Türflügel in Drehung zu versetzen, fest.
„Habe ich mir gedacht“, sagte ich und griff nach dem Beil in meinem
Gürtel. Einige Schläge genügten und die Glastür neben dem
eigentlichen Eingang hatte keine Füllung mehr.
Vorsichtig stiegen wir hindurch und standen im Vorraum, der durch
eine elektrisch betriebene Schiebetür vom eigentlichen
Center-Inneren getrennt war.
Auch hier sah alles so aus, als wäre nur geschlossen oder noch
nicht offen, nur dass alles völlig ohne künstliches Licht auskommen
musste. Beleuchtet wurde das Innere des Centers nur durch das
Tageslicht, das von oben durch die Glasabdeckung fiel.
Mit dem Beil in der Hand schlug ich nun auf die Schiebetür ein. Das
sah anfänglich einfacher aus, als es dann wirklich wurde. Mit
Sicherheitsglas hatte ich hier nicht gerechnet. Also steckte ich
das Beil in den Spalt zwischen beiden Hälften des Einganges und
nach und nach bekamen wir das Ganze so weit auf, dass wir hindurch
treten konnten.
Von innen schlug uns ein muffiger, unangenehmer Geruch entgegen und
ich musste sofort an den Verwesungsgeruch in der Bratwurstbude
denken. Natürlich existierten im Inneren des Centers auch genügend
Möglichkeiten, sich mit etwas Essbarem zu versorgen. Wenn ich mich
richtig erinnerte, bestand doch im Grunde genommen fast das gesamte
Freizeitangebot an Wochenenden, bei Volksfesten, Märkten und
sonstigen Gelegenheiten darin, viele Menschen an einem Ort zu
versammeln, um ihnen dort etwas zu verkaufen, das sie zwar
nicht brauchten, das sie aber unter Umständen noch nicht ihr Eigen
genannt hatten und diesen Umstand galt es nun zu ändern. Neudeutsch
hieß das dann: - must have - . Brauch ich nicht, - will ich aber
haben. Klasse! So wurde dann Unsinn verkauft, der vorher unsinnig
produziert worden ist. Unsinnig hieß, Birnen aus Argentinien, weil
die Birnen vom Baum um die Ecke niemand mehr pflückte oder
Kinderspielzeug aus China, weil es samt Transport trotzdem immer
noch unverschämt billig, kitschig und vor allem unverschämt
schädlich für die späteren Nutzer, die Kinder, war. Das
interessierte aber nicht, wenn es nur schön billig blieb. Und bei
all´ dem Unsinn, der dann zu solchen Gelegenheiten angeboten wurde,
gab es immer und überall was zu essen. Wie gesagt, Hunger litt
niemand.
Gegessen wurde nicht wegen des Bedürfnisses zu essen, sondern wegen
des Angebotes an Essen. Klingt verrückt? Ist es auch! Oder wie
konnte erklärt werden, dass es ein übergewichtiger Mitbürger
morgens nach dem Frühstück bei Anblick eines Bratwurststandes
fertigbringen würde, sich noch schnell eine Wurst einzuverleiben.
Ganz einfach, weil es danach roch, weil sie da war und weil sie weg
musste. So ließ es sich doch herrlich leben, ohne einen Moment
darüber nachzudenken, was da eigentlich passierte, denn bevor etwas
passierte, lag die nächste Essgelegenheit bereits in
Reichweite.
Der jetzt stark veränderte Geruch dieser Essgelegenheiten schlug
uns nun entgegen. Susanne und ich sahen uns an und zögerten, durch
den offenen Spalt einzutreten. Sicherlich dachte sie auch an die
Fleischerei in der Mitte oder an den Fischstand. Den Gedanken an
die Tiefkühltruhen im Realmarkt verdrängten wir beide
unausgesprochen. Also traten wir ein, sahen uns etwas unschlüssig
um, so als warteten wir auf irgendein Zeichen oder einen Ruf oder
sonst etwas, irgendwas. Doch nichts dergleichen trat ein. Wir
standen mehr oder weniger verloren am Eingang dieses
Verkaufstempels und er gehörte allem Anschein nach uns allein. Das
war es wieder, dieses Allein! Es hatte was
Bedrückendes an sich, wenn jeden Moment einer kommen konnte und es
kam keiner. Irre! Während früher aus jeder Ecke eine andere Musik
ertönte, erfüllte die Halle nichts anderes, als der Klang unserer
eigenen Schritte.
