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WECHSELNDE WINDE ZU MITTSOMMER
Als der Onkel aus dem Boot in den See fiel, war es bereits der Vorabend zum Mittsommer. Zur selben Zeit bereitete man sich in Helsinki in Aarettis antiquarischem Büchercafé darauf vor, dieses größte Fest des Sommers feierlich zu begehen. Viivi Ruokonen machte im Café die belegten Brote fertig, Oskari Mättö besorgte einen Kasten Bier und mehrere Flaschen Wein. Aaro Korhonen trug alles in Lindells Leichenwagen, mit dem sie zum Strand von Hietalahti fahren wollten, wo das Boot von Viivis Vater lag. Aaro hatte eine kleine Hütte auf der Insel Rääveliholm gemietet, die in Espoos Schärengarten lag und auf der einst in alten Zeiten estnische Robbenfänger gehaust hatten. Aaro warf die Frage auf, ob man Fräulein Nuutinen in Lieksa über den geplanten Inselausflug informieren sollte, aber Viivi fand das unnötig. Mochte das Weibstück am Pielisjärvi feiern, bis sie platzte, sie, Viivi, wollte mit diesem aufdringlichen Frauenzimmer das schönste Fest des Sommers nicht in derselben Hütte verbringen. Auch Oskari war der Meinung, dass in der kleinen Hütte nicht mehr als drei Personen wirklich Platz hätten, und selbst dann musste einer schon auf dem Fußboden schlafen.
Als sie den Proviant und das übrige Gepäck in dem kleinen offenen Boot von Viivis Vater verstaut hatten, fuhr Aaro den Leichenwagen nach Töölö und stellte ihn in der Garage des Bestattungsinstituts Lindell ab, dann kehrte er mit dem Taxi ans Ufer zurück, wo Oskari und Viivi bereits den Bootsmotor gestartet hatten und dabei waren, die Seekarten zu studieren. Der Teufel Rauno Launonen hatte sich ebenfalls rechtzeitig eingefunden und sich im Bug zwischen Kühltasche und Proviantkorb niedergelassen, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass er unsichtbar blieb.
Es war ein schöner Sommerabend, aber der Wind wehte recht kräftig. Die drei beschlossen, zunächst aufs offene Meer hinaus und dann durchs innere Fahrwasser von Lauttasaari nach Espoo zu fahren, um dort im Schutz der Inseln weiter nach Rääveliholm zu schippern. Alle freuten sich auf ein schönes Mittsommerfest, was auch sonst.
Schutzengel Sulo Auvinen war von Lieksa herbeigeeilt, um Aaro Korhonen und dessen Freunde zu beschützen. In Lieksa brauchte man ihn zurzeit nicht unbedingt. Der Engel flog über dem Boot dahin und betrachtete die schöne Meereslandschaft. Gottes Schöpfung ist wirklich herrlich, dachte er bei sich. Schade nur, dass er schon tot war, bei diesem Wetter und jetzt zu Mittsommer wäre er gern unter den Lebenden, besonders, wenn er noch ein wenig jünger wäre und sich mit dem entsprechenden Aussehen und Auftreten ein junges Mädchen angeln könnte. Na gut, der Job als Engel hatte auch einiges für sich. Man hatte keinen Hunger und keine Gelüste nach einer Frau. Man betrachtete einfach die schöne Natur und behütete seinen Schützling und dessen Freunde. Sulo wollte besonders scharf aufpassen, jetzt, wo Mittsommer war und viele Unfälle passierten. Die Begebenheit auf dem Pielisjärvi kam ihm in den Sinn. Fräulein Nuutinens Onkel war bestimmt längst erkrankt. Höchst bedauerlich, aber was hätte er, Sulo, sonst machen sollen, um das Fräulein in Lieksa festzuhalten. Er verließ sich auf Fräulein Nuutinens guten Willen und die Stärke der Familienbande. Bestimmt würde sie daheimbleiben, um ihren Verwandten zu pflegen, wenn sie nur erst erführe, dass der sich erkältet hatte, nachdem er in den See gefallen war. Jedenfalls blieb zu hoffen, dass es so ablaufen würde.
