Kapitel 13 - Heimkehrer

Die Welt um uns herum ließ uns in Ruhe und wir vermissten sie nicht. Jeder machte sein Ding und das war gut so. Wenn ich früher in Romanen von ähnlichen Situationen gelesen hatte, hieß es immer, dass Siedlungen gegründet wurden, um sich vor Angreifern zu schützen. Im Moment gab es keine Angreifer mehr. Es herrschte eine fantastische Ruhe und so konnten wir den Mai in seiner ganzen Pracht genießen.
Manuela und ich lebten in unserer kleinen Festung fast so wie früher und begannen unsere Öffnungs- und Schließrituale allmählich zu vernachlässigen.
Susanne und der Doc hatten sich angefreundet, was uns sehr freute, denn für beide fürchteten wir, dass sie auf Grund ihrer persönlichen Verluste nach und nach in eine depressive Stimmung abdriften könnten. Das passierte nun nicht. Seitdem sie zusammen wohnten wurden auch die Kontakte uns gegenüber  lockerer. Wir hockten nicht mehr so eng aufeinander, wie es unmittelbar nach dem Zusammenbruch geschehen war. Immer häufiger blieben sie sogar für mehrere Tage weg, was uns zu Anfang Sorgen bereitet hatte.
Dann erzählten sie uns vom Kindercamp auf der Schaumburg.

Der Doc war auf seinen Streifzügen dort vorbeigekommen und da er einigen aus seiner Praxiszeit bekannt gewesen war, hatten sie ihn eingelassen, weil sie ärztliche Hilfe benötigten.
Mehrere Familien aus den Dörfern der Umgebung hatten bei Ausbruch der Seuche ihre Kinder auf die Burg gebracht. Hinter deren Mauern hofften sie auf ein Überleben während der Inkubationszeit. Nicht alle der Eltern hatten es geschafft, ihren Kindern dorthin zu folgen, während sie sich krampfhaft bemühten, in den ersten Tagen so viel wie möglich Nahrungsmittel, Dinge des täglichen Lebens, Kleintiere wie Hühner und Kaninchen heranzuschaffen, damit die in der Burg Eingeschlossenen ausreichend Vorräte besaßen, um diese kritischen Wochen zu überstehen.
Die Burg an sich war eine Ruine, - die erste einer ganzen Reihe Burgen an den Ufern des Flusses und markierte im Prinzip den Beginn des Oberlaufes, der landschaftlich als besonders reizvoll galt. Gelegen auf einem Sandsteinfelsen mit einem kleinen Dorf zu seinen Füssen, galt es vor der Pandemie als sehr beliebtes Ausflugsziel.
Auf dem Gelände der durch eine relativ gut erhaltene Mauer umgebenen Burganlage befand sich eine Ausflugsgaststätte mit angeschlossenen Wohngebäuden, die mit der eigentlichen Burg baulich nichts zu tun hatten, da sie viel später errichtet worden waren. In diesem Teil der Burg lebten jetzt die Kinder mit ihren erwachsenen Betreuern. Im hinteren teil der Anlage stand ein gewaltiger Bergfried, der einen weiten Rundumblick über das
Flusstal gestattete.
Jede freie Fläche hatten die Burgbewohner zu Gemüsegärten umfunktioniert, damit sie möglichst autark bleiben konnten, auch nachdem die Krankheit ringsum ganze Arbeit getan hatte. Hierzu gehörte auch eine immer noch intakte Brunnenanlage, aus der sauberes Trinkwasser kam. Sobald die Sonne schien, lieferte eine kleine Voltaic-Anlage Strom für das Nötigste.
Auf dem Gelände des Vorhofes der Burg stand immer noch der Glaspavillon, in dem früher Feiern abgehalten wurden. Heute befand sich unter diesem Glasdach ein geräumiges Gewächshaus.
Beinahe konnte man den Eindruck gewinnen, es handle sich um ein gut geführtes Internat mit landwirtschaftlicher Ausbildung, wenn da nicht die Übungsplätze für Bogenschützen gewesen wären. Einer der Erwachsenen war Mitglied in einem Bogenschieß-Verein gewesen und bildete nun die größeren Kinder aus. So hielten auch ständig mehrere Jugendliche auf speziell eingerichteten Zinnen am gut befestigten Haupttor Wache. Bisher hatte das genügt, um den Schutz der Anlage zu gewährleisten.
Hierher begaben sich unsere beiden Freunde immer öfter und langsam hatten wir den Eindruck, sie kehrten nur unsertwegen in unsere kleine Siedlung zurück, um uns hier nicht völlig allein zu lassen.
Vor allem Susanne suchte offensichtlich den Kontakt zu größeren Menschengruppen. Vielleicht brauchte auch der Doc die Ablenkung durch eine interessante Aufgabe, als bei Gartenbau und der Tätigkeit als Jäger und Sammler im Leiblinger Wald uns zwei in die Jahre gekommene Einzelgänger ab und zu medizinisch zu betreuen.
Leider hatte sich Gerd dann doch nicht entschließen können, unsere Siedlung zu verstärken. Eigentlich hatte ich sehr auf die Verstärkung durch ihn und seine Familie gehofft. Wir hörten ab und zu voneinander, sahen uns selten auf den Streifzügen durch das Umland. Die Jahre in der selbst gewählten Abgeschiedenheit schienen ihn zu sehr geprägt zu haben, um diese jetzt für einige zivilisatorische Vorteile, wie elektrischen Strom, aufzugeben.
So vergingen die Tage und die im Vorjahr eingebrachte Saat ging ringsherum auf. Leider handelte es sich auf den meisten Feldern um Raps, den die Bauern Jahr für Jahr anbauten, da er sich als Rohstoff für Biodiesel immer wieder gut vermarkten ließ.