Rechts befand sich der Eingang des Baumarktes, - unverschlossen!
Wir sahen kurz hinein. Alles stand an dem gewohnten Platz, nur ohne
Beleuchtung und natürlich ebenfalls ohne Musik-Gedudel, das sonst
immer vorherrschend gewesen war. Irgendein dünnes Stimmchen, das
sich an sinnlosen Koloraturen versuchte. Es war ganz einfach
unmodern geworden, eine Melodie zu singen, bei der Töne gehalten
wurden. Selbst wenn es überhaupt nicht notwendig oder angebracht
war, wurden Melodien, bekannt oder noch unbekannt, verleiert. Auch
so eine Übernahme aus Übersee, auf die wir getrost hätten
verzichten können. Vielleicht auch eine Form von -must have -
?
Hier leierte jetzt niemand mehr. Das gefiel mir allerdings schon.
Allmählich registrierte ich angenehme Seiten an unserer
unangenehmen Lage.
Da wir nach Nahrungsvorräten suchten, ließen wir den Baumarkt
rechts liegen und bogen um die Ecke in die lange Haupthalle, die
bis zur Mitte hin überblickt werden konnte. Dort machte diese am
Zentralplatz des Centers einen leichten Knick nach links in
Richtung Real-Kaufmarkt. Da wollten wir hin.
Die Leere vor uns überraschte schon nicht mehr, auch wenn wir uns
immer wieder umsahen und uns so vergewisserten, dass wir immer noch
allein waren. So passierten wir all´ die Angebote an türkischen
Lederwaren, indischen Textilien und chinesischen Elektroprodukten,
natürlich - assembled in Europe - wie es jetzt hieß. Wer´s glaubte?
Derjenige. der etwas Besseres wollte, musste sich schon in Richtung
Leipzig bewegen. Bei Leipzig stand der vielleicht größte
Verkaufstempel Deutschlands und dort gab es Fachgeschäfte, mit
denen die Provinz nicht aufwarten konnte, in denen man allerdings
auch nicht sicher sein konnte, dass ein teures Designerstück auf
dubiosen Umwegen nicht vielleicht doch von niedlichen Inder-Händen
oder fleißigen Chinesen-Scharen hergestellt worden war.
Auf der rechten Seite passierten wir den Elektromarkt Medimax,
früher eines meiner wichtigsten Geschäfte, gleich nach dem Baumarkt
natürlich. Welches Männerherz schlägt nicht höher angesichts eines
Baumarktes. Da machte ich keine Ausnahme. Wer wie ich, in der Zone,
wie die DDR lange Zeit hieß, aufgewachsen war und es sogar fertig
gebracht hatte, zu diesen Zeiten aus eigener Kraft ein eigenes
Häuschen aufzubauen, der schätzte das nahezu uneingeschränkte
Angebot an Gegenständen, zu denen früher vielleicht
Gedankenkontakt, mehr aber nicht, bestanden hatte.
Im Medimax füllte ich den ersten Beutel im Rucksack mit Batterien
verschiedener Größen, die in einem noch unter Strom stehenden
Haushalt nun mal dazugehörten.
Der große Zentralplatz, früher der Ort von Aufführungen zu Festen
wie Weihnachten oder Ausstellungen oder ganz einfach nett
hergerichteten Blumenrabatten mit Kaninchen und Hühnern mit Küken
zu Ostern, lag verweist vor uns. Links ein leerer Eisstand, rechts
hart gewordene Backwaren in einer kleinen, anheimelnden Hütte und
das alles im Dämmerlicht, das durch das hohe Glasdach
einfiel.
Susanne wies mich auf Rossmann hin. Dort gab es Hygieneartikel und
Dinge, die Frauen nun mal liebten. Für meine Manuela spielte dieses
Geschäft eine ähnliche Rolle wie für mich der Baumarkt. Das war gut
so. Jeder sollte seinen Spleen haben und ich ging sogar gerne mit
hinein, weil es da drinnen so gut roch, nach Seifen und Parfüms
verschiedenster Sorten und die Mischung dieser Gerüche verpasste
diesem Ort etwas angenehm Magisches. Auch wenn jetzt alles hinter
dem Eingangsbereich im Halbdunkel lag, drang dieser Geruch jetzt
wieder zu mir und ich sog diesen Duft mit geschlossenen Augen ein,
fast entrückt nach dem Gestank-Erlebnis der Fleischtheke, die wir
noch vor kurzem passiert hatten.
