Kapitel 4 - Stille

 

So war das also. Jetzt hatte ich zwei Frauen! Toll, hätten früher einige von sich gegeben, die dabei nur an das Eine gedacht hatten und nicht an alles andere.
Ich dachte an das Eine im Moment sowieso nicht und alles andere fiel mir schlagartig auf die Schultern. Manuela wollte ich beschützen, mein Leben lang, zunächst versprochen und später gelebt. Ihrem Wohlergehen galt meine Sorge.
Solange man mich in Ruhe ließ, kümmerte mich der „Rest“, wie ich es in bitteren Momenten häufig ausdrückte, herzlich wenig. Die einzige Ausnahme, die ich für diese Regel in meinem Leben zugelassen hatte, war unser Sohn gewesen. Mein Gott, wo der jetzt wohl steckte. Ich verscheuchte diesen Gedanken sofort wieder.
Tobias hatte sich damals doch noch impfen lassen. Manuela zwang ihn mit ihrer ganzen Muttermacht dazu und heute waren wir froh darüber, auch wenn wir von ihm und seiner Freundin Lana nichts weiter wussten, als dass sie auf Teneriffa zum Kiten in den Urlaub gefahren waren, bevor hier die Seuche ausbrach. Er würde einen Weg finden, dessen war ich mir sicher. Da kam er nach seinem Vater. Wir waren ebenso, Punkt.
Hier ging es aber um Versorgung, Schutz, Lebenserhaltung und nicht um Sex. Ich kam mir so ungefähr vor wie ein Araber mit seinen Frauen, der sich mehrere Frauen leistete, wenn er sie sich leisten konnte. Das hatte ebenfalls allein mit Sex nichts zu tun, sondern war Ausdruck von Wohlstand. 
Ich musste an die Schwierigkeiten denken, die eine solche Versorgungsnotwendigkeit mit sich brachte. Ignorieren konnte ich diese Lage nicht so einfach. Schließlich hatte uns unsere Ärztin beide gerettet.
Dank der Hilfe unserer Ärztin ging es uns beiden innerhalb weniger Tage ausgezeichnet. Ich hatte sie in die Geheimnisse unserer Festung eingeführt, was hieß, dass sie nun Bescheid wusste über die Technik und die Vorratslage. Da staunte sie nicht schlecht, auch wenn es sich nur um die Bestände für ca. 3 Monate handelte und das auch nur für zwei Personen. Für 3 Personen wurden da ohne Rechenkünstler zu sein ziemlich schnell 2 Monate draus. Das, was sie zu ihrer Versorgung beitragen konnte, reichte vorn und hinten nicht. Ihr Haushalt war eben ein Normalhaushalt gewesen, was bedeutete, - einen Wocheneinkauf höchstens und damit war die Bevorratung abgeschlossen.
Energetisch sah es genauso trüb aus. Ihr Haus verfügte über eine Gasheizung. Damit hing sie an einer Zentralversorgung und die Zentralversorgung hing wiederum an der Energieversorgung, wie eben alles so schön miteinander zusammenhing. Das bedeutete aktuell, - kein Strom, - kein Gas, - keine Wärme, - keine Kochgelegenheit und damit kein abgekochtes Wasser, falls die vorhandenen Getränkereserven aufgebraucht sind.
Trotzdem hatte sie darauf bestanden, weiterhin in ihrem Haus zu wohnen, im Haus ihrer Familie. Die hatte sie ganz allein in ihrem Garten hinter dem Haus begraben, ohne Kreuz, ohne jeglichen Hinweis. Sie wollte nicht auch noch jeden Tag beim Blick in den Garten darauf hingewiesen werden, was passiert war und war noch kommen konnte.  Da sie sich ohne Energie ihre Speisen nicht selbst zubereiten konnte, kam sie zu den Mahlzeiten rüber zu uns. Sie hatte ihr Klingelzeichen und nutzte es auch. Mich einmal mit erhobenem Samurai Schwert auf der Treppe stehen zu sehen, hatte offensichtlich gereicht.
Sie hieß Susanne, ein schöner Name und er passte zu ihr. Klein, knapp 1,50m groß und dabei ziemlich rund gewachsen und das trotz der wöchentlichen Jogging-Runden. Dazu hatte sie eine gewöhnungsbedürftige burschikose Art an sich, die mit Sicherheit nicht jedermanns Sache gewesen war. Uns störte das nicht. Wir mochten direkte und offene Menschen.  Also nahmen wir sie auch so auf und teilten mit ihr.
Ich dachte weiter und natürlich prosaisch wie immer. In einer Notsituation wie unserer konnte ein Arzt unter Umständen nicht mit Gold aufgewogen werden. Sah man die Sache so, stellte sich der Frauenzuwachs als überaus nützlich dar. Überhaupt stellte ich an mir fest, dass ich inzwischen alles, was uns umgab, rein unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit zu betrachten begann. Im Moment erschien mir das nicht sonderlich beunruhigend und an später wollte ich in diesem Zusammenhang nicht denken. Ich dachte an unsere 2 Monate und an das, was wir danach unternehmen mussten, um unser Leben fortsetzen zu können. So einfach konnten die Dinge werden. Das Leben fortsetzen und mehr nicht. Kein Job, kein Urlaub, keine Bank, kein Geld, kein Auto, - alles unnützer Tand!
Um den Sinn des Lebens wurde so viel philosophiert, dass einem der Kopf davon fusselig werden konnte und dabei war es so einfach, nur dass dies niemand begreifen oder einsehen
wollte.
Der Sinn des Lebens bestand im Leben selbst und sonst nichts. Die Südländer hatten das zum Teil begriffen. Deshalb fuhren wir ja auch so gern dorthin, um ein bisschen am Dolce Vita teilzuhaben. Kaum zurück hieß es wieder Job, Karriere, Kohle, Handy, das ganze Theater eben!
Keine Zeit zum Nachdenken!
Keine Lust auf Verzicht!
Zurückhaltung?
Ein bisschen Zurückhaltung, - das war drin und das versuchten wir beide zu leben. Das erregte Anstoß, Missverständnis und auch Missachtung. Da wir uns einen Stand erarbeitet hatten, in dem wir uns über die Meinung von Bekannten, Nachbarn oder Verwandten hinwegsetzen konnten, ohne Schaden zu nehmen, ließ uns das kalt. Meine Chefs waren weit weg im tiefsten Süden Deutschland und die interessierten sich für mein Leben nicht. Die interessierte nur, wie ich meinen Job machte und was das Ganze kostete.
Wenn ich meinte „Zurücknehmen“, dann hieß das nichts Besonderes. Dann meinte ich so was wie 50 fahren, wenn da 50 steht (von mir aus auch 55) aber nicht 65 oder 70!
Oder ein Stückchen Papier oder eine Kippe in den Abfallbehälter werfen und nicht dort fallen zu lassen, wo es mir gerade zur Last geworden ist.
Ein Hund kackt nicht von allein auf einen Fußweg. Hunde lieben es ins Gras zu kacken und selbst dort kann man die Hinterlassenschaft entsorgen, damit kein anderer hineintritt. Aber nein, mein Hund muss jetzt also soll er jetzt. Den Dreck können dann andere wegräumen. Problematisch wird die Situation nur dann, wenn es diese Anderen nicht gegeben hat und man selbst in die Scheiße der Vorgänger tritt. Das ist dann aber wirklich eine ausgemachte Schweinerei! Oder?
Aufstehen im öffentlichen Verkehrsmittel, - das hat dann schon was von Kultur und nichts von „Weil ich es mir wert bin“.
Die kleinen vernachlässigten Dinge des Lebens sind es, durch welche die großen Sauereien möglich und gerechtfertigt werden. Alles fängt einmal klein an. Leider denkt bei aller persönlicher Wichtigkeit kaum einer daran.