Die Hütte war wirklich klein, aber gemütlich, und da die Luft klar und warm war, beschlossen Aaro, Oskari und Viivi, ihre Mittsommerfeier auf der Terrasse zu begehen. Die Männer luden den Proviant aus und trugen ihn nach drinnen, dann machten sie sich daran, am Strand Holzabfälle für ein Lagerfeuer zu sammeln, und im Wald fanden sie Reisig. Inzwischen hatte Viivi den Tisch gedeckt und das Bier in den Kühlschrank gestellt. Aaro und Oskari holten Saunawasser aus dem Meer. Viivi machte die Betten. Von der gegenüberliegenden Insel, einem städtischen Erholungsgebiet, klangen der Gesang von Frauen und Akkordeonspiel herüber. Zu diesem Zeitpunkt brüllte noch niemand besoffen herum. Die Stimmung war richtig angenehm. Man öffnete die Bierflaschen, saunierte und ging baden, und dann wurde gegessen.
Hier und dort flammten Lagerfeuer auf den Schären auf. Der kräftige Wind hatte sich ein wenig gelegt, er blies von Rääveliholm weg aufs Meer, sodass auch Aaro, Oskari und Viivi beschlossen, ihr Lagerfeuer anzuzünden. Oskari kam auf die Idee, den Benzinkanister aus dem Boot zu holen, er goss zwei Liter als Zündflüssigkeit auf das Holz, dann brachte er den Kanister wieder zurück.
Sulo Auvinen betrachtete die drei glücklichen Menschen wohlgefällig. So manierlich hätte auch er Mittsommer gefeiert. Ein wenig Bier nach der Sauna, und jetzt, da das Lagerfeuer angezündet wurde, war es Zeit, den guten Jahrgangswein zu probieren, den Viivi von Aaros Geld besorgt hatte. Viivi hatte die Verkäuferin gefragt, welchen Wein sie für die Feier in den Schären empfehlen würde. Die hatte einen argentinischen Rotwein angepriesen, der ihrer Meinung nach gut mit der Saunawurst harmonierte.
Viivi hatte sich dem Urteil angeschlossen und las die entsprechende Seite aus dem Weinkatalog, den ihr die Verkäuferin gegeben hatte, vor:
Luigi Bosca Cabernet Sauvignon 2000, Mendoza. Komplexes und elegantes Aroma, bei dem Cassis und Tabak auszumachen sind. Der kultivierte Geschmack ist ebenfalls ausgewogen und sorgt für ein fruchtiges Gefühl im Mund. Das harmonische Ganze wird strukturiert von den eleganten, reifen Gerbsäuren. Der Wein hinterlässt einen ungewöhnlich langen und anregenden Nachgeschmack.
Oskari Mättö sorgte für eine Steigerung, als er aus seiner Tasche drei Flaschen mit dem vielversprechenden Namen Lumo, Zauber, vom finnischen Gut Rutjanlinna zutage förderte. Als er unlängst einen verstorbenen Lohjaer Bergmann abholen sollte, war er in Lohjansaari gelandet, wo der Mann die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Und, wie nicht anders zu erwarten, hatte ihm der ortsansässige Produzent Siderberg das zauberhafte Mittsommergetränk empfohlen. Im Jahr zuvor war es sogar in der Presse bewertet worden. Oskari hatte mit den Flaschen auch eine Kopie des Zeitungsartikels bekommen:
Lumo von Rutjanlinna ist ein eleganter Beerenwein. Der Geschmack ist dunkel, beerig frisch, jedoch nicht schwer. Der Abgang ist nobel, der Wein passt zu Wildgerichten, kann aber auch in geselliger Runde genossen werden. Der Duft ist überraschend aromatisch.
Fröhlich knisternd entzündete sich der Holzstoß, heiße Flammen erhoben sich hoch in den Himmel. Die Feiernden prosteten sich zu. Das Mittsommerfest war auf dem Höhepunkt.