So schön das leuchtende Gelb der Rapsfelder auch aussah, - der penetrante Geruch während der Blüte, sowie der anschließende massive Pollenflug verdarben die Freude über das Farbenspiel. So mussten wir jetzt schon ganz schön suchen, um Felder zu finden, die mit Roggen oder Weizen bestellt worden waren. Nahrungsmittel hatte
davor die „dritte Welt“ geliefert. Deutschlands Bauern hingegen bauten immer häufiger Pflanzen an, die in

unseren Fahrzeugen verfeuert werden konnten. Verrückte Welt und verrückte Verschwendung von Ressourcen.
Wenn wir uns ansahen, was auf den Feldern ringsherum wachsen würde, wurde uns schlagartig bewusst, wie uns das zukünftig zu schaffen machen würde. Uns fehlte Brotgetreide, kein Biodiesel.
Immer dann, wenn man denkt, alles ist in Ordnung und eigentlich könnte es immer so weiter laufen wie gerade eben, dann passiert etwas, das alles ändert.
Früher sagten uns Bekannte, die einen tieferen Einblick in unser beider Leben erhaschten, und das waren nun wirklich nicht viele, - wenn man Euch beide so beobachtet, sieht man, Ihr genügt Euch - . Das bewunderten diese Menschen offensichtlich, weil es nicht unbedingt der Normalität der Welt und dieser Gesellschaft entsprach.
Fast alle unsere Bekannten und auch Verwandten genügten sich nämlich nicht. Sie brauchten ständig andere Leute um sich herum, suchten die anonyme Geselligkeit der Masse, fuhren nur dann in Urlaub, wenn dieser die Garantie auf Geselligkeit beinhaltete. Danach wurden solche Urlaubsbekanntschaften über Jahre hinweg gepflegt, auch wenn diese später von Jahr zu Jahr immer sinn- und inhaltsloser wurden. Gerade deswegen vermieden wir solche oberflächlichen Kontakte.
Freundschaft war ein kostbares und leider ziemlich seltenes Gut geworden und hatte nichts zu tun mit 100.000 angeblichen Facebook-Freunden. Wo befanden sich diese Freunde jetzt? Wir vermissten diese Art Freunde früher und auch heute nicht.
Wir genügten uns also und waren dankbar, dass sich das so entwickelt hatte. Konnte schon sein, dass sich Susanne und der Doc durch unsere Verbundenheit ausgeschlossen fanden und deshalb dankbar für Alternativen waren.
Und so rechneten wir mit allem, nur nicht damit, dass eines Tages ein Motorrad vor unserem Haus hielt und Tobias und Lana nach Hause gekommen waren.
Manuela stürzte laut rufend und vor Freude weinend hinaus, während ich wie immer bei Besuchen der Kinder, wie wir sie beide immer noch nannten, gemächlich hinterher trottete.
Tobias stand vor dem Außentor und bewunderte offenbar unsere Festungsanlage. Lana lehnte sich an ihn und machte einen erschöpften Eindruck.
Das Motorrad kannte ich nicht. Es handelte sich um eine ältere Touren-Maschine. Auch trugen beide nicht unbedingt Motorradkleidung. Vielmehr wirkten die Sachen an ihnen eher zusammen gewürfelt, ein Gemisch aus Pullovern, Jeans, Turnschuhen und Wetterjacken. Auch Gepäck konnte ich nicht entdecken. Anstelle der Seitengepäckträger hatten sie zwei 20-Liter-Kanister an den Trägern mit Schnüren befestigt. Lana hatte einen Rucksack abgestellt. Mehr gab es nicht.
Manuela und Tobias fielen sich weinend um den Hals. Dann drückte sie Lana ab und auch sie brach in Freudentränen aus. Jetzt konnte auch ich nicht mehr an mich halten und entgegen aller sonstigen Zurückhaltung ließ auch ich den Tränen freien Lauf. Wir drückten und klopften uns ab, das es eine wahre Freude sein musste, uns zuzusehen.
„Kinder“, rief Manuela. „Euch gesund wieder zu sehen. Welch´ eine Freude. Wir haben uns ja solche Sorgen um Euch gemacht. So viele sind gestorben und Ihr beide lebt. Es gibt doch noch so etwas wie eine göttliche Vorsehung!“
Weinend und lachend zur gleichen Zeit, hielt ich es jetzt für angebracht, einzugreifen. „Jetzt aber gut, Manu. Wenn Du mir jetzt noch gläubig wirst, halte ich es nicht mehr aus.“

Alle lachten.
„Kommt rein“, sagte ich noch und ging voraus.
Tobias folgte mir. Dann kamen die Frauen Arm in Arm wie zwei alte Freundinnen, die sich lange nicht wieder gesehen hatten.
„Tolle Anlage“, meinte Tobias mit einem Blick auf unsere innere Umzäunung.
„Na ja.“ Ich machte eine abwertende Handbewegung. „Was es im Ernstfall wohl bringt, mussten wir Gott sei Dank noch nicht unter Beweis stellen. Bisher hat das lediglich beruhigt. Kann ruhig so bleiben.“
Wir gingen hinein und setzten uns wie immer in die Küche.
„Was wollt Ihr haben“, fragte Manuela.
„Was zu essen, wenn möglich“, drängelte Tobias. „Es ist Ewigkeiten her, dass wir was Ordentliches zwischen die Zähne bekommen haben.“
„Klar, sollt Ihr haben“, beeilte sich Manuela. „Wir waren gerade dabei, uns was zum Mittag zu kochen. Die ganz große Auswahl haben wir auch nicht mehr. Wir machen ganz einfach eine große Ladung Nudeln mit Tomatensoße. Was haltet Ihr davon?“
Beide saßen mit offenem Mund da, sahen uns an und mussten schlucken.