„Weil ich es mir wert bin.“ Dieser Werbeslogan, der hatte was. Der traf den Nerv der Zeit. Erst komme ich, dann noch einmal ich und dann, - na ja, ich einfach noch einmal. So geht das immer und überall. Man könnte verrückt darüber werden.
Und jetzt? Was galt jetzt?
Ich habe nun zwei Frauen! Wir sind eine Essensgemeinschaft und helfen einander, falls nötig und Hilfe war von nun an nötig. Ich hatte früher viel zu häufig über ähnliche Situationen, wie diese gegrübelt und versucht, alle Varianten des Unglücks, das über uns gekommen war, durchzuspielen. Am Ende stand eigentlich immer ein und dieselbe Erkenntnis, - alleine schaffst du das nicht! Wir hatten noch 2 Monate in unserer Festung. Die waren schnell herum. In unserer Siedlung schien außer uns 3 Personen niemand mehr am Leben zu sein, was nicht bedeutete, dass anderswo auch niemand mehr lebte.
Was war aus den Menschen auf dem Schloss geworden? Wer und vor allem wie viele lebten dort noch und wie viel hatten die dort oben zu beißen? Hunger kam noch weit vor dem Sexualtrieb und zwar nach etwa 3 Tagen. Die waren inzwischen längst um. Wenn es in der Stadt keine Nahrung mehr gab, würde die Suche außerhalb beginnen, was hieß, irgendwann würden sie auch zu uns auf den Berg kommen, denn hier lag das Einkaufscenter, der größte Einkaufstempel der Umgebung und in dessen Nähe hatten gerade mal wir Drei überlebt.
So lange wollte ich nicht warten. Beim Abendessen teilte ich das den Frauen mit.
„Morgen besuchen wir das Center“, ließ ich zwischen zwei Bissen fallen.
Manuela blickte mich überrascht an.
„Hältst du das für klug? Wenn ich mich richtig erinnere, wollten wir uns in unserem Haus einschließen und abwarten, bis sich die Situation da draußen von allein geklärt hat.“
„Wird sie nicht“, erwiderte ich. „Die Situation hat sich geändert.“ Ich blickte auf unsere Frau Doktor und die senkte den Kopf.
„Ralf denkt an die Vorräte und die Anderen, die kommen werden, um sie sich zu holen“, warf sie ein.
„Wir müssen schneller sein. Das ist es immer im Leben“, stellte ich fest. „Wie heißt es so schön, nicht der Große frisst den Kleinen, sondern der Schnellere den Langsamen.“
„Du und Deine Sprüche.“ Manuela seufzte. Sie kannte meine Sprüche zur Genüge und mochte es nicht, wenn ich diese immer wieder zum Besten gab.
„Er hat aber recht“, half mir Susanne über.
„Alles ist anders geworden“, fuhr ich fort. „Da draußen herrscht Chaos. Das heißt Rechtslosigkeit! Könnt Ihr euch auch nur annähernd vorstellen, was das bedeutet? Es werden Leute kommen, die nehmen sich, was sie brauchen. Was dem im Wege steht, wird beseitigt. So einfach wird das sein.“
„So schlimm wird es schon nicht kommen.“
Das war typisch meine Manuela, - immer positiv denken, selbst wenn der Arsch voller Tränen steht, dachte ich. „Nein, Manu, schlimmer! Denk´ an das, was uns Susanne berichtet hat. Die Bundeswehr ist weg. Reste der Polizei und einige andere haben sich auf dem Schloss verschanzt. Wir wissen nichts darüber, was dort vorgeht und wir wissen nichts darüber, was in der Stadt oder dem Umland los ist.“
„Ich weiß was“, meldete sich Susanne. „Wir sind doch offiziell alle tot!“
„Wieso das?“ wollte ich wissen.
„Hast Du nicht den gelben Fleck an eurem Briefkasten gesehen?“ Als sie mein erstauntes Gesicht sah fuhr sie fort: „Also nicht? Ist doch kaum zu übersehen.“
„An unserem Briefkasten?“- wollte Manuela wissen.
„Nicht nur an eurem, an allen der Siedlung, soweit ich es sehen konnte. Das ist die Bundeswehr gewesen. Die sind herumgefahren und haben überall geklingelt und geklopft, ob sich noch jemand im Haus befindet. Alle, die sich gemeldet haben, wurden mitgenommen. Wo sich niemand meldete, gab´s den gelben Fleck als Zeichen.“
„Wofür?“ Manuela wollte die Endgültigkeit dieser Handlungsweise immer noch nicht akzeptieren.
„Für den Tod, - so wie im Mittelalter!“ Damit stand Susanne auf. „Ich gehe jetzt nach Hause und schließe mich wieder mal ein. Morgen komme ich mit!“
„Wozu?“ fragte ich in einem Tonfall, der ihr anzeigte, dass ich ihr Angebot wohl eher als Belastung empfand.
„Damit wir uns gegenseitig decken können, falls wir auf andere Überlebende treffen. Außerdem können 2 mehr tragen als einer.“
„Und 3 mehr als 2“ warf Manuela ein.
„Du hütest unser Haus.“ lehnte ich ab und das so, dass Manuela wusste, hier gab es keine Diskussion mehr. „Wenn wir nicht zurückkehren können, ist alles vorbei“, sagte ich und sie verstand.
„Bist Du bereit, Dich und uns zu verteidigen, falls es dazu kommen sollte?“, wollte ich von Susanne wissen.
„Ich werde es wissen, wenn es so weit ist“, erwiderte sie entschlossen und ich glaubte ihr.
„Hoffentlich! Wer zögert, ist danach tot! Merke Dir das.“
„Gilt das auch für Dich?“
So war sie, - immer die große Klappe. „Mach´ Dir darüber keine Sorgen. Für den Fall kenne ich mich.“
„Und was heißt das?“ Sie stand jetzt in der Tür und warf mir noch einmal einen eher fragenden als herausfordernden Blick zu.
„Weil ich sie hasse“, würgte ich hervor. „Das muss Dir genügen.“
„Das genügt“, sagte sie mit einem vielsagenden Blick und verließ uns in die hereingebrochene Dunkelheit.
Ich saß noch immer am Tisch und blickte vor mich hin nach unten. Es war wieder aus mir herausgebrochen und dafür ging ich mit mir selbst ins Gericht, mehr als Manuela es jetzt tun würde.
„Musste das sein?“ Sie sah mich mit diesem Blick an, der mich immer ganz klein machte. Ich wollte ihr nicht wehtun, aber manchmal rutschte es eben heraus.
„Heute musste es sein“, sagte ich mit Nachdruck und blickte sie traurig an. „Wenn sie uns entdecken, wenn sie feststellen, dass wir überlebt haben, werden sie uns nach dem Leben trachten. Sie sind so und dafür hasse ich sie alle!“
„Wie kannst Du so von allen sprechen?“ warf sie mir vor. „Wir können froh sein, wenn noch andere außer uns überlebt haben. Es sind nie alle schlecht. Du sprichst von denen, die noch da sind, wie von Tieren.“
Jetzt blickte ich ihr lange und eindringlich in die Augen. „Nein, Du irrst dich“, sagte ich langsam. „Tiere sind nicht so!“ Darauf erwiderte sie nichts. Was sollte man auch auf so was erwidern. Es gibt so abschließende Sätze, da erübrigt sich einfach alles und das war so einer. „Wir gucken morgen mal nach dem Rechten, was noch so da ist von dem ganzen Konsumzauber. Durch unsere Krankheit haben wir vielleicht was verpasst. Jetzt, wo wir zu dritt sind, könnten wir noch ein paar Dinge gebrauchen, falls wir noch was finden, so was wie Brotmehl zum Beispiel oder Müsli. Obst und Gemüse ist bestimmt weg oder verdorben. Da mache ich mir keine Hoffnungen. Wir nehmen die Rucksäcke mit und packen ein, was wir tragen können. Falls die Luft rein ist, holen wir anschließend mehr.“
„Und was mache ich hier allein, während ich darauf warte, dass sie euch erwischen?“
„Du hütest das Haus. Habe ich doch gesagt. Außer uns kommt hier keiner mehr rein und wenn einer in unserer Abwesenheit kommt, dann stellst Du dich tot, was wir ja offiziell auch sind.“
„Und wenn die über den Zaun klettern, was dann?“ Sie hatte wirklich Angst vor dem, was da am nächsten Morgen auf sie zukommen würde.