Die drei blickten aufs Meer, ein sanfter Wind ließ kleine Wellen an den Steg und die Ufersteine plätschern. In der zunehmenden Dämmerung leuchteten Dutzende von Lagerfeuern, große und kleinere, über das Meer hallte wehmütiger Gesang. Auch Finnen können gefühlvoll und kultiviert feiern.
Nach Meinung des Teufels war die Stimmung zu harmonisch geworden. Launonen ging an den Steg, und in Ermangelung einer anderen Beschäftigung knotete er das Seil los und versetzte dem Boot einen Fußtritt. Das Boot glitt aufs Meer hinaus. Der Teufel beobachtete zufrieden, wie es sich immer weiter vom Ufer entfernte. Es befand sich schon sehr weit draußen, als Oskari Mättö endlich das Missgeschick bemerkte.
»Verflucht! Das Boot ist abgehauen!«
Aaro Korhonen riss sich die Kleider vom Leib.
»Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir es nicht zurückholen! «
Schutzengel Sulo Auvinen indes beschloss, das Problem auf seine Weise zu lösen. Er ließ den Wind aus der Gegenrichtung blasen, sodass das Boot stoppte und langsam wieder zurücktrieb. Der Windstoß überraschte die drei Menschen am Strand. Alles bestens. Aaro zog sich wieder an. Mit Hurrarufen begrüßten sie den näher kommenden Ausreißer. Der Schutzengel war darüber so erfreut, dass er die Kraft des Windes verstärkte. Genau das hätte er nicht tun dürfen. Das lodernde Lagerfeuer bekam Auftrieb und brannte immer fröhlicher. Jetzt, da der Wind vom Meer her wehte, entzündete sich zuerst das staubtrockene Gras, bald folgten die Campingmöbel und danach das Außengeländer. Die Flammen leckten an der Terrasse, und dann griff das Feuer auf das Gebäude selbst über.
Sulo Auvinen bekam es mit der Angst zu tun. Wie hatte er nur so unbedacht sein können. Scheiß auf das Boot, jetzt musste rasch das Feuer gelöscht werden. Er drehte den Wind und zog eine Gewitterwolke über den Himmel. Es begann in Strömen zu gießen, und der Wind wehte wieder ablandig. Der sommerliche Regenschauer konnte jedoch das Feuer nicht löschen. Im Gegenteil, der auflebende Wind bewirkte lediglich, dass auch das Außenklo hinter der Veranda aufflammte wie das schönste Lagerfeuer. Ein ekelerregender Gestank breitete sich aus.
Das Boot schaukelte wieder weit draußen auf dem Meer. Die Hütte brannte lichterloh, und obwohl Aaro, Oskari und Viivi mit Eimern Wasser aus dem Meer holten und es auf das Gebäude spritzten und der Gewitterschauer die ganze Gegend durchnässte, war die Hütte nicht mehr zu retten. Nach einiger Zeit ertönte vom Festland her die Sirene der Feuerwehr. Ein Löschboot kam mit hoch aufragendem Bug angesaust. Die Feuerwehrmänner zogen einen Schlauch zur Hütte, aber es half nichts mehr, das Gebäude brannte bis auf den Steinsockel nieder. Das Boot von Viivis Vater war im Dunst der Mittsommernacht verschwunden.
Niedergeschmettert tranken die drei ihr letztes Glas Wein vor der rauchenden Ruine. Sie mussten mit den Feuerwehrleuten aufs Festland zurückkehren. Rauno Launonen stand zufrieden an Deck des Stahlbootes und blickte glücklich auf den Horizont. Am Ende war es doch noch ein verteufelt schönes Mittsommerfest geworden.
Schutzengel Sulo Auvinen vermochte sich nicht mehr in die Lüfte zu erheben, sondern schlich über die Uferfelsen und weinte, während seine Flügel über den Boden schleiften. Es war ein rührender Anblick. Der alte, wohlmeinende Engel in Tränen aufgelöst. Zum Glück konnten Viivi, Aaro und Oskari das weder sehen noch hören. Die Welt der Engel steht nur den Toten offen, nicht den Lebenden.