Wenn es nach Susanne gegangen wäre, hätten wir schon nach diesem
Geschäft keinen Platz mehr in unseren Rucksäcken gehabt. Nur mit
Mühe gelang es mir, an ihre Vernunft zu appellieren und sich auf
das Notwendigste zu beschränken und das hieß Seife und Zahnpasta
und mehr nicht. Der Rest später, versprach ich und sie glaubte mir.
Jetzt half mir ihre Sachlichkeit, die mich sonst stets etwas
erstaunt hatte.
Auch für den Rest des Weges, vorbei an den Schuhgeschäften von
Deichmann und Mayer, sowie einem trostlos aussehenden
Blumengeschäft mit welken Blättern und hängenden Blüten, blieb der
Eindruck einer verlassenden Aufgeräumtheit, mit der wir nicht
gerechnet hatten. Alle Geschäfte besaßen die Möglichkeit, durch
schaufenstergroße Türelemente verschlossen zu werden, bloß
geschlossen hatte sie niemand. Geschlossen hatten die Inhaber oder
Angestellten lediglich die Kassen, gefüllt oder nicht,- das
überprüften wir nicht, weil man ja Geld bekannter Weise nicht essen
kann. Das gesamte Interieur lag offen für uns da und rief uns
förmlich zu, - bedient euch!
Später! Wir suchten ja Nahrungsmittel und wenn es ging, lang
haltbare. Die Glastüren des Realmarktes hatten die Angestellten vor
dessen Verlassen geschlossen. Womöglich herrschte hier bei Ausbruch
der Seuche der größte Andrang. So dämlich war nun auch niemand,
sich einen Fernseher zu holen, wenn es galt das Überleben der
nächsten Tage zu sichern. Dieser Gedanke verunsicherte mich
wiederum, da ich somit annehmen musste, die Dinge, die wir suchten,
nicht mehr vorzufinden.
Ein ängstlicher Blick in den Innenraum, an der Reihe der Kassen
vorbei, beruhigte mich erst einmal. Auch wenn hier mehr los gewesen
sein musste. Immerhin konnte ich umgestoßene Bücherstände erkennen,
die davon zeugten, dass hier Eile geboten gewesen war. Auf Grund
des Kauf- und Verkaufsdrucks der Tage vor dem großen Schweigen
hatten die Angestellten klugerweise die sonst üblichen
Zwischenregale in den Gängen entfernt, so dass die an den Kassen
Anstehenden genügend Platz zur Verfügung gehabt hatten. Irgendetwas
Einschneidendes musste dann aber doch geschehen sein, denn selbst
nach den Kassen, also schon nach dem Zahlvorgang, standen und lagen
Einkaufswagen voller Waren im Gang.
Ich benutzte wieder mein Beil, um uns Eintritt zu verschaffen. Auch
hier schlug uns der Geruch von verdorbenen Waren entgegen. Am Ende
des Marktes befand sich die Fleischtheke und wir wussten, woher der
Geruch stammte. So standen wir wieder etwas unschlüssig vor den
umgestürzten Einkaufswagen und suchten nach Erklärungen, die
ohnehin nur Vermutungen bleiben würden aber wenigstens Deutungen
dessen, was ich während meiner Infektion verpasst hatte. Wer nach
dem Bezahlen seinen Einkauf verließ oder beim Verlassen des Marktes
in der Hast umkippte, der befand sich auf der Flucht vor etwas,
dass ihn alles andere, den mühsam erstandenen Warenkorb, das Auto
auf der Straße, die offen stehenden Läden des Centers, vergessen
ließ. Alle Zeichen hier im Realmarkt verwiesen darauf, dass hier
die Seuche mit voller Kraft zugeschlagen hatte. Hier waren deren
Zeichen bei einigen Kunden zutage getreten und es hatte nur eines
einzigen Aufschreis der Angst bedurft, um der Flucht eine Richtung
zu geben, - weg hier, bloß weg hier, wo der Tod lauerte, weg, nach
Hause, einschließen, wegsperren, Scheißangst, Todesangst, nur ich
nicht, alle anderen von mir aus, ja, nur ich nicht, die Tür zu, den
Kopf zwischen die Arme und Augen zu.