„Dann schnappst Du Dir die Gaspistole, gehst nach oben und schießt in die Luft. Wir wissen dann Bescheid und kommen sofort zurück“, versuchte ich sie zu beruhigen.
„Und dann?“
„Dein Schuss wird sie erschrecken. Damit rechnen sie nicht. Ebenso wenig rechnen sie damit, dass da noch jemand kommt, der bewaffnet ist.“ Ich überlegte schnell, was ich dafür am besten mitnehmen würde. „Wir nehmen die Schwerter mit. Das muss reichen.“
“ Komm´, wir gehen hoch. Du musst schlafen, damit Du morgen ausgeruht an die Sache gehen kannst.“
Wir räumten gemeinsam den Küchentisch ab, kontrollierten die Eingänge und die geschlossenen Rollos (Das Licht hätte uns bei der allgemeinen Dunkelheit kilometerweit verraten) und stiegen in das Obergeschoss. Diesmal wollte ich sehen, wie die Dunkelheit um uns herum aussah, wenn es sie denn wirklich gab. Bisher hatte einfach niemand daran gedacht, nach den Anderen zu sehen.
Unsere Dachfenster zeigten nach Norden und nach Süden, die Seitenfenster nach Westen zu unseren Nachbarn. Dort leuchtete kein Licht, keine Kerze oder sonst was. Auch sie hatten den gelben Fleck gehabt, waren demnach verstorben wie alle anderen. Ich würde nachsehen, das nahm ich mir vor. Die Stadt konnten wir von unseren Fenstern nicht sehen. Was wir sahen, - es war stockdunkel. So sah eine Welt ohne Strom aus. Es fehlte dieses ununterbrochene Dämmerlicht, das selbst in tiefster Nacht noch wie Lichtstaub das Dunkel verschmutzte. Diese Dunkelheit hatte für mich etwas Reines, Ursprüngliches. Ich wusste, warum ich so empfand. Es war dasselbe Gefühl, welches mich überkam, wenn wir auf unseren Sportrunden manchmal für längere Zeit niemanden trafen und völlig allein nur dem Klang unserer Schritte und unseres Atems lauschten. In diesen Momenten sprach ich dann immer von unserem H5N1-Weg und Manuela sah mich immer wieder aufs Neue entsetzt an, weil sie diesen Vergleich überhaupt nicht komisch fand. Dies nun war eine H5N1-Nacht oder doch nicht?
Am Stadtrand, Richtung Tscherben und Pieckau glaubte ich, einige wenige flackernde Lichtpunkte zu sehen. Mit dem Fernglas erkannte ich deutlich Lagerfeuer. Menschen sah ich nicht. Dafür reichte die Auflösung nicht aus. Um mehr zu sehen, stieg ich aus der Dachluke auf das Dach und setzte mich mit dem Fernglas in der Hand rittlings auf den Dachgiebel. Von hier oben aus konnte man das ganze Flusstal überblicken. Auch das Schloss konnte man am Tage von hier aus gut erkennen. Jetzt lag die Stadt im Dunkel. Lediglich über dem Schloss glaubte ich ein schwaches Glimmen zu erkennen. Vielleicht brannten Feuer im Hof?- dachte ich. Vielleicht hockten sie da um die offene Feuerstelle und ahnten nicht, dass sie nun dem Neandertaler näher waren als jemals zuvor in den vergangenen Jahrtausenden.
Die Nacht war kurz, so wie Susanne es vorausgesehen hatte. Im Moment gingen mir derart viele Dinge durch den Kopf, dass dort kein Platz für einen gesunden Schlaf zu sein schien. Draußen brach der Morgen an. Es schien ein schöner und warmer Frühlingstag zu werden. Gutes Wetter für gute Laune, sagte ich mir, rappelte mich auf, ging zum Fenster wie immer und blickte durch die Bäume zu unseren Nachbarn, bei denen sich nichts mehr rührte seitdem es Manuela und mir wieder gesundheitlich besser ging. Manuela räkelte sich noch in ihrem Bett. Ich bewunderte sie dafür.
„Gehst Du schon?“ fragte sie verschlafen.
„Ja“, antwortete ich. „Je eher, desto besser. Du weißt doch, nur der frühe Vogel frisst den Wurm.“ Dann versuchte ich ein Lächeln, doch das schien nicht so recht zu glücken.
„Pass´ auf Dich auf“, sagte sie wie immer, wenn ich sie in den letzten Jahren verlassen hatte, um dienstlich durch ganz Deutschland über seine Autobahnen zu hetzen. Das gehörte jetzt auch der Vergangenheit an.
„Hab´ keine Angst. Ich bin vorsichtig.“ Auch das hatte ich all´ die Jahre immer wieder geantwortet, ihr einen kurzen Kuss gegeben und dann
ging´s los.
Bevor ich das Haus verließ, wollte ich mir noch einen Überblick verschaffen. Die Leiter zum Dachfenster hatte ich am Abend zuvor stehen lassen. Oben angekommen öffnete ich nahezu zaghaft die Fensterklappe, was bei dem Gewicht des außen angebrachten Gitters gar nicht so leicht war. Das Gitter diente zuvor als Hagelschutz und vervollständigte jetzt meine Festung im Dachbereich. Meine Vorsichtigkeit erschien mir im nächsten Moment wiederum absurd, denn wenn überall gelbe Zeichen an den Häusern prangten, wer sollte dann das Quietschen meines Dachfensters hören. Egal, ich wurde eben das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet wurde, wenn ich meinen Kopf aus unserer Festung hinausstreckte.
Diesmal setzte ich mich nicht draußen aufs Dach wie gestern Nacht, sondern blickte vorsichtig über den Ziegelrand des Dachfirstes. Ringsherum herrschte eine nahezu beängstigende Ruhe und Leere. So etwas an einem Wochentag, an dem sonst Massen von Fahrzeugen auf der gegenüberliegenden Hauptstraße unterwegs waren, - daran musste man sich erst einmal gewöhnen. Das tat in den Ohren beinahe weh. Nur das leichte Wehen des Windes und das Gezwitscher der Vögel unterbrach ab und zu die Stille.
Auf der Hauptstraße bewegte sich nichts. Die Ampelanlage funktionierte wie alles andere elektrisch Betriebene natürlich auch nicht. Vom ca. 1 km entfernten Gewerbegebiet drang kein Geräusch zu uns herüber. Dort lief natürlich auch nichts mehr. Aus einigen Gebäuden qualmte es verdächtig. Hatte es dort gebrannt?  Ich wusste überhaupt nichts über die aktuelle Lage. Das wurde mir mehr und mehr bewusst. Dieses Rätselraten gefiel mir nicht. Ich liebte klare Tatsachen um mich herum, möglichst alles wissen, alles unter Kontrolle behalten, den Zufall ausschalten, das war mein Ding. Das hier war alles andere als mein Ding!