„Wie früher?“, fragte Tobias immer noch ungläubig.
„Mein Gott, Nudeln. Ich fasse es nicht“, pflichtete ihm Lana bei. „Euch geht es offensichtlich richtig gut.“
„Kann man so sagen“, bestätigte ich. „Wir haben eben vorgesorgt.“
Tobias strahlte mich an. „Vater, ich nehme alles zurück, was ich früher von mir gegeben habe, wenn es um Deine Endzeitmacke ging. Wer konnte denn so etwas ahnen! Verzeihung, Du hast es geahnt.“
„Das hier auch nicht“,  meinte ich darauf, „aber das ist jetzt unwichtig. Die Hauptsache ist, Ihr beide seid gesund und bei uns in Sicherheit. Ich werde für Euch alle kochen. Es wird mir eine Freude sein. Lehnt Euch zurück und entspannt erst einmal. Ihr seht beide ziemlich fertig aus. Nach dem Essen könnt Ihr uns erzählen, wie es Euch ergangen ist. Wir sind sehr gespannt darauf. Mir kommt das immer noch wie ein Wunder vor.“
„War es auch mehr oder weniger“, meinte Lana. Das Lächeln fiel ihr allem Anschein nach schwer.
Als Manuela beiden einen Fruchtsaft hinstellte, schauten sie auf die Gläser wie auf einen unwirklichen Gegenstand. Dann schütteten sie den Inhalt gierig in einem Zug hinunter. Erst jetzt bemerkten wir die Spuren, die die letzten Wochen in den Gesichtern beider hinterlassen hatten. Was oberflächlich gesehen wie eine gesunde Bräune ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit  der Überrest eines schweren Sonnenbrandes, dessen Blasen an einigen Stellen sogar Narben hinterlassen hatten. Die Lippen von beiden zeigten Risse, entstanden in großer Hitze und Trockenheit und immer noch nicht wieder verheilt.
In der Küche machte sich außerdem ein unangenehmer Geruch nach altem Schweiß breit, der von den Sachen der Beiden kam, nachdem sie die Wetterjacken abgelegt hatten.
„Wollt Ihr Euch vielleicht waschen und etwas frisch machen, während Ralf das Essen für uns kocht?“, schlug Manuela diplomatisch wie immer vor. „Ich nehme mir dann einfach Eure Sachen und wasche sie aus.“
„Wir Können bei Euch wohl noch duschen?“, wollte Tobias jetzt wissen.
„Klar, sogar warm, wenn ihr ein bisschen wartet“, bestätigte Manuela.
„Dann aber los!“,drängte jetzt Lana. „Ich rieche bestimmt fürchterlich. Die letzten Tage hatten wir es nicht so mit Hygiene. Wir wollten nur noch ankommen.“
„Dann kommt mit nach oben“, forderte Manuela auf. „Ich lege Euch ein paar Sachen von uns hin, während Eure in der Wäsche sind. Wird schon passen.“
Die Drei verschwanden und ich gab mir alle Mühe, dass dieses Essen ganz besonders schmecken würde.
Als wir dann zu viert am Tisch saßen und ich vor allem den beiden Kindern eine Riesenportion verpasste, hatte ich den Eindruck, dass die beiden wohl alles verschlungen hätten, was man ihnen hinstellt, Hauptsache warm und halbwegs schmackhaft. Es war immer eine Freude gewesen, Lana beim Essen zu beobachten. Sie war ein guter Esser, was man ihr jedoch nicht ansah. So schlank wie das Mädchen trotz dieses gesunden Appetits blieb, musste das Essen geradezu durch sie hindurch fallen. Wie die beiden jetzt aßen, hatte das nichts mehr mit Appetit zu tun. Das hier war Heißhunger nach langer Auszehrung.
Als ich dann noch den Wein und danach einen Espresso servierte, war die Feiertagsstimmung perfekt.
„Wie im Schlaraffenland“; meinten beide nur und begannen von Ihrem Heimweg zu erzählen.
Da beide begeisterte Kiter waren, hatte sie es im Frühjahr nicht mehr an der eiskalten Nordsee in Hamburg gehalten. Fuerteventura hieß das Ziel, denn dort gab es mehrere Kite- und Surfspots mit Wind- und Schönwetter-Garantie. Diesmal sollte es Corralejo sein. Dort hatten sie am Ortsrand in Richtung Sanddünen eine günstige Ferienwohnung gemietet, von der aus sie täglich zu Fuß den Strandabschnitt erreichen konnten, an dem sich auch eine Kite- und Surfschule befand.
Bei Ausbruch der Pandemie wurden zunächst sämtliche Flüge vom Festland auf die Insel gesperrt. Später folgte ein totales Einreiseverbot. Das galt dann für alle Inseln und die Behörden kannten da keine Ausnahme, was bedeutete, Boote konnten wohl die Küsten verlassen, aber landen durfte dann niemand mehr.
Es gab auf der Insel kein anderes Thema mehr, als den so plötzlichen Ausbruch der Seuche und die rasende Verbreitung auf allen Kontinenten. Fast hatte es den Anschein, als breitete sich die Krankheit nicht von Kontinent zu Kontinent aus, so wie früher,  als Folge der Globalisierung des Reiseverkehrs. Auf jedem Erdteil befanden sich Ausbruchszentren, von denen aus, die Krankheit rasant um sich griff. Flugverkehr, Reisetätigkeit und Handelsverkehr taten ein übriges, um den Virus zu verbreiten. Die WHO hatte überhaupt keine Chance, die Ausbruchsherde einzugrenzen, um der Pandemie Herr zu werden. Die Seuche war einfach überall!
