19
DIE LETZTE REISE DER
DAMEN AUS KEIKYÄ

 

Auf der neuen Brücke über den Großen Belt konnten Aaro und Oskari es nicht lassen auszuprobieren, wer von ihnen den schnelleren Leichenwagen hatte. Die Gelegenheit war günstig, denn seit dem Start in Berlin war ein ganzer Tag vergangen, jetzt war es bereits Mitternacht und auf der Brücke kaum Verkehr. Am Steuer des Volvo saß jetzt Aaro, den Mercedes kutschierte Oskari. Er hatte Elsa als Passagierin, in Aaros Obhut befand sich Amalia, Kaltblüter alle beide.

Die Wagen schossen davon. Der Volvo beschleunigte schneller, von null auf hundert in 6,7 Sekunden, aber der Mercedes konnte gut folgen. Als die Tachonadeln jenseits der 200 km/h pendelten, überholte Elsas Wagen den Volvo, aber Amalia gab nicht auf. Kurz vor dem schwedischen Ufer rasten die Wagen Seite an Seite auf eine soeben errichtete Straßensperre der schwedischen Polizei zu. Jetzt war die Wirkung der Bremsen gefragt. Die ABS-Systeme funktionierten großartig bei beiden Automarken. Allerdings waren es natürlich sommerliche Straßenverhältnisse.

Die Flagge des Volvo auf Halbmast, den Mercedes hübsch ordentlich danebengestellt. Aaro und Oskari warfen den Polizisten vor, dass ihr Radar offenbar nicht ganz von dieser Welt sei, denn wer würde schon mit einem Leichenwagen zweihundert Stundenkilometer und mehr fahren? Das war doch bescheuert. Zur Bekräftigung ihrer Worte öffneten sie die Hecktüren und präsentierten ihre Passagiere. Die Beamten konnten nur mehr hüsteln. Es handelte sich also um eine Trauerfahrt, vielleicht hatten da die neuen internationalen Geschwindigkeitsmessgeräte tatsächlich gelogen? Sie entschuldigten sich für ihren lebensnahen Amtseifer und ließen die beiden passieren.

Die Freunde quartierten sich in einem kleinen Motel in Malmö ein. Sie überlegten, ob es erforderlich wäre, die Leichenwagen in einer bewachten Halle oder auf einem umzäunten Parkplatz abzustellen, aber da es bereits Nacht war und beide von der langen Fahrt erschöpft waren, beschlossen sie, die Wagen vor dem Motel auf der Straße zu parken.

»Wer wird denn schon einen Leichenwagen klauen, zumal, wenn ein Kunde drinnen ist«, lautete ihr makabres Fazit. Aber genau das geschah. In den frühen Morgenstunden verschwanden beide Wagen mitsamt den Passagieren. Die Autodiebe hatten wahrscheinlich im Dämmerlicht der Sommernacht geglaubt, dass da auf der Straße zwei Luxuskombis auf ihre neuen Besitzer warteten, und waren gar nicht darauf gekommen, dass es sich um einen Leichentransport handelte. Wie auch immer, beide Autos waren über alle Berge.

Es war ein ungeheurer Skandal. Verzweifelt rief Oskari bei Lindell in Helsinki an und erzählte ihm, dass er und Aaro zwei Autos und zwei Tote verloren hatten.

Lindell wollte Einzelheiten wissen und überlegte einen Moment. Dann äußerte er die Vermutung, dass es bezahlte Handlanger der Russenmafia gewesen sein könnten, denn sie waren besonders scharf auf große schwarze Wagen. Aber vielleicht hatten die Diebe inzwischen schon bemerkt, dass die Beute doch nicht so geeignet war. Lindell forderte Oskari auf, Strafanzeige zu stellen, und versprach, seinerseits den finnischen Zoll und den Grenzschutz zu informieren, für den Fall, dass die Autos mit ihrer Fracht in Finnland auftauchten. Und es bestand natürlich durchaus auch die Möglichkeit, dass die Autodiebe Schweden waren.