Was mir sofort auffiel und mich total verwirrte war diese Leere. Ich hatte mit herumstehenden Fahrzeugen gerechnet, mit Trümmern oder Absperrungen und deren Reste oder mit Leichen, aber nichts dergleichen. Die Straße und der Parkplatz des Centers machten einen absolut aufgeräumten Eindruck. An die Absperrungen nach Ausbruch der Seuche konnte ich mich noch gut erinnern, ebenso an die Massen von Fahrzeugen, die zum EKZ hin anstanden. Vor mir lag ein leerer Platz, so wie an einem Sonntag, wenn dort vielleicht einige Skater unterwegs gewesen sind. Von Absperrungen keine Spur mehr, auch keine Soldaten waren zu sehen. Gespenstisch! Diese Leere setzte sich in Richtung Unterdorf auf der Nebenstraße zum Center fort. Lediglich die Autos der Anwohner parkten wie üblich vereinzelt am Straßenrand.
Auf der anderen Seite zur Stadt hin änderte sich das Bild. Bis zur Kreuzung gegenüber stand kein Fahrzeug auf der Landstraße. Von der Kreuzung an standen die Fahrzeuge dagegen dicht an dicht, teilweise zweispurig in Richtung Stadt. Die Straße vor unserem Haus verengte sich nach wenigen Metern zu zwei einspurigen Fahrstreifen, - einer Richtung Waldsiedlung und der andere Richtung Gartenanlage und Wäldchen. Bei letzterer standen mehrere Fahrzeuge abseits der schmalen Straße im Graben. Durch das Fernglas glaubte ich zu erkennen, dass die Heckbereiche der Fahrzeuge verbeult sein mussten. Was hatte sich hier abgespielt, während ich weggetreten gewesen war? Offensichtlich hatten alle, die sich zuvor hier noch gedrängelt hatten, das Terrain verlassen. Dabei schien nicht alles ohne Störungen abgelaufen zu sein. Nirgends sah ich einen Menschen, auch keine toten. Alles leer, zurückgelassen weshalb auch immer.
Egal. Von Chaos keine Spur. Das gefiel mir ausnehmend gut. Ich mochte Ordnung über alles. Wenn Ordnung herrschte, befand ich mich in meinem Element. Unordnung erzeugt in mir nur eine Regung, - wieder Ordnung herzustellen. Ich persönlich empfand das gar nicht einmal als so schlimm. Für meine Umgebung schien das allerdings nicht immer zuzutreffen. Da konnte ich ganz schön nervig sein, das war mir schon klar. Jetzt kümmerte sich keiner mehr darum. Vielleicht Susanne, unsere Frau Doktor? Mal sehen.
Auch sie schien nicht besonders geschlafen zu haben, denn sie trat jetzt aus dem Haus, verschloss alles und bewegte sich auf unser Anwesen zu. Das gelang ihr einfacher als uns, denn ihr Haus besaß keinerlei Zaun, keinerlei Abgrenzung. Das galt zum Zeitpunkt der Errichtung des Hauses als der letzte Schrei, egal wie unsinnig es im Einzelfall auch sein konnte. Ohne Zaun keine Grenze, ohne Grenze kein Hausfriedensbruch, - so einfach gestaltete sich dann die Lage. Bei uns mussten Eindringlinge über zwei Zäune klettern und das war dann mindestens einmal Hausfriedensbruch zu viel. Jeder sollte seine Chance haben, auch die, nach einer Warnung wieder zurück zu klettern. Mir hätte eine solche Offenheit weder in normalen Zeiten, noch in unserer augenblicklichen Situation gefallen. Musste sie ja auch nicht. War ja nicht mein Haus. Das war wieder praktisch gedacht und aktuell nicht effektiv. Eine Ärztin konnte jetzt wichtig sein. Nicht vergessen! Eigentlich war sie unersetzlich! Ihr durfte also ebenfalls nichts passieren. Weshalb ließ ich sie dann weiterhin in ihrem Haus? So ein Leichtsinn! Bisher noch tolerierbar aber ich würde das ändern, nahm ich mir vor. Eins war schon mal gut, - zwei Frühaufsteher zusammen. Das ließ sich einrichten. So konnte man arbeiten.
Ich schloss das Dachfenster weniger vorsichtig und ging noch einmal zu Manuela, die jetzt ebenfalls aufgestanden war und mich im Nachthemd empfing, auch wie immer. Diese Nostalgie stimmte mich in diesem Moment etwas traurig. „Sie ist schon da“, sagte ich kurz.
„Ich hab´s am Fenster gesehen“, antwortete sie. „Sie wartet vor der Außentür. Sie überlässt es diesmal Dir, unsere Festung zu öffnen.“
„ Das kann ich auch besser als sie. Sie lässt immer den Drahtverhau offen. Wozu habe ich da einen provisorischen Eingang hineingebaut, wenn ihn keiner benutzt.“ Aus dem Schlafzimmerschrank holte ich mir einen groben Jeansgürtel und band ihn mir um die Hüfte. Dann begab ich mich in mein Arbeitszimmer, holte das Katana von der Wand und hängte mir den Tragegurt quer über die Schulter. Das Tanto verstaute ich im Gürtel. Dort hinein steckte ich dann noch ein massives Beil. Ich hatte da so eine Ahnung, wozu uns das nützlich sein würde.
„Gerüstet wie für eine Schlacht“, sagte sie spöttisch als ich so in voller Kriegsausrüstung vor ihr stand.
„Der letzte Samurai“, witzelte ich. „Hatte Susanne einen Rucksack dabei?“
„Ich denke, ja“, sagte sie.
„Also dann wollen wir mal.“  Zusammen gingen wir die Treppe nach unten, wo ich mir den bereitstehenden Campingrucksack über die Schulter warf. So konnte man das Katana darunter kaum sehen. „Denke daran. Hier sind alle tot. Das Zeichen draußen besagt das. Kein Lebenszeichen von dir. Erst wenn jemand über den Zaun und die Drahtsperre klettern sollte, gibst Du den Warnschuss für uns an. Jeder Schuss für die Anzahl der Eindringlinge. Ich weiß dann, was zu tun ist.“
„So dynamisch habe ich Dich lange nicht gesehen.“ Sie schmunzelte. „ Die Gefahr scheint Dich jünger zu machen. Vor nicht allzu langer Zeit hast Du ganz anders gesprochen. Weißt du noch, wie Du Dich genannt hast?“
Ich musste lächeln. „Ja, `Der alte Mann vom Berge´. Klingt gar nicht mal schlecht für einen alten Haudegen.“
„Raus jetzt, Du alter Mann.“ Sie gab mir spitzbübisch wie immer einen kleinen Schubs in den Vorraum.
Hier schien das Licht durch die Schutzverglasung der Eingangstür herein und tauchte den kleinen Raum in ein freundliches Licht, während das Haus sonst im Halbdunkel lag, weil wir die Rollos nicht öffnen wollten. Bloß kein Lebenszeichen abgeben! Dann schloss ich auf und trat hinaus in einen lichtdurchfluteten Morgen. Tief atmete ich die frische Luft ein, so, als ob es sich um ein Lebenselixier handeln würde. Ich drehte mich noch einmal um und winkte ihr zu, auch so wie immer und sie winkte voller Schalk zurück. So war sie, immer gut gelaunt, voller Leben, nie langweilig. Manche Männer hatten Glück, ich auch.
Vom Tor her winkte mir schon Frau Doktor zu. Sie wirkte überhaupt nicht lustig. Kein Wunder nach dem Verlust, den sie noch lange nicht weggesteckt hatte. Trotzdem gefiel mir die Entschlossenheit, die sie an den Tag legte. Sie wollte und konnte die Dinge anpacken, die zu erledigen waren. Das passte zu diesem Morgen.
„Na, auch schon ausgeschlafen?“ rief sie mir zu.
Ich blickte sofort in alle Richtungen, weil sie ziemlich laut gesprochen hatte.