Auf Grund der kurzen Inkubationszeit und der Geschwindigkeit der Ausbreitung hatten die Behörden der Kanarischen Inseln sehr schnell ihre eigenen Maßnahmen eingeleitet. Bei dem Anteil an fremden Touristen auf den Inseln war dieser Eifer nur folgerichtig. Das Ergebnis gab ihnen  recht, denn zunächst blieben auf Fuerteventura Krankheitsfälle aus.
Die totale Sperre des Einreiseverkehrs hatte allerdings sehr schnell gravierende andere Auswirkungen. Totalsperre hieß eben auch, dass keine Güter mehr auf die Insel transportiert werden durften. Damit galt der Hauptengpass als vorprogrammiert, - Trinkwasser! Schließlich gab es auf der Insel so gut wie keine eigenen Brunnen mehr. Raubbau der letzten Jahrhunderte und globale Klimaerwärmung hatten dafür gesorgt, dass Fuerteventura im Prinzip eine Wüsteninsel geworden war, die eigentlich nur noch davon lebte, dass jährlich Tausende von sonnenhungrigen Europäern, vorrangig Deutsche und Briten hierher kamen, die nach der kalten Jahreszeit ihrer Heimat für kurze Zeit den Rücken kehren wollten, um hier im garantierten Sonnenschein das Winterhalbjahr zu verkürzen. Davon lebte die Wirtschaft und die Bevölkerung.
Früher hatte es hier einmal Landwirtschaft gegeben. Davon zeugten heute museale Relikte einer zurückliegenden Epoche wie die in Betancuria, der ehemaligen Hauptstadt der Insel, wo sich heute in Bussen heran gekarrte Touristen-Scharen fotohungrig ansahen, wie die Insulaner einmal gelebt hatten. So nach dem Motto und noch eine kleine alte Kirche und noch ein altes Haus, ach ja und dort  sogar ein Einheimischer, cool das Ganze, bis man feststelle, dass sich alle in Wirklichkeit ziemlich fehl am Platz vorkamen, ziellos in dem kleinen Ort umher streiften und schließlich gelangweilt auf dem Marktplatz lungerten, bis sie der Bus wieder in die Touristenzentren zurück brachte.
Sie alle benötigten Tag für Tag riesige Mengen an Trinkwasser, die es hier nicht gab und die selbst Meerwasserentsalzungsanlagen nicht erzeugen konnten. Hunderte von Hotels mit Swimmingpools, Duschen und Gästen aus den nördlichen Regionen, für die Wassersparen ein seltsames Fremdwort darstellte. Wieso sparen? Schließlich hatten ja alle ihre sauer verdienten Euro in diesen Urlaub gesteckt.
Dann kamen die ersten Aufforderungen, mit dem Verbrauch von Trinkwasser sparsam umzugehen, die natürlich nur halbherzig befolgt wurden. Daraufhin folgte die Rationierung. Das hieß, zum Trinken stand immer noch ausreichend Wasser zur Verfügung aber die Pools wurden gesperrt, Gemeinschaftstoiletten in den Hotelanlagen eingerichtet und natürlich dementsprechend die Toiletten in den Zimmern verschlossen.

Nur wenig später folgten dann Einschränkungen in der  Nahrungsmittelversorgung, - immer noch alles in ausreichenden Mengen für die Ernährung der Touristenmassen aber eben nicht mehr all inklusive, wie gewohnt.
Spätestens jetzt dachten die Ersten über die Heimreise nach, wobei die Nachrichten aus der Heimat alles andere als einladend waren und sie wurden von Tag zu Tag schlechter, bis sie dann überhaupt nicht mehr eintrafen. Da kein Flugzeug landen durfte, standen nicht genügend Maschinen zur Verfügung, um die Reisewilligen aufzunehmen, die trotz der Funkstille aus den Heimatländern einfach nur nach Hause zu ihren Angehörigen wollten. Furcht, Verzweiflung, Ratlosigkeit und totale Hilflosigkeit wechselten einander ab.
In dieser Lage Kümmerten sich Tobias und Lana immer noch kaum um das immer chaotischer werdende Geschehen in und um Corralejo oder in Puerto del Rosario, wo Hafen und Flugplatz von den Ausreisewilligen belagert wurden. Das änderte sich, als die letzten Flugzeuge abgeflogen waren. Nun blieben nur noch die im Hafen liegenden Schiffe, die noch vor Verhängung des Einreiseverbotes angelegt hatten. Dabei standen vor allem Kreuzfahrtschiffe im Mittelpunkt des Interesses und von denen lag zu dieser Zeit nur die `Mein Schiff 1´ von TUI im Hafen vor Anker.
An Bord befanden sich über 2000 Passagiere mit einer Mannschaft von etwa 1000 Personen. Viel Platz blieb da nicht für zusätzliche Mitreisende. Was an Nahrungsmitteln und Treibstoff gebunkert werden konnte, hatte die Schiffsleitung schon vorher aufgenommen, um damit den Heimathafen Hamburg zu erreichen, denn an eine Fortsetzung der vorherigen Kreuzfahrt dachte niemand mehr.
Nachdem dann alle Möglichkeiten des Zusammenrückens ausgeschöpft worden waren, warteten am Pier immer noch mehr Menschen, als sich nun im Schiff befanden.