Zur selben Zeit flog Sulo Auvinen nach Schweden, um Aaro und Oskari in Empfang zu nehmen. Der Schutzengel erfuhr unterwegs von dem Geschehen. Die Nachricht vom Verschwinden zweier Toter war so ungeheuerlich, dass Sulo sich beinah in seinen Flügeln verheddert hätte. Er flog schneller und kam zur rechten Zeit in Schweden an, um den Autodiebstahl aufzuklären. Polizeibeamte waren bereits vor Ort, Aaro und Oskari berichteten ihnen vom Verschwinden der Autos und der Leichen. Bald traf auch Malmös oberster Polizeichef im Motel ein. Eine Fahndung für ganz Südschweden wurde herausgegeben, die zusätzlich im Rundfunk verlesen wurde. Die Suche nach den zwei schwarzen Wagen wurde mit vollem Einsatz betrieben.

Oft wird der schwedischen Polizei Unentschlossenheit und mangelnde Kompetenz vorgeworfen, aber in diesem Fall handelten die Beamten rasch und energisch.

Bald fand man heraus, dass die Autos in den frühen Morgenstunden von ihrem Stellplatz vor dem Motel gestohlen und auf direktem Wege in Richtung Stockholm gefahren worden waren. Bei den Dieben handelte es sich vermutlich um Profis aus dem Osten. Irgendwann hatten die Russen dann gemerkt, dass nicht alles im Lot war, und sie hatten den Autobahnabschnitt zwischen Malmö und Stockholm verlassen. Zuletzt waren die beiden schwarzen Wagen in der Nähe von Stockholm gesichtet worden. Die Polizeihubschrauber begannen bereits mit der Suche. An eben dieser Aufgabe beteiligte sich auch Schutzengel Sulo Auvinen. Er war ein kompetenterer Flugbeobachter als die Piloten der Hubschrauber und Flugzeuge, denn er konnte flott fliegen und jederzeit am Boden landen, um seine Beobachtungen zu überprüfen. Die Flugkünste der Engel entsprechen denen der modernsten Kampfhubschrauber. Engel brauchen keinen Flugplatz. Lasten können sie so gut wie keine aufnehmen, sofern man nicht einen Rucksack, eine Tasche oder die Bibel dazu zählt. Aber Sulo flog jetzt ohne Ausrüstung, denn Engel brauchen keinen Proviant und keinen einzigen Tropfen Treibstoff.

Sulo Auvinen gewahrte die schwarzen Autos nördlich von Stockholm. Er sauste mit kräftigen Flügelschlägen hinter ihnen her und sah, dass in beiden russisch aussehende Galgenvögel am Steuer saßen, gedrungene Kerle in den Vierzigern. Anscheinend wagten die Diebe es nicht mehr, den Fährhafen anzusteuern, weil sie dort die Polizei vermuteten. Möglicherweise hatten sie vor, mit den Leichenwagen aus Schweden zu flüchten, indem sie nach Tornio oder in einen anderen Ort an Schwedens Ostgrenze und von dort über irgendwelche Grenzübergänge nach Murmansk oder Salla zu fahren versuchten. Ein frecher Plan, aber den Akteuren fehlte es wahrlich nicht an Dreistigkeit, ihn in die Tat umzusetzen.

Als Sulo Auvinen durch die verdunkelten Seitenfenster in die Autos hineinlugte, bemerkte er, dass keine Ladung mehr vorhanden war. Um Himmels willen! Der Schutzengel wusste, dass zu Beginn der Fahrt in jedem Auto ein Sarg mit einer Leiche gestanden hatte, aber jetzt waren sie leer. Die Diebe hatten also schließlich bemerkt, dass sie versehentlich außer zwei Leichenwagen auch zwei Leichen geraubt hatten. Auf ihrer Flucht hatten sie irgendwo unterwegs die Särge abgeladen und fuhren jetzt ohne Leichen und ohne Schuldgefühle weiter, so wie es nur Mafiosi fertigbringen. Aber wo hatten sie die Särge mit den beiden Leichen, mit Amalia Karhunen und Elsa Suhonen, gelassen?

