13
DIE DRITTE
GEHIRNERSCHÜTTERUNG
Schutzengel Sulo Auvinen saß im Marienkrankenhaus an Aaros Bett. Der Patient hatte das Bewusstsein wiedererlangt und schlief friedlich. Zum Glück war es für ihn nicht schlimmer ausgegangen. Wäre Aaro in der Mechelininkatu etwa unter einen Laster geraten, wäre er garantiert tot gewesen, aber Sulo hatte kurzentschlossen den Verkehr gestoppt. Ärgerlich nur, dass er aus Unaufmerksamkeit versäumt hatte, den Scooter anzuhalten, der dann mit Aaro zusammengestoßen war.
Die Besuchszeit hatte begonnen. Viivi Ruokonen, Ritva Nuutinen und Oskari Mättö erschienen, um nach dem Patienten zu sehen. Aaro lag in einem Zimmer, in dem noch fünf weitere Betten standen, alle durch Paravents voneinander getrennt. Viivi und Fräulein Nuutinen brachten Blumen mit, Oskari ein paar Bücher. Fräulein Nuutinen schickte nach dem zuständigen Stationsarzt, denn Aaro wollte wissen, wie es dem Mädchen gehe, das mit ihm zusammengestoßen war. Der Arzt berichtete, dass in der Klinik von Töölö eine neurochirurgische Operation bei ihr vorgenommen worden sei und dass beide unteren Gliedmaßen eingegipst worden seien. Man kenne ihre Identität nicht, sie habe keine Papiere bei sich gehabt und sei immer noch bewusstlos.
Oskari Mättö erklärte, dass das Mädchen Sari Heinänen heiße. Er hatte ihren verbeulten Motorscooter in eine Werkstatt nach Lauttasaari gebracht. Anhand der Registriernummer hatte er die zuständige Versicherungsgesellschaft ermittelt, ferner auch Namen und Adresse der Besitzerin, und er hatte bereits ihre Angehörigen angerufen und über den Unfall informiert.
Bei Aaro Korhonen war eine Gehirnerschütterung diagnostiziert worden, man hatte eine Infusion angelegt. Knochenbrüche hatte er nicht, dafür aber Quetschungen, wie an seinem geschwollenen Gesicht unschwer zu erkennen war.
»Es ist schon die zweite Gehirnerschütterung in diesem Frühjahr«, meinte darauf Oskari und erzählte, wie sie in Ostbottnien mit dem Leichenwagen auf dem Acker gelandet waren, dabei zwinkerte er unwillkürlich mit seinem zuckenden Auge. Der Arzt vermerkte die Information in der Akte.
Als Aaro müde wurde, entfernten sich die Besucher und der Stationsarzt. Der Schutzengel verblieb im Krankenzimmer, um über Gesundheit und Sicherheit seines Schützlings zu wachen. Am Abend und zu Beginn der Nacht ging noch alles gut, aber später wachte Aaro auf und warf sich im Bett hin und her. Der Schutzengel wurde aufmerksam: Was plagte seinen Schützling? Bald fand er heraus, dass Aaros Rücken juckte, dass er sich aber nicht kratzen konnte, weil er an etliche Schläuche angeschlossen war. Sulo Auvinen wusste gut, dass ein Juckreiz, gegen den man nicht vorgehen konnte, binnen Kurzem ungeheure Ausmaße annahm. So auch jetzt. Aaro seufzte gereizt in seinem Bett, unfähig, sich richtig zu bewegen, und das Jucken am Rücken wurde nach und nach zur höllischen Qual.
Sulo Auvinen erkor den Bettnachbarn, der zufällig gerade wach war, als Helfer aus. Die Nachtschwester mochte er nicht extra wegen eines Juckreizes bemühen. Schutzengel Sulo versah den Nachbarn mit so viel Eigeninitiative, dass der aus seinem Bett aufstand, hinter den Schirm lugte und zuvorkommend fragte:
»Kann ich helfen, oder kommst du allein klar?«
Aaro bat, der andere möge ihm ein wenig den Rücken kratzen. So zog denn der hilfsbereite Mitpatient den Schirm beiseite und trat näher, um Aaro zu helfen. Aber da es dunkel war, lief die Sache nicht so ab, wie es wünschenswert gewesen wäre. Der hilfsbereite Mann stieß aus Versehen gegen das Bett, und das hochgestellte Kopfende krachte mit solcher Wucht herunter, dass Aaro auf den Fußboden fiel und sich böse den Schädel stieß, es war bereits das dritte Mal innerhalb kurzer Zeit. Die Nachtschwester kam angestürzt, und bald auch der Portier. Der hilfsbereite Nachbar schlüpfte in sein eigenes Bett, Aaro wurde in das seine gehoben. Er war nicht mehr bei Bewusstsein, und sein Rücken juckte nicht mehr. Der Schutzengel seufzte über sein Missgeschick und schleppte sich mit hängenden Flügeln aus der Klinik. In seinem hilfreichen Herzen brannte die Erkenntnis, dass er seinen Schützling erst einmal in Ruhe lassen und nach Kerimäki fliegen musste, um neue Anweisungen einzuholen und einen Tadel, gegebenenfalls strenger Art, zu empfangen.