„Keine Angst“, beschwichtigte sie meine Vorsicht. „Keiner da. Schlafen alle noch, - für immer.“
„Wir sollten trotzdem vorsichtig sein“, gab ich zu bedenken. Das mit dem Durchgang durch die Drahtsperre war wirklich eine Sache für sich. Aber was für mich, der diese Sperre errichtet hatte, lästig war, bedeutete auch für andere ein lästiges Hindernis. Am Vordertor begrüßten wir uns per Handschlag wie alte Kumpels.
„Siehst aus wie ein echter Krieger“, stellte sie mit abschätzendem Blick auf meine Bewaffnung fest. „Hältst Du das für notwendig?“
„Wenn es nicht notwendig ist, bin ich nicht traurig darüber“, antworte ich. „Gestern Abend habe ich noch auf dem Dach gesessen und mich umgeschaut. Wir sind nicht die Einzigen!“
„Das wusste ich“, sagte sie. „Aber um hierher zu kommen, müssen sie 3 – 4 Kilometer laufen. Bis sie so weit sind, muss der Hunger schon ganz schön groß sein und wenn er erst einmal so groß ist, können sie nicht mehr 3 – 4 Kilometer laufen.“
„Bewundernswerte Logik! Das wird nicht auf alle zutreffen“, entgegnete ich. „Schon immer hatten einige mehr als andere. Daran wird sich auch jetzt nichts ändern. Vielleicht fahren sie auch. Die Straße nach Weißenberg schien von meinem Ausguck da oben frei zu sein.“
Sie schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Als ich das letzte Mal vom Krankenhaus hier hoch unterwegs gewesen bin, kam ich an der Steigung nach dem Bahnübergang nicht weiter. Da steht ein Sattelschlepper quer zur Fahrbahn auf der Straße. Ich musste das Auto stehen lassen und bin dann die 2 Kilometer zu Fuß weitergegangen. Das dürfte allen anderen, die da hoch wollten, ebenso ergangen sein. So leicht kommt da niemand dran vorbei und Räumfahrzeuge gibt es nicht mehr. Die in die Stadt wollten, hatten da auch keine Chance aber das hast du vom Dach aus sicherlich auch gesehen.“
„Ja, da steht alles ab der Kreuzung Richtung Stadt voll. Wenden konnte und wollte auch keiner. Die stehen alle in eine Richtung und nirgends eine Spur von einer Leiche. Wo sind die alle hin?“
„Wie ich,- zu Fuß nach Hause“, antwortete sie. „Wohin gehst du, wenn du panische Angst hast? Natürlich nach Hause, in deine Wohnung, deine Höhle  wie zu allen Zeiten. Weil du dich da sicher fühlst. Weil es deine vertrauten vier  Wände sind. Ich denke, die liegen alle in ihren Wohnungen. Zu Zeiten der Pest war das nicht anders. Entweder die Menschen zogen sich vor Angst zurück oder sie wurden isoliert, sobald andere annahmen, sie wären infiziert.“
Ich sah sie fassungslos an. Susanne hatte das eben völlig teilnahmslos von sich gegeben, so, als ging sie das kaum was an. War sie so hart verpackt oder konnte sie nicht mehr anders reagieren.
„Du meinst die ganze Stadt?“ sagte ich fassungslos.
„Nicht nur die Stadt“, antwortete sie trocken. „Das ganze Land, vielleicht  die Welt? Wer weiß das schon. So etwas hat es noch nie gegeben. Dafür gibt es keine Beispiele. Gewarnt haben Epidemiologen seit der Spanischen Grippe, nur,  auf sie gehört hat niemand. Und das hier ist schlimmer als die Spanische Grippe!“
„Das ging so schnell“, stellte ich mehr fragend fest. „So was ist doch nicht normal! Oder wie siehst du das?“
„Weiß nicht“, antwortete sie sichtlich ratlos. „Keiner meiner Kollegen hatte dafür eine Erklärung, ich auch nicht. Was nützt uns das alles. Jetzt haben wir den Dreck und müssen ihn auslöffeln, ob wir wollen oder nicht. So ist das mit dem Überleben. Mich hat niemand gefragt, ob ich das wollte. Bei Dir sieht die Sache offensichtlich ein bisschen anders aus.“ Sie  wies mit einer Drehung des Kopfes in Richtung Drahtsperre.
„Vielleicht ist es eine Art Verschrobenheit von mir“, erklärte ich darauf. „Ich hatte es schon immer mit Weltuntergang-Szenarien. Bloß aufs Erleben war ich eigentlich gar nicht so scharf.“
„Dann schlägt ja  jetzt Deine große Stunde“, meinte sie spöttisch.
„Mag sein“, stimmte ich mit etwas Galgenhumor zu. „Aber ganz allein wird das auch nichts. Meine beiden Frauen müssen mir schon etwas helfen.“
„So, so, Deine beiden Frauen“, sagte sie. Dabei blickte sie mich scheel von unten an und grinste ein bisschen.
„Ich meine das eher sozial als familiär“ wehrte ich schnell ab.
„Dann ist es ja gut“, bemerkte sie offensichtlich erleichtert. „Dann wollen wir mal ganz sozial schauen, was unsere lieben Mitmenschen übrig gelassen haben, bevor sie alle das Zeitliche gesegnet haben.“
„Du kannst einen sagenhaften Humor haben, weißt Du das?“, fragte ich sie wieder erstaunt. „Solche Bemerkungen sind sonst wohl eher mein Ding. Frag mal Manuela.  Die kennt das.“
„Tolle Frau hast Du“, stellte sie fest. „Schade, dass man früher kaum miteinander geredet hat. Wo wir doch im Prinzip Nachbarn gewesen sind. Da muss erst so etwas passieren, dass die Leute zusammenrücken.“
„So ist das doch immer“, sagte ich zu ihr. „ Wenn´s allen gut geht, macht jeder sein Ding und kümmert sich nur um den eigenen Kram. Nachbarn sind da manchmal sogar störend. Ich bin da nie für übermäßige Gemeinschaftsaktionen gewesen.“
„Ach deswegen die Tu ja-Hecke und der Zaun“, meinte sie.
„Genau. Richtig gesehen. Lieber ein bisschen mehr Sichtschutz, als zu wenig. Heute bin ich froh, dass es ist, wie es ist.“
„Kann aber auf die Dauer auch anstrengend sein oder?“ Das klang wieder spöttisch.
„Sagte Manuela
früher auch. Mein Gott, wie das klingt, dieses „Früher“, so wie zu Kaisers oder Erichs Zeiten. Dabei ist es doch gerade erst gestern gewesen.“ Ich blickte mich nachdenklich um. „Nun ja, fast gestern. Ein paar Tage haben alles geändert.“
„Ich hatte nach unseren abendlichen Gesprächen der letzten Tage den Eindruck, dass Du dir eine solche Veränderung gewünscht hast.“
„Manchmal habe ich das von mir gegeben“ stimmte ich zu. „Weißt Du, wir waren alle so satt. Richtig schlecht ging es eigentlich doch niemand. Mit richtig schlecht meine ich, zu hungern oder so ähnlich. Geachtet hat das kaum jemand. Einige gönnten dir nicht einmal den Dreck unter dem Fingernagel. Wie hieß es doch so schön in der einen Werbung: Mein Haus, mein Auto, mein, mein, mein! Ein bisschen mehr unser hätte uns allen gut getan.“
„Ho, ho“, lachte sie. „gehst Du jetzt unter die Linken?“
„Ach hör´ doch mit denen auf. Die hatten ihre Chance und haben sie vertan. Das die anderen keine Heiligen sind, haben diejenigen, die nur etwas nachdenken konnten, doch vorher gewusst.“
„Deshalb hat man es den meisten ja auch in den letzten zwanzig Jahren Stück für Stück abgewöhnt“, stellte sie fest und es hätten meine eigenen Worte sein können. Die Kleine wurde mir sympathisch.