So verhielt sich der Vogel Strauß, hieß es, und wurde trotzdem
gefressen. Die Suche hatte sie alle gefressen, eingeschlossen,
weggesperrt, allein oder gemeinsam, - ohne Unterschied.
Wir nun waren ihre Erben. So kamen wir uns jedenfalls vor, als wir
die Wagen untersuchten, über die wir teilweise steigen mussten, um
in den Bereich des Marktes zu gelangen, in dem sich Müsli,
Brotmehl, Obst und Kartoffeln befanden.
Also musterten wir unser Erbe und entdeckten all´ die Dinge
sinnentleerter Existenzen, deren Lebensinhalte von dem bestimmt
worden waren, was ihnen die Medien Fernsehen, Internet und
Smartphone in die Gehirne geprägt hatten. Wie anders sollte man
denn sonst massenhaft Fleisch, Wurst, Alkohol oder Zigaretten
werten, die neben oder in den zurückgelassenen Wagen
lagen.
Einige hatte in der Eile alles zusammengerafft, das ihnen so gerade
in den Sinn gekommen war, als sie auf einmal vor der
vielleicht wichtigsten Entscheidung ihres bisher so
dahinplätschernden Lebens standen, - für die nächsten Tage mit dem
Notwendigsten des Lebens versorgt zu sein. Dazu gehörte nun mal
kein Nagellackentferner, ebenso wenig wie eine Flasche Schnaps.
Dazu gehörte vor allem erst mal ein Plan und wer hatte denn schon
bitte schön einen Plan? Wofür denn so was?
Die meisten Menschen besaßen nicht einmal eine Vorstellung für die
Abläufe des nächsten Tages, geschweige denn für das Überleben! Das
Denken hatten längst andere für sie übernommen und die gaben vor,
was angesagt war. Sich selbst einmal bemühen, bewegen, aufstehen,
loslegen, - ach was, wie langweilig, wie öde. Gott war rechteckig
geworden und aus dem rechteckigen Kasten kam die Wahrheit, die
Tipps fürs Leben, so wie Super-Nanni oder Dschungelcamp oder
Deutschland sucht den Superstar oder Germanys next Topmodel. Da
befanden sich die Inhalte, auf die es ankam. Die Cola Flasche
auf der linken Seite, die Chips auf der rechten und den
übergewichtigen Hintern im Sessel, - so ließ es sich doch bequem
leben und vor allem eins, - nicht mit Nachdenken
belasten!
Der Schauspieler Anthony Hopkins hatte einmal in dem Film „Auf des
Messers Schneide“ festgestellt, dass die meisten Menschen in
Extremsituationen aus Scham über ihre Unfähigkeit sterben würden.
Da mochte wohl etwas dran sein. Vor allem waren alle allein
gestorben, ohne den rechteckigen Gott und ohne 100.000
Facebook-Freunde und ohne Plan!
Nach dem dritten Einkaufskorb gaben wir es auf, hier nach
brauchbaren Dingen zu suchen, - im Gegenteil. Wir leerten beide
jeder einen Wagen, um ihn mit den Dingen vollzuladen, nach denen
wir suchten und von denen wir inzwischen durch die Analyse der
zurückgelassenen Waren wussten, dass wir sie finden
würden.
Dann standen wir vor dem Regal mit verschiedenen Brotmehlsorten und
wurden bestätigt. Kaum eine Tüte fehlte. Wir füllten allein einen
Wagen hiermit. Den anderen Wagen beluden wir mit Müsli, H-Milch,
Äpfeln und Kaffee. Ja Kaffee, der stand nicht mehr im Regal. Den
mussten wir aus einigen Körben zusammensammeln. In den Rucksäcken
hatten wir nun Platz für Gewürze, Salz und Zucker, bis wir sie fast
nicht mehr tragen konnten. Mann, war das eine Fuhre! Zufrieden mit
unserer Sammlung begaben wir uns zum Ausgang des Marktes, als wir
den Schuss hörten!