Tobias und Lana wohnten abseits des Trubels, hatten sich ganz gut mit dem Nötigsten versorgt und so frönten sie weiter ihrem Hobby, wegen dem sie ja hierher gekommen waren, - täglich mit ihren Kites auf den Wellen zu reiten, Spaß zu haben und das Leben zu genießen.
Hierbei kam der Surfschule allmählich der Status einer Informationszentrale zu und so erfuhren die hier zusammengekommenen Wassersportler aller Nationen schnell von um sich greifenden Unruhen unter den Touristen in den Tourismuszentren der Insel. Da es auf der Insel mehr Deutsche und Briten gab als Einheimische, geriet die Inselverwaltung gehörig unter Druck, konnte aber nichts zur Verbesserung der allgemeinen Lage beitragen.
Lockerte man die Bestimmungen und ließ Fremde an Land, holte man sich die Seuche auf die Insel. Außerdem war inzwischen der Kontakt zum Festland ebenso zusammengebrochen, wie der zu den Heimatländern der Touristen. Wenn niemand genau Bescheid weiß, kochen die Gerüchte hoch und Gerüchte sind die beste Quelle für Unruhen an deren Ende Zusammenrottungen stehen.
Die Einheimischen  ahnten das und versuchten vorher der Sache Herr zu werden, in dem über die Hotels eine Ausgangssperre verhängt wurde, überwacht von Polizei und Militär.
Unseren Surfern gefiel diese Entwicklung gar nicht. Noch ließen die Behörden die Privatmieter in Ruhe, auch wenn diese inzwischen auch nichts mehr in den Geschäften zu kaufen bekamen, aber es war allen klar, dass in Kürze auch sie dran sein würden und Tobias und Lana hatten absolut keine Lust, in einem der Hotels interniert zu werden und dort passiv den Lauf der Dinge abzuwarten.
Befand man sich erst einmal in dieser Situation, teilte man das Schicksal aller Flüchtlinge dieser Welt, - machtlos den Entscheidungen von Verwaltungsbeamten ausgeliefert, die im eigenen Interesse oder im Interesse der Insel handelten aber viel weniger im Interesse der Eingesperrten.
Schnell stand für beide fest, dass sie die Insel so schnell als möglich verlassen mussten, - nur wie und wohin? Europa war weit und normale Schiffsverbindungen existierten nicht mehr. Sie hatten von dem Kreuzfahrtschiff in Puerto del Rosario gehört, aber auch davon, dass das Boot voll war.
Die Entscheidung fiel schnell und spontan. Die Route der Kreuzfahrtschiffe führte immer nahe an der Küste vorbei, so dass sie die Schiffe gut sehen konnten. Als die `Mein Schiff 1´ gesichtet wurde, packten sie schnell ein, was sie als notwendig erachteten, - Wasser, Schokolade, Hygieneartikel und die Papiere, suchten mit ihren Kites den nächstmöglichen Strandabschnitt auf, an dem sie beim Losfahren nicht von Klippen und unterirdischen Felsen behindert werden konnten, ließen ihre Kites in die Luft und fuhren los, das Ziel immer vor Augen, - die am Horizont fahrende Mein Schiff 1´.
Der Wind stand gut. Um diese Jahreszeit wehte ein steifer Südwestwind, der sie auf das Meer hinaustrug, so schnell wie möglich auf die schwimmende Rettungsinsel vor ihnen zu, die den Weg in Richtung Heimat bedeutete. Beide besaßen  ausreichend Erfahrung mit kritischen Windstärken. Tobias traute sich sogar bei Windstärke 7 auf´s Meer. Heute hatten sie es mit einer knappen 5 zu tun, also kein Problem. Niemand hinderte sie, die
Hafenbucht zu verlassen. Wer gehen wollte, sollte ja gehen. Nur zurück durfte niemand mehr.
Weiter draußen trafen sie auf eine stärker werdende Dünung. Tobias hatte gehofft, dass sie auf Wellengang treffen würden. Den brauchten sie für den waghalsigsten Teil ihres Unternehmens. Sie hatten sich abgesprochen, schon auf dem Weg zum Schiff so oft wie möglich Sprünge zu üben. Was früher als akrobatischer Gag den Ritt auf den Wellen krönte, sollte ihnen heute helfen, an Bord zu gelangen.
Ging früher mal ein Versuch daneben, fiel der Betreffende ins Wasser. Würden sie heute scheitern, bedeutete es unter Umständen das Ende. In der Nähe eines so großen Schiffes wieder ins Wasser zu fallen, hieß an der Bordwand vorbei in Richtung Heck und damit in Richtung Schiffsschrauben zu treiben. Dort wartete dann der sichere Tod. Aber soweit dachten sie im Moment nicht und Tobias war ohnehin ein unverbesserlicher Optimist. Um Lana machte er sich Sorgen. Er wusste nicht, ob sie schaffen würde, wozu er sich durchaus in der Lage sah. Er wollte es ihr vormachen und sie sollte folgen.
Je näher sie dem Schiff kamen, desto mehr zeichneten sich die Einzelheiten an Deck ab. Offensichtlich befanden sich viel mehr Menschen auf den Oberdecks als gewöhnlich bei einer Kreuzfahrt. Diesmal handelte es sich nicht um sonnenhungrige Kreuzfahrer, sondern um Flüchtende, die im letzten Moment die Fahrkarte nach Hause gezogen hatten.
Man hatte sie bemerkt. Immer mehr Schaulustige fanden sich auf der Steuerbordseite des Schiffes ein, um die beiden Kiter zu beobachten. Alles hatte den trügerischen Anschein eines letzten Abschiedsgrußes von der eben verlassenen Urlaubsinsel. Niemand ahnte, dass das Schiff geentert werden sollte.