„Das werden die Übriggebliebenen schnell wieder lernen müssen. Sonst gehen sie drauf! An Zufälle glaube ich nur bedingt“, sagte ich. „In unserem Fall hat er uns vermutlich etwas Zeit verschafft, indem ein Unfall die Zufahrtsstraße gesperrt hat. Die Straße nach Langenburg ist aber noch offen. Von dort werden sie kommen, wenn sie was zum Fahren aufgetrieben haben.“
Susanne blickte in die Richtung, von der ich gesprochen hatte. „Du meinst die aus West?“ fragte sie.
„Letzte Nacht glaubte ich in Richtung Schloss einen Lichtschein gesehen zu haben. Auch dort lebt noch jemand. Auf die Frage Freund oder Feind will ich es unter den Umständen von Hunger und Not nicht ankommen lassen.“
„Wie willst Du das anstellen?“ fragte sie.
„Wir inszenieren dort auch einen Unfall, ganz einfach.“ Damit hatte ich die Strategie der kommenden Tage festgelegt. „Da gibt es eine enge Stelle, so eine Art Hohlweg, durch den sich die ohnehin schmale Straße zwängt. Wenn wir in dem Bereich einige der Fahrzeuge, die auf der Hauptstraße stehen, ineinander verkeilen, kommt da keiner durch und auch diese Seite ist gesichert.“ Das stellte ich mir eigentlich ziemlich einfach vor. Die Zündschlüssel würden die ehemaligen Besitzer sicherlich nicht stecken gelassen haben, aber mein Auto besaß eine Abschleppvorrichtung und die anderen auch. Also Gang raus, das Ding an den Haken und ab zum Engpass. Dort würden wir die Autos dann einfach ineinander rollen lassen, bis ein ansehnlicher Haufen entstanden war. Das müsste erst einmal reichen.
Auch Susanne schien das als guten Vorschlag gelten zu lassen. „Dann hat jeder sein Center für sich allein. Wir haben unseres und die aus dem Westteil der Stadt das ihre“, meinte sie.
„Ich hätte nie gedacht, die für unser Nest viel zu große Zahl an Verkaufseinrichtungen einmal unter diesem Aspekt zu sehen.“ jetzt musste ich beinahe lachen.
Wir blickten uns nochmals in alle Richtungen um und liefen los. Ich ging voraus und Susanne folgte mir im Abstand von zehn Metern. Der uns deckende Lärmschutzwall blieb links hinter uns liegen und gedeckt durch die frisch ergrünten Büsche der Grünanlagen an der Zufahrtsstraße zum Center überquerten wir die Straße. Wohl tausend Mal waren wir diesen Weg früher gegangen um unsere Besorgungen im Center zu machen. Diesmal war alles anders. Obwohl es nur gut 300 Meter entfernt von unseren Häusern lag, schien mir dieser Weg ohne Deckung nach der Straße viel zu weit zu sein. Hier konnte jeder sehen, dass wir uns in Richtung Center bewegten. Dabei wollte ich ja nur verhindern, dass überhaupt jemand erfuhr, dass wir hier noch existierten. Wenn niemand von uns wusste, konnte auch niemand was von uns wollen. Ganz einfach. Wenn jemand was von uns wollte, hatten wir zwei Möglichkeiten, - geben oder nicht geben. Gaben wir, dann fehlte es uns. Gaben wir nicht, dann fehlte es den Anderen und die würden versuchen, es sich zu nehmen und das hieß wie zu allen Zeiten, - Krieg! Krieg hieß Gewalt und Gewalt hieß immer wieder neue Gewalt mit Verlusten und Opfern. So viele zum Opfern waren doch gar nicht mehr da, sagte ich mir. Da an Krieg zu denken, kam mir nun fast schon wieder pervers vor. Aber so war es doch schon immer gewesen, - pervers. Nur in anderen Maßstäben.
Ohne jemanden gesehen zu haben, erreichten wir die Ecke des Baumarktes. Susanne rückte zu mir auf.
„Und, was habe ich Dir gesagt“, meinte sie. „ Keiner mehr da. Deine Besorgnis ist völlig umsonst.“
Ich lehnte mich erst einmal an das Absperrgitter, hinter dem wie immer die Zaunelemente und Steine lagen. Weiter hinten standen die Stauden und Töpfe, sowie allerlei Kram für Heim und Garten. Das kannte ich alles, ohne hinzusehen. Mich beschäftigte im Moment der Gedanke an diese abnorme Stille, dieses mir einerseits sehr angenehme Alleinsein und andererseits überfiel mich der Ansatz von Panik jetzt, wo ich wirklich fast allein war. Unwillkürlich musste ich an US-amerikanische Kinofilme denken, in denen ähnliche Szenarien wieder und wieder auf die eine oder andere Art durchgespielt worden waren. Auch da gab es Pandemien, massenhaft Tote, Massaker, Armeen, Zombies und gute, strenggläubige Amerikaner, die dann alles wieder richteten, - natürlich unter US-amerikanischer Führung. Wenn schon die Welt gerettet wurde, dann amerikanisch. Und am Ende ritt John Wayne auf dem breiten Hintern seines Pferdes in Richtung Sonnenuntergang. Alles Quatsch!
Die Wirklichkeit sah ganz anders aus! Wie sehr uns Hollywood vorgegeben hatte, wie die Wirklichkeit auszusehen hatte, stellte ich nun wieder fest, wo nichts Hollywood entsprach. Im Prinzip fehlte eigentlich die Action. Das war es! Das hier wurde ein einfacher, unspektakulärer Spaziergang ganz ohne Zombies.
Nach kurzer Pause bewegten wir uns zum rechten Eingang des Centers, gleich hinter dem Baumarkt, kurz nach den an die Wand angelehnten PKW-Anhängern, deren Anwesenheit ich angenehm mit dem Gemüt eines Buchhalters abhakte, weil ich die Dinger sicherlich noch gebrauchen konnte. An der Bratwurstbude neben der Drehtür roch es noch nach verbranntem Fleisch und altem Fett. Die Bude stand offen. Auf dem Rost lagen verkohlte Würste und Steaks. Das Feuer war längst erloschen. Es sah so aus, als hätte die Verkäuferin den Stand einfach verlassen und vergessen, ihre Ware vom Rost zu nehmen.
Neben dem Geruch nach Verbranntem meinte ich noch einen anderen, weit strengeren Geruch wahrzunehmen, den Geruch von verdorbenem Fleisch. Schnell warf ich einen Blick durch die Tür hinter den Tresen und fand die Bestätigung meiner Vermutung in Form von halb aufgelösten Wurst-und Fleischresten in einem Wassertrog, der einmal dazu gedient hatte, die Ware für kurze Zeit frisch zu halten, aber nicht über mehrere Tage hin. Angewidert warf ich die Tür wieder zu und folgte Susanne, die an der Drehtür auf mich wartete.
„Hier bewegt sich nichts“, stelle sie nach einem Versuch, die Türflügel in Drehung zu versetzen, fest.
„Habe ich mir gedacht“, sagte ich und griff nach dem Beil in meinem Gürtel. Einige Schläge genügten und die Glastür neben dem eigentlichen Eingang hatte keine Füllung mehr.
Vorsichtig stiegen wir hindurch und standen im Vorraum, der durch eine elektrisch betriebene Schiebetür vom eigentlichen Center-Inneren getrennt war.
Auch hier sah alles so aus, als wäre nur geschlossen oder noch nicht offen, nur dass alles völlig ohne künstliches Licht auskommen musste. Beleuchtet wurde das Innere des Centers nur durch das Tageslicht, das von oben durch die Glasabdeckung fiel.