Sulo Auvinen nahm Verbindung mit den Gedanken seines Schützlings auf und hämmerte ihm die Information über seinen Fund in den Schädel. Aaro erzählte dann auch sofort den Polizisten von seiner Vermutung, dass die Autos momentan nördlich von Stockholm in Richtung Haaparanta unterwegs waren. Die Hubschrauber wurden hingeschickt, die Situation zu checken. Sulo Auvinen veranlasste in seiner bewährten Manier den Beobachter in der Maschine, auf den richtigen Straßenabschnitt zu blicken, und schon bald wurde von oben der Befehl gegeben, zum Empfang der Flüchtigen eine Straßensperre zu errichten.

Die Diebe fuhren in die Falle und wurden verhaftet. Sie behaupteten, die Särge morgens auf einem Friedhof ausgeladen zu haben, wussten aber nicht mehr, wo das gewesen war. Beide Räuber bekannten, tief gläubig zu sein. Es war nicht ihre Absicht gewesen, unschuldige Tote oder deren Särge zu stehlen. Sie hätten die Leichenwagen nicht mal mit dem kleinen Finger angerührt, wenn sie gewusst hätten, was drinnen war. Aber in der nächtlichen Dämmerung war es unmöglich gewesen, die dunklen Kombis zu identifizieren, denn die trugen noch nicht das Namensschild des Bestattungsinstituts und auch nicht das übliche Kreuz. Die Diebe hatten geglaubt, Limousinen der Luxusklasse zu ergattern. Und das waren die Wagen ja letztlich auch – gedacht für herrschaftliches Fahren auf der wichtigsten Reise des Menschen – seiner letzten.

Die Särge hatten sie in aller Eile auf den Friedhof von Motala geschafft, einer stand auf dem Weg, der andere auf einem Grab. Der Friedhofsgärtner fand sie, als er zur Arbeit kam, und informierte die Polizei.

Die Toten mussten identifiziert werden. Die Beamten schraubten die Deckel auf. Aaro Korhonen, Oskari Mättö und die schwedischen Polizisten stellten fest, dass die Leichen von Amalia Karhunen und Elsa Suhonen trotz ihres abenteuerlichen Ausflugs in relativ gutem Zustand waren.

Schutzengel Sulo Auvinen beobachtete eine faszinierende Metamorphose. Die toten alten Frauen verwandelten sich allmählich in Engel. In Amalias und Elsas weiße, wächserne Totengesichter stieg blutvolles Rot, die Lippen glühten wie bei jungen Mädchen, die Hautfalten glätteten sich. Aus den ausgemergelten Körpern schälten sich stattliche Engel, jünger irgendwie als ihr wahres Alter. Es war ein schöner Anblick, so als hätten sich weibliche Schmetterlinge aus ihrer Verpuppung befreit und zum Flug bereit gemacht. Die Frauen ließen ihre irdische Gestalt in den Särgen zurück und erhoben sich, wobei sie ihre leuchtend weißen Flügel der Sonne entgegenreckten. Sie waren verblüfft über ihre veränderte Daseinsform, sahen einander an und staunten über ihr neues Leben. Bald schon probierten sie ihre gewaltigen Flügel aus. Geführt von Schutzengel Sulo Auvinen, flogen sie ins Heimatland.

Die Särge wurden mit einem Laster in den Stockholmer Hafen geschafft. Die schwedische Polizei war inzwischen mit der kriminaltechnischen Untersuchung des Volvo und des Mercedes fertig, sodass die Särge erneut eingeladen und die Wagen aufs Frachtdeck der Fähre gefahren werden konnten.

Als Gentleman erbot sich Sulo Auvinen, die Damen Amalia Karhunen und Elsa Suhonen über das Meer nach Keikyä und zu ihren eigenen Beerdigungen zu begleiten.