Am Morgen kam Viivi Ruokonen ins Marienkrankenhaus und setzte sich an Aaros Bett. Der Patient schlief noch. Viivi legte ihre Hand auf die seine und flüsterte leise:
»Aaretti.«
Aaro erwachte, und als er Viivi dort sitzen sah, freute er sich mächtig. Er erzählte ihr, dass er letzte Nacht aus dem Bett gefallen sei und sich erneut den Kopf gestoßen habe, aber jetzt gehe es ihm schon besser. Wie lief es im Büchercafé?
Viivi arrangierte die Blumen neu, die sie am Vortag gebracht hatte, sie waren anscheinend bei dem nächtlichen Tohuwabohu heruntergefallen. Fräulein Nuutinens Strauß stellte sie zum Nachbarn.
»Die Nuutinen hat in der Hausverwaltung angerufen, um sich deine Wohnungsschlüssel geben zu lassen, ich konnte es nicht verhindern. Aber zum Glück gibt es im Haus momentan gar keinen Verwalter.«
Sie erzählte, dass man dem letzten Verwalter wegen Unregelmäßigkeiten bei der Buchführung der Wohnungsgesellschaft gekündigt hatte, das hatte der Vorstandsvorsitzende am Telefon gesagt. Der Vorsitzende hatte wissen wollen, wo er den neuesten Hausbewohner, Aaro Korhonen, treffen könnte, und als er erfahren hatte, dass Korhonen im nahen Krankenhaus lag, hatte er anfragen lassen, ob er ihn am heutigen Nachmittag besuchen dürfe. Er habe etwas Wichtiges mit Aaro Korhonen zu besprechen.
Viivi konnte nicht lange bleiben, das Café wurde jetzt wieder von Gästen frequentiert, und Fräulein Nuutinen hatte keinen Sinn für diese Arbeit. Anwesend war sie allerdings, ganz als wäre sie irgendwie Teilhaberin des Büchercafés.
Am Nachmittag erschien dann tatsächlich der Vorstandsvorsitzende der Wohnungsgesellschaft, Magister Heikki Malkala. Er machte einen seriösen Eindruck, brachte die Nachmittagszeitungen und Nikotinkaugummi mit. Malkala hieß den neuen Bewohner in der Mechelininkatu und als Mitbesitzer in der AS. OY Mechelinin Onnela-Gesellschaft willkommen. Dann kam er sofort zur Sache.
»Der Umzugsmeldung entnahm ich, dass du Verwalter bist. Es verhält sich nun so, dass unser ehemaliger Verwalter Gelder unserer Wohnungsgesellschaft veruntreut hat. Die Polizei wurde mit den Ermittlungen beauftragt, und wir müssen natürlich schnell jemanden vom Fach finden, der sich zunächst für eine Übergangszeit um die laufenden Angelegenheiten kümmert. Ich sagte mir, dass ich wenigstens mal anfrage, ob du als Profi den Job übernehmen könntest?«
Aaro Korhonen überlegte kurz. Warum eigentlich nicht!? Aber vorläufig war er ja ans Bett gefesselt, und er wusste nicht, wie lange noch.
»Das ist kein Problem. Ich kann täglich herkommen, die Dokumente, Bilanzen und das alles mitbringen und Anweisungen einholen. Unsereins mit gewöhnlichem Magisterabschluss versteht nicht viel von den Angelegenheiten einer Wohnungsgesellschaft. Außerdem müssen auch Rechnungen bezahlt und die Planungen für den kommenden Herbst gemacht werden.«
Sie wurden sich einig. Aaro versprach, die Verwaltung der Wohnungsgesellschaft zu übernehmen, gegen Honorar. Er fand, dass ihn die neue Aufgabe keineswegs überfordern würde. Eigentlich war es nur angenehm, dass er in dieser Funktion Gelegenheit bekäme, seine neuen Nachbarn kennenzulernen. Die Verwaltung einer gewöhnlichen Wohnungsgesellschaft war ein Kinderspiel, verglichen mit der Betreuung eines Industriebetriebes. Die Pellet-Fabrik hatte komplizierte Liegenschafts- und Logistikprobleme gehabt, mit denen er, Aaro, wunderbar fertiggeworden war.
Noch am selben Abend händigte Magister Malkala Fräulein Nuutinen Aaros Schlüssel aus, da sie ihm sagte, sie wolle sich um die Wohnung und die eingehende Post kümmern, während der Besitzer im Krankenhaus liege. Zufrieden dachte er bei sich, dass es zum Glück auf dieser Welt noch gute und uneigennützige Menschen gab.