Mit dem Beil in der Hand schlug ich nun auf die Schiebetür ein. Das sah anfänglich einfacher aus, als es dann wirklich wurde. Mit Sicherheitsglas hatte ich hier nicht gerechnet. Also steckte ich das Beil in den Spalt zwischen beiden Hälften des Einganges und nach und nach bekamen wir das Ganze so weit auf, dass wir hindurch treten konnten.
Von innen schlug uns ein muffiger, unangenehmer Geruch entgegen und ich musste sofort an den Verwesungsgeruch in der Bratwurstbude denken. Natürlich existierten im Inneren des Centers auch genügend Möglichkeiten, sich mit etwas Essbarem zu versorgen. Wenn ich mich richtig erinnerte, bestand doch im Grunde genommen fast das gesamte Freizeitangebot an Wochenenden, bei Volksfesten, Märkten und sonstigen Gelegenheiten darin, viele Menschen an einem Ort zu versammeln, um ihnen dort  etwas zu verkaufen, das sie zwar nicht brauchten, das sie aber unter Umständen noch nicht ihr Eigen genannt hatten und diesen Umstand galt es nun zu ändern. Neudeutsch hieß das dann: - must have - . Brauch ich nicht, - will ich aber haben. Klasse! So wurde dann Unsinn verkauft, der vorher unsinnig produziert worden ist. Unsinnig hieß, Birnen aus Argentinien, weil die Birnen vom Baum um die Ecke niemand mehr pflückte oder Kinderspielzeug aus China, weil es samt Transport trotzdem immer noch unverschämt billig, kitschig und vor allem unverschämt schädlich für die späteren Nutzer, die Kinder, war. Das interessierte aber nicht, wenn es nur schön billig blieb. Und bei all´ dem Unsinn, der dann zu solchen Gelegenheiten angeboten wurde, gab es immer und überall was zu essen. Wie gesagt, Hunger litt niemand.
Gegessen wurde nicht wegen des Bedürfnisses zu essen, sondern wegen des Angebotes an Essen. Klingt verrückt? Ist es auch! Oder wie konnte erklärt werden, dass es ein übergewichtiger Mitbürger morgens nach dem Frühstück bei Anblick eines Bratwurststandes fertigbringen würde, sich noch schnell eine Wurst einzuverleiben. Ganz einfach, weil es danach roch, weil sie da war und weil sie weg musste. So ließ es sich doch herrlich leben, ohne einen Moment darüber nachzudenken, was da eigentlich passierte, denn bevor etwas passierte, lag die nächste Essgelegenheit bereits in Reichweite.
Der jetzt stark veränderte Geruch dieser Essgelegenheiten schlug uns nun entgegen. Susanne und ich sahen uns an und zögerten, durch den offenen Spalt einzutreten. Sicherlich dachte sie auch an die Fleischerei in der Mitte oder an den Fischstand. Den Gedanken an die Tiefkühltruhen im Realmarkt  verdrängten wir beide unausgesprochen. Also traten wir ein, sahen uns etwas unschlüssig um, so als warteten wir auf irgendein Zeichen oder einen Ruf oder sonst etwas, irgendwas. Doch nichts dergleichen trat ein. Wir standen mehr oder weniger verloren am Eingang dieses Verkaufstempels und er gehörte allem Anschein nach uns allein. Das war es wieder, dieses Allein! Es hatte was Bedrückendes an sich, wenn jeden Moment einer kommen konnte und es kam keiner. Irre! Während früher aus jeder Ecke eine andere Musik ertönte, erfüllte die Halle nichts anderes, als der Klang unserer eigenen Schritte.
Rechts befand sich der Eingang des Baumarktes, - unverschlossen! Wir sahen kurz hinein. Alles stand an dem gewohnten Platz, nur ohne Beleuchtung und natürlich ebenfalls ohne Musik-Gedudel, das sonst immer vorherrschend gewesen war. Irgendein dünnes Stimmchen, das sich an sinnlosen Koloraturen versuchte.  Es war ganz einfach unmodern geworden, eine Melodie zu singen, bei der Töne gehalten wurden. Selbst wenn es überhaupt nicht notwendig oder angebracht war, wurden Melodien, bekannt oder noch unbekannt, verleiert. Auch so eine Übernahme aus Übersee, auf die wir getrost hätten verzichten können. Vielleicht auch eine Form von -must have - ?
Hier leierte jetzt niemand mehr. Das gefiel mir allerdings schon. Allmählich registrierte ich angenehme Seiten an unserer unangenehmen Lage.
Da wir nach Nahrungsvorräten suchten, ließen wir den Baumarkt rechts liegen und bogen um die Ecke in die lange Haupthalle, die bis zur Mitte hin überblickt werden konnte. Dort machte diese am Zentralplatz des Centers einen leichten Knick nach links in Richtung Real-Kaufmarkt. Da wollten wir hin.
Die Leere vor uns überraschte schon nicht mehr, auch wenn wir uns immer wieder umsahen und uns so vergewisserten, dass wir immer noch allein waren. So passierten wir all´ die Angebote an türkischen Lederwaren, indischen Textilien und chinesischen Elektroprodukten, natürlich - assembled in Europe - wie es jetzt hieß. Wer´s glaubte? Derjenige. der etwas Besseres wollte, musste sich schon in Richtung Leipzig bewegen. Bei Leipzig stand der vielleicht größte Verkaufstempel Deutschlands und dort gab es Fachgeschäfte, mit denen die Provinz nicht aufwarten konnte, in denen man allerdings auch nicht sicher sein konnte, dass ein teures Designerstück auf dubiosen Umwegen nicht vielleicht doch von niedlichen Inder-Händen oder fleißigen Chinesen-Scharen hergestellt worden war.
Auf der rechten Seite passierten wir den Elektromarkt Medimax, früher eines meiner wichtigsten Geschäfte, gleich nach dem Baumarkt natürlich. Welches Männerherz schlägt nicht höher angesichts eines Baumarktes. Da machte ich keine Ausnahme. Wer wie ich, in der Zone, wie die DDR lange Zeit hieß, aufgewachsen war und es sogar fertig gebracht hatte, zu diesen Zeiten aus eigener Kraft ein eigenes Häuschen aufzubauen, der schätzte das nahezu uneingeschränkte Angebot an Gegenständen, zu denen früher vielleicht Gedankenkontakt, mehr aber nicht, bestanden hatte.
Im Medimax füllte ich den ersten Beutel im Rucksack mit Batterien verschiedener Größen, die in einem noch unter Strom stehenden Haushalt nun mal dazugehörten.
Der große Zentralplatz, früher der Ort von Aufführungen zu Festen wie Weihnachten oder Ausstellungen oder ganz einfach nett hergerichteten Blumenrabatten mit Kaninchen und Hühnern mit Küken zu Ostern, lag verweist vor uns. Links ein leerer Eisstand, rechts hart gewordene Backwaren in einer kleinen, anheimelnden Hütte und das alles im Dämmerlicht, das durch das hohe Glasdach einfiel.
Susanne wies mich auf Rossmann hin. Dort gab es Hygieneartikel und Dinge, die Frauen nun mal liebten. Für meine Manuela spielte dieses Geschäft eine ähnliche Rolle wie für mich der Baumarkt. Das war gut so. Jeder sollte seinen Spleen haben und ich ging sogar gerne mit hinein, weil es da drinnen so gut roch, nach Seifen und Parfüms verschiedenster Sorten und die Mischung dieser Gerüche verpasste diesem Ort etwas angenehm Magisches. Auch wenn jetzt alles hinter dem Eingangsbereich im Halbdunkel lag, drang dieser Geruch jetzt wieder zu mir und ich sog diesen Duft mit geschlossenen Augen ein, fast entrückt nach dem Gestank-Erlebnis der Fleischtheke, die wir noch vor kurzem passiert hatten.