Sie überflogen Stockholm, die Ǻandinseln und den Archipel. Die Luft war atemberaubend klar, das Meer wogte unter weißen Schaumköpfen, auf den Klippen räkelten sich Robben, und ein paar Segler zogen ihre Bahn. Sulo Auvinen flog voran und passte auf, dass ihm die Frauen, die ihren ersten Flug absolvierten, sicher folgten. Die Stimmung war von himmlischem Glück geprägt. Sulos Herz erfüllte väterliche Freude. Dadurch inspiriert, rezitierte er ein paar besonders schöne Verse aus der sechsten Rune des Kalevala, in der der alte Väinämöinen auf Freiersfüßen geht. Und der Aar, der Lüfte Vogel, trägt den weisen Väinämöinen zu des Nordens weiten Grenzen …

In Keikyä trafen sie vor Elsas und Amalias Leichen ein. Da sie nun reichlich Zeit hatten, lehrte Sulo die beiden Frauen, richtig zu fliegen. Er war ein geübter Luftfahrtengel und auch sonst vom Wesen her beschwingt. Er veranstaltete für die beiden Anfängerinnen einen regelrechten Kurs, lehrte sie den Gleitflug, die Rhythmik der Flügelschläge sowie Sturzflüge und das Ausruhen auf Luftströmen. Amalia und Elsa kicherten unsicher, und da sie bereits betagt waren, hatten sie Angst, sich in die von Sulo vorgeschlagenen Höhen hinaufzuschwingen. Im Laufe des Tages bekamen sie jedoch mehr Mut. Sie erinnerten sich an ihre Jugend, als sie aus purem Übermut nach Deutschland gereist waren, angeblich um zu studieren. Der Geldmangel hatte sie jedoch gezwungen, als Dienstmädchen zu arbeiten und später deutsche Männer zu heiraten, womit die Freiheit ihrer Mädchenjahre geendet hatte. Als Hausfrauen hatten sie im fremden Land ihr Leben verbracht, buchstäblich zwischen Faust und Herd. Die Ehegatten waren schon vorzeiten gestorben, Gott sei dafür Dank.

Am Nachmittag veranstaltete Sulo Auvinen zum Abschluss des Kurses auf der Kirche von Keikyä eine private Flugschau. Er stieg behände auf wie ein Albatros. In drei Kilometern Höhe faltete er seine mächtigen Flügel spitz zusammen und stürzte aus den Schönwetterwolken herab wie ein schwarzer Meteorit. Unten auf dem Vorplatz der Kirche kreischten Amalia und Elsa vor Schreck und Bewunderung. Alles wäre perfekt gelaufen, hätte nicht Sulo Auvinen in seinem Übermut den freien Fall ein wenig zu lange ausgedehnt. Er breitete im letzten Moment die Flügel aus, um aus dem Fall in einen eleganten Gleitflug zu kommen, aber das Tempo war gefährlich hoch. Die Federn stoben, als der Fliegerheld auf dem Glockenturm aufschlug, wo er, ein wenig geniert, hängen blieb.

Amalia und Elsa halfen dem Gentleman-Engel herunter und umsorgten ihn, so wie sie es in ihrer Ehe gelernt hatten. Der Fluglehrer erholte sich bald so weit von seinem wilden Sturz, dass er den Damen verraten konnte, der Aufschlag habe zum Programm gehört. Die Schlussnummer einer Flugschau müsse so riskant sein, dass das Publikum geboten bekomme, was es sich im Innersten wünsche: die Faszination des Fliegens, Schrecksekunden, unerträgliche Spannung und zum Schluss befreiende Erleichterung.

Auf ihrer letzten Wegstrecke von Turku nach Helsinki brachten Aaro Korhonen und Oskari Mättö die Leichen von Amalia und Elsa in deren Heimatgemeinde nach Keikyä, wo das örtliche Bestattungsinstitut sie übernahm. Oskari hinterließ Lindells Transportrechnung zur Weitergabe an die Erben. Sulo Auvinen als Gentleman-Engel dankte den Damen für den schönen Tag und wünschte beiden eine angenehme Ewigkeit.

Spät abends, noch vor der Ankunft in Helsinki, erhielt Aaro Korhonen eine Nachricht auf dem Handy: Hey, lieber Aaretti, die Mechelininkatu brennt. Komm bald nach Hause, das wünscht Viivi.