Begeistert verfolgten die Gäste an der Reling des Sonnendecks und die Insassen der Balkonkabinen die Kunststücke der beiden, die sich inzwischen auf Kollisionskurs zu dem Kreuzfahrer befanden. Auch die Schiffsführung hatte das bemerkt und dröhnend warnte das Schiffshorn die beiden Sportler, die sich von diesen Warnungen offensichtlich nicht beeindrucken ließen. Auch auf der Brücke ahnte niemand, was die beiden geplant hatten.
Immer wieder nutzten sie Wellengang und Windböen, um sich von ihren Kites nach oben reißen zu lassen, um danach immer wieder gekonnt auf der Wasseroberfläche aufzusetzen. Manchmal schien es, als wollten sie ihre Kites als Paragleiter nutzen, so hoch hinaus flogen sie immer wieder, was die Schaulustigen zu Beifallsbekundungen herausforderte.
In den nächsten Minuten würde ihre Route die des Schiffes kreuzen.Immer wieder ertönte das Schiffshorn. Mitglieder der Brückenmannschaft standen jetzt im Freien mit Megaphonen in den Händen. Schnarrend klangen die Aufforderungen, sich vom Schiff zu entfernen, über das Meer.
Im letzten Moment erhob sich Tobias erneut aus dem Wasser zu einem geradezu verzweifelten Sprung, der ihn höher als das Deck der `Mein Schiff 1´ in die Luft trug. Ganz knapp verfehlte er die Reling, dann klinkte er seinen Kite aus und fiel aus mehreren Metern Höhe auf das Vorderdeck, das wie immer völlig menschenleer war.
Er hatte sich nichts getan, abgesehen vielleicht von einigen Prellungen. Alles war verdammt gut gegangen. Er gab sich aber nicht lange seiner Freude über das gelungene Manöver hin, sondern stürzte sofort Richtung Steuerbord, um Lana die Anweisung für den richtigen Moment ihres Sprunges zu geben.
Sie hob ebenfalls ab und, da sie leichter war als Tobias, trug sie die Windböe höher hinaus, ebenfalls knapp an der Reling vorbei. Tobias sprang vom obersten Handlauf in Richtung Lana, bekam sie gerade noch an den Füssen zu fassen und zog sie samt ihres Kites hinunter auf das Vorderdeck des Schiffes. Dort blieben sie beide liegen, bis sie von der Mannschaft ins Schiff geholt wurden.
Einmal an Bord, immer an Bord! Sie waren sich sicher, ins Wasser würde sie niemand werfen und ein Zurück gab es auch nicht, da das Schiff nicht zurückkehren durfte. Sie waren gerettet und befanden sich auf dem besten Weg nach Hause.Der Endpunkt ihres Weges hieß nun nicht mehr irgendwo in Europa landen, sondern heim nach Hamburg, wo sie sich auskannten.
Auf dem Weg dorthin herrschte absolute Funkstille. Es war schon beängstigend.Niemand kümmerte sich um das doch relativ große Schiff, das den Küsten teilweise sehr nahe kam. Nachts winkten ihnen diesmal keine Lichter der Städte in Meeresnähe. Die Küsten lagen überall im Dunkel der Nacht, so als würden dort nicht Millionen von Menschen leben, Menschen mit ihren Häusern, Straßen, Industrieanlagen und der dazugehörigen Beleuchtung.
Die Tage vergingen wie die Nächte, - Warten auf ein Zeichen, Warten, dass sie gerufen wurden, Hoffen, dass sie jemand erwartete.
Als der Kanal durchfahren wurde, wurde es unruhig an Bord. Die Heimat nahte. Endlich zu Hause, endlich Gewissheit über das Schicksal der Angehörigen!

Was sie nicht wussten, - die Einfahrt in den Elbstrom wurde von mehreren dort aufgelaufenen Schiffen versperrt, so dass alle Passagiere das Schiff mit Tender-Booten verlassen mussten. Der Ozeanriese entließ noch einmal seine Menschenfracht und blieb danach dort liegen, wo der Anker gefallen war.
An Land folgte auf die Freude der Heimkehr ernüchternde Ratlosigkeit. Sonst wartete auf die heimgekehrten Reisenden stets   eine Schar von Bussen, welche die Heimkehrer zu ihren Zügen oder Parkplätzen der Selbstfahrer brachten. Hier wartete niemand.
Sie standen an Land in Trauben zusammen und diskutierten, wie es nun weiter gehen sollte. Niemand hatte offensichtlich damit gerechnet, dass sie hier in der Heimat erneut stranden würden. Gewohnt an eine sie in allen Lebenslagen behütende Organisation spürten sie nun plötzlich die um sich greifende Furcht, dass es wirklich so schlimm sein könnte, wie es die Medien bis zum Ende der Übertragungen berichtet hatten, dass sie wirklich angekommen und trotzdem nicht zu Hause waren, weil es kein Zuhause mehr gab.
Das Gepäck war an Bord geblieben. Jeder führte lediglich ein Notgepäck bei sich und viele hatten das eingepackt, was in einer solchen Situation des Ausgestoßenseins eigentlich niemand mehr benötigte, - Geld und Schmuck.
Geld hatten Tobias und Lana nie im Überfluss besessen. Es hatte immer bis zum Monatsende gereicht. Was darüber hinausging, sparten sie sich diszipliniert Monat für Monat förmlich vom Munde ab. Das Meiste ging für das Kite-Hobby und den dazugehörigen VW-Bulli drauf. Schmuck bestand da nur aus Plastik und weniger aus edlen Metallen oder Steinen. In ihrem Rucksäcken, und über die verfügten die Wenigsten der Gelandeten, befanden sich nur die Dinge, die sie schon von Fuerteventura aus mitgeführt hatten und welche sie auf dem Schiff in Erwartung der Realität in Deutschland ergänzen konnten.