Wenn es nach Susanne gegangen wäre, hätten wir schon nach diesem Geschäft keinen Platz mehr in unseren Rucksäcken gehabt. Nur mit Mühe gelang es mir, an ihre Vernunft zu appellieren und sich auf das Notwendigste zu beschränken und das hieß Seife und Zahnpasta und mehr nicht. Der Rest später, versprach ich und sie glaubte mir. Jetzt half mir ihre Sachlichkeit, die mich sonst stets etwas erstaunt hatte.
Auch für den Rest des Weges, vorbei an den Schuhgeschäften von Deichmann und Mayer, sowie einem trostlos aussehenden Blumengeschäft mit welken Blättern und hängenden Blüten, blieb der Eindruck einer verlassenden Aufgeräumtheit, mit der wir nicht gerechnet hatten. Alle Geschäfte besaßen die Möglichkeit, durch schaufenstergroße Türelemente verschlossen zu werden, bloß geschlossen hatte sie niemand. Geschlossen hatten die Inhaber oder Angestellten lediglich die Kassen, gefüllt oder nicht,- das überprüften wir nicht, weil man ja Geld bekannter Weise nicht essen kann. Das gesamte Interieur lag offen für uns da und rief uns förmlich zu, - bedient euch!
Später! Wir suchten ja Nahrungsmittel und wenn es ging, lang haltbare. Die Glastüren des Realmarktes hatten die Angestellten vor dessen Verlassen geschlossen. Womöglich herrschte hier bei Ausbruch der Seuche der größte Andrang. So dämlich war nun auch niemand, sich einen Fernseher zu holen, wenn es galt das Überleben der nächsten Tage zu sichern. Dieser Gedanke verunsicherte mich wiederum, da ich somit annehmen musste, die Dinge, die wir suchten, nicht mehr vorzufinden.
Ein ängstlicher Blick in den Innenraum, an der Reihe der Kassen vorbei, beruhigte mich erst einmal. Auch wenn hier mehr los gewesen sein musste. Immerhin konnte ich umgestoßene Bücherstände erkennen, die davon zeugten, dass hier Eile geboten gewesen war. Auf Grund des Kauf- und Verkaufsdrucks der Tage vor dem großen Schweigen hatten die Angestellten klugerweise die sonst üblichen Zwischenregale in den Gängen entfernt, so dass die an den Kassen Anstehenden genügend Platz zur Verfügung gehabt hatten. Irgendetwas Einschneidendes musste dann aber doch geschehen sein, denn selbst nach den Kassen, also schon nach dem Zahlvorgang, standen und lagen Einkaufswagen voller Waren im Gang.
Ich benutzte wieder mein Beil, um uns Eintritt zu verschaffen. Auch hier schlug uns der Geruch von verdorbenen Waren entgegen. Am Ende des Marktes befand sich die Fleischtheke und wir wussten, woher der Geruch stammte. So standen wir wieder etwas unschlüssig vor den umgestürzten Einkaufswagen und suchten nach Erklärungen, die ohnehin nur Vermutungen bleiben würden aber wenigstens Deutungen dessen, was ich während meiner Infektion verpasst hatte. Wer nach dem Bezahlen seinen Einkauf verließ oder beim Verlassen des Marktes in der Hast umkippte, der befand sich auf der Flucht vor etwas, dass ihn alles andere, den mühsam erstandenen Warenkorb, das Auto auf der Straße, die offen stehenden Läden des Centers, vergessen ließ. Alle Zeichen hier im Realmarkt verwiesen darauf, dass hier die Seuche mit voller Kraft zugeschlagen hatte. Hier waren deren Zeichen bei einigen Kunden zutage getreten und es hatte nur eines einzigen Aufschreis der Angst bedurft, um der Flucht eine Richtung zu geben, - weg hier, bloß weg hier, wo der Tod lauerte, weg, nach Hause, einschließen, wegsperren, Scheißangst, Todesangst, nur ich nicht, alle anderen von mir aus, ja, nur ich nicht, die Tür zu, den Kopf zwischen die Arme und Augen zu.
So verhielt sich der Vogel Strauß, hieß es, und wurde trotzdem gefressen. Die Suche hatte sie alle gefressen, eingeschlossen, weggesperrt, allein oder gemeinsam, - ohne Unterschied.
Wir nun waren ihre Erben. So kamen wir uns jedenfalls vor, als wir die Wagen untersuchten, über die wir teilweise steigen mussten, um in den Bereich des Marktes zu gelangen, in dem sich Müsli, Brotmehl, Obst und Kartoffeln befanden.
Also musterten wir unser Erbe und entdeckten all´ die Dinge sinnentleerter Existenzen, deren Lebensinhalte von dem bestimmt worden waren, was ihnen die Medien Fernsehen, Internet und Smartphone in die Gehirne geprägt hatten. Wie anders sollte man denn sonst massenhaft Fleisch, Wurst, Alkohol oder Zigaretten werten, die neben oder in den zurückgelassenen Wagen lagen.
Einige hatte in der Eile alles zusammengerafft, das ihnen so gerade in  den Sinn gekommen war, als sie auf einmal vor der vielleicht wichtigsten Entscheidung ihres bisher so dahinplätschernden Lebens standen, - für die nächsten Tage mit dem Notwendigsten des Lebens versorgt zu sein. Dazu gehörte nun mal kein Nagellackentferner, ebenso wenig wie eine Flasche Schnaps. Dazu gehörte vor allem erst mal ein Plan und wer hatte denn schon bitte schön einen Plan? Wofür denn so was?
Die meisten Menschen besaßen nicht einmal eine Vorstellung für die Abläufe des nächsten Tages, geschweige denn für das Überleben! Das Denken hatten längst andere für sie übernommen und die gaben vor, was angesagt war. Sich selbst einmal bemühen, bewegen, aufstehen, loslegen, - ach was, wie langweilig, wie öde. Gott war rechteckig geworden und aus dem rechteckigen Kasten kam die Wahrheit, die Tipps fürs Leben, so wie Super-Nanni oder Dschungelcamp oder Deutschland sucht den Superstar oder Germanys next Topmodel. Da befanden sich die Inhalte,  auf die es ankam. Die Cola Flasche auf der linken Seite, die Chips auf der rechten und den übergewichtigen Hintern im Sessel, - so ließ es sich doch bequem leben und vor allem eins, - nicht mit Nachdenken belasten!
Der Schauspieler Anthony Hopkins hatte einmal in dem Film „Auf des Messers Schneide“ festgestellt, dass die meisten Menschen in Extremsituationen aus Scham über ihre Unfähigkeit sterben würden. Da mochte wohl etwas dran sein. Vor allem waren alle allein gestorben, ohne den rechteckigen Gott und ohne 100.000 Facebook-Freunde und ohne Plan!
Nach dem dritten Einkaufskorb gaben wir es auf, hier nach brauchbaren Dingen zu suchen, - im Gegenteil. Wir leerten beide jeder einen Wagen, um ihn mit den Dingen vollzuladen, nach denen wir suchten und von denen wir inzwischen durch die Analyse der zurückgelassenen Waren wussten, dass wir sie finden würden.
Dann standen wir vor dem Regal mit verschiedenen Brotmehlsorten und wurden bestätigt. Kaum eine Tüte fehlte. Wir füllten allein einen Wagen hiermit. Den anderen Wagen beluden wir mit Müsli, H-Milch, Äpfeln und Kaffee. Ja Kaffee, der stand nicht mehr im Regal. Den mussten wir aus einigen Körben zusammensammeln. In den Rucksäcken hatten wir nun Platz für Gewürze, Salz und Zucker, bis wir sie fast nicht mehr tragen konnten. Mann, war das eine Fuhre! Zufrieden mit unserer Sammlung begaben wir uns zum Ausgang des Marktes, als wir den Schuss hörten!