Wenn 2000 Menschen ziel- und planlos herumstanden und wild durcheinander diskutierten, wie es weiter gehen sollte, konnte das zu nichts Vernünftigem führen. Tobias dachte n diesem Augenblick mal an an seinen Vater und dessen Sprüche und der sagte in ähnlichen Situationen immer: - Und bist Du Gottes Sohn, so hilf´ Dir selbst! - . Genau das tat er.
Sie verließen umgehend die Versammlungen der Ratlosen und Hilfesuchenden und begannen ihren Marsch in Richtung Altes Land. Hier empfing sie zum ersten Mal ein entleertes Deutschland, wie sie es noch nie erlebt oder erdacht hatten. In einem der leeren Höfe fanden sie Fahrräder und auf denen fuhren sie dann nach Hamburg, hinein in die große, leere und gleichzeitig chaotisch wirkende Stadt.
Auch hier füllten Tausende von wild herumstehenden und verlassenen Autos die Straßen, so dass es kaum ein geordnetes Durchkommen gab. Nachts hörten sie Schreie und versuchten erst gar nicht, sich auszumachen, warum dort wer schrie. Sie fürchteten sich in diesen stockdunklen Nächten inmitten eines Straßen- und Häuserlabyrinthes, das ihnen ohne Beleuchtung so unendlich groß und undurchdringlich schien.
Am Tag scheuten sie offene Plätze und duckten sich an den Wänden der Häuser entlang. Immer deutlicher trat das Ausmaß der Auslöschung zutage. Sie wussten absolut nicht was und wer dieses Ereignis überlebt hatte. Sie hörten sie nur in den Nächten und tagsüber verspürten sie keinerlei Drang, diesen Resten der ehemaligen Zivilisation zu begegnen.
Ihre Straße im Karolinen-Viertel empfing sie ebenso schweigend wie sie inzwischen selbst nebeneinander gingen. Sie wussten instinktiv, dass mit den Menschen dieser Stadt auch ihre Zeit hier abgelaufen war. In solchen Situationen lagen die besten Möglichkeiten auf dem Land wo ihre Eltern lebten.
Sie hatten gesehen, wie verstopft die Straßen teilweise gewesen waren.Im normalen Alltag befanden sich die Fahrzeuge einer Stadt in ständiger Bewegung. Alles war in einem ständigen Fluss begriffen. Die einen strömten hinein, andere hinaus aber immer floss der Strom der Fahrzeuge. Dieser Strom war mit einem Schlag zum Stillstand gekommen, nachdem sich die Infizierten in ihren Wohnungen zum Sterben zurückgezogen hatten. Reichten bereits unter normalen Bedingungen die Parkmöglichkeiten nie aus, so konnte davon nach dem Stillstand der Autoströme erst recht keine Rede sein. Geparkt wurde in zweiter und dritter Reihe bis die Straßen voll waren.
Ihre Hoffnung bestand darin, wenigstens auf den breiten Hauptverkehrsstraßen einen Weg hinaus zu finden. In ihrem Bulli verstauten sie alles, was ihnen an ihrem bisherigen bescheidenen Leben lieb und ans Herz gewachsen war und sie fanden Platz für die Fahrräder, die ihnen dann helfen sollten, wenn es mit dem Bulli kein Weiterkommen mehr geben sollte. Beim Verlassen ihrer Karolinen-Straße ergriff sie doch etwas mehr als Wehmut, denn sie verließen nicht nur ihre Wohnung, sondern ein Leben. Sie erwartete die Straße und ein ungewisses Ziel am Ende der Fahrt.
Dann stiegen sie ein und wagten sich in das Knäuel aus hinter- und nebeneinander stehenden Fahrzeugen, wohl wissend, dass ihr Bulli unter Umständen dafür viel zu groß sein könnte. Trotzdem schafften sie es irgendwie, dem Gewühl einer stehenden Großstadt zu entkommen und blieben klug genug, nicht den Weg aller zu wählen, die vor ihnen Hamburg verlassen hatten und dann auf der Autobahn Richtung Süden vor Hannover im Massenstau stecken geblieben waren, sondern sie bewegten sich Richtung Osten, Richtung Berlin, um dann in Richtung Süden die alte Heimat zu erreichen.
Anfangs funktionierte dieses Vorhaben ganz gut. Sie schafften es, an den Vorstädten vorbei in die ländlichen Gegenden des Hamburger Umlandes zu entkommen. Schleswig-Holstein empfing sie mit einer angenehm leeren Autobahn, auf der sie gut vorankamen, bis vor einer Brücke über die Fahrbahn mehrere Fahrzeuge ineinander verkeilt vor ihnen standen.
Hier stimmte etwas nicht, das hatten sie sofort geahnt.
Sie hielten in einiger Entfernung dieses Fahrzeugknäuels.
Lana blieb im Fahrzeug hinter dem Steuer sitzen, wendete sicherheitshalber in Richtung freier Fahrbahn und ließ den Motor laufen, während sich Tobias lediglich mit einem Messer bewaffnet, den Autowracks näherte.
Hier fand er das erste Mal richtige Leichen vor. Keine Opfer der Seuche, nein, plötzliche Opfer eines Unfalls, der sie völlig unvorbereitet überrascht hatte. Sie klemmten hinter den Lenkrädern ihrer deformierten Fahrgastzellen, teilweise gefangen hinter aufgeblasenen Airbags, monströs zusammengeschoben von nachgebenden Konstruktionsteilen, zerbrochen in einem Augenblick, in dem sie sich schon in Sicherheit wähnten, entflohen dem Ende einer untergehenden Welt.
Tobias schlich von Fahrzeug zu Fahrzeug, schaute hinein, wandte sich aber meist sofort wieder voller Ekel vor dem Werk der Verwesung ab. Die Leichen waren durchsucht worden! Das hatte er bereits am ersten Fahrzeug festgestellt. Offene Kofferräume zeigten an, dass sich diese Durchsuchung auf alle Teilnehmer der Karambolage erstreckt hatte. Offene Koffer lagen herum. Taschen waren ausgekippt worden. Offenbar hatten die Suchenden nur Interesse an Wertgegenständen.
Bei einigen Autos standen die Tankdeckel offen. Tobias wusste, was das zu bedeuten hatte. Benzin durfte inzwischen ein wertvolles Gut geworden sein.
Unter der Brücke fand er dann die Ursache des Unfalls. Ein Betonträger lag quer auf einer Kühlerhaube und der war sicherlich nicht von allein dahin gekommen. Tobias spürte Angst in sich hoch kriechen. Sein Blick wanderte langsam nach oben zur Krone der Brücke. Jemand hatte das hier vorsätzlich herbeigeführt, dessen war er sich sicher. Der Grund für das alles war auch ziemlich eindeutig, - Raub und Mord wurden ohne Skrupel ausgeführt.
Langsam bewegte er sich zurück zum Bulli. Mit dem Arm gab er Lana das vereinbarte Zeichen. Sie fuhr langsam an und dann rannte er wie von Sinnen los. Hinter ihm fiel jetzt plötzlich ein heller Schuss! Das klang nicht nach einem größeren Kaliber, also kein Gewehr, sondern hoffentlich eine Pistole. Hoffentlich nur eine Pistole! Verrückt oder doch nicht? Mit einem Gewehr hätten sie ihn schon erwischt. Das trug weiter und genauer. Nicht alles, was er beim Bund gelernt hatte, war also Blödsinn gewesen.
Jetzt wünschte er sich seine MP5 zurück. Wünsche halfen ihm jetzt aber nichts.
Er erreichte den Bulli, riss die Tür auf und hechtete hinein. Lana gab Gas und brachte sie auf der vor ihnen, wieder nach Hamburg führenden Autobahn, mit zunehmender Geschwindigkeit aus der Gefahrenzone des hier auf Beute lauernden Gesindels.
Jenseits der Autobahn mussten sie nun anschließend durch kleine Ortschaften fahren und hier erwartete sie dasselbe wie in den Nebenstraßen Hamburgs, - zugeparkte Fahrbahnen, Chaos auf den Zufahrtsstraßen, verstopfte Knotenpunkte. Es ging einfach nicht weiter mit einem Bulli, der vier Räder besaß, deswegen viel zu breit und viel zu schwerfällig war.
Sie versteckten das Fahrzeug außerhalb eines Dorfes am Wegesrand, das sich in einer Ecke Deutschlands befand, das man schon vorher als das Ende der Welt bezeichnet hätte. Hier fanden sie in einer verlassenen Werkstatt das Motorrad, mit dem sie dann weiterfuhren.
Ein Motorrad zu finden, war nicht schwer aber ein Motorrad mit Schlüssel zu finden, das kam schon einem Kunststück gleich. Es lebe die elektronische Zündung. In der Werkstatt fanden sie beides. Kanister hatten sie im Bulli zurückgelassen. Benzin befand sich in den zurückgelassenen Autos, die überall an den Straßenrändern der entleerten Städte herumstanden.
Es war immer dasselbe, - Tankdeckel knacken, Schlauch reinstecken, saugen und möglichst nicht schlucken und dann lieferte das zum Schrott verdammte Wohlstandsymbol sein Herzblut, um danach, nun völlig wertlos geworden, einem verrostetem Ende anheim zu fallen.
Jetzt konnten sie die Fallen umfahren, die sie noch mehrfach unter Brücken auf der Strecke nach Berlin und weiter Richtung Süden erwarteten. Sie wurden beworfen mit allem, was jemanden in Fahrt auf offener Straße umbringen konnte, mit Steinen, mit Rohren, einmal wurde wieder auf sie geschossen und nur, weil Tobias den Schützen zeitig genug gesehen hatte, konnte er
dessen Zielen erschweren, in dem er gekonnt bei  hoher Geschwindigkeit Schlangenlinie fuhr.
Früher hatte man diese Leute Wegelagerer genannt. Jetzt waren sie nichts anderes. Die dazu gehörige Charaktereigenschaft hatte allerdings schon vorher in vielen Mitbürgern gesteckt.
Kakerlaken nahmen sich nur das, was herumlag. Diese hier waren schlimmer und in ihrer Daseinsberechtigung geringer als Kakerlaken. Ihr Leben hatte schon vorher darin bestanden, dieses für sie viel zu groß geratene Gehirn lediglich dazu zu benutzen, um zu fressen und anschließend den Ausscheidungsprozess einleiten zu lassen. Im Prinzip hatte sich an ihrer alt hergebrachten Lebensweise nichts geändert, nur dass jetzt noch Mord hinzu kam.
Als dann schließlich die Abfahrt Reichenfels das Ende der langen Reise ankündigte, ging beiden das Herz auf. Geschafft!
Endlich zu Hause!
Der Abstecher zu Lanas Eltern, brachte allerdings nur Tränen. Auf diese Weise gewannen dann Manuela und Ralf nicht nur ihren Sohn zurück, sondern besaßen nun auch noch eine Tochter, die sie immer gern gehabt hätten.