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DIE ERSTE AUFGABE ALS SCHUTZENGEL
Sulo Auvinen flog nach Helsinki, um sich zunächst einmal zu informieren, was für ein Mann Aaro Korhonen war. Er durchforschte dessen Gedanken, holte seine Vergangenheit und auch alles andere hervor, was Aaros Gehirn ohne sein Wissen dem Engel preisgab. Sulo verschaffte sich auch Kenntnisse über Viivi Ruokonen. Mit dem scharfen Auge des Religionslehrers hatte er registriert, wie innig die beiden einander ansahen. Das konnte durchaus eine ernsthaftere Beziehung und womöglich eine Eheschließung bedeuten. In diesem Fall würden sich die Aufgaben des Schutzengels natürlich erweitern und auf die ganze Familie erstrecken.
Aaro Korhonen hatte zuletzt in Pietarsaari als Verwalter der dortigen Pellet-Fabrik gearbeitet. Geboren war er ursprünglich in Savukoski. Aber schon als kleines Kind war er mit seinen Eltern nach Trelleborg gezogen, dort hatten beide in den Saab-Werken gearbeitet. Als Erwachsener war Aaro nach Finnland zurückgekehrt, hatte seinen Wehrdienst abgeleistet und einige Jahre an der Universität studiert. Die diesbezüglichen Aktivitäten hatten allerdings zu keinem akademischen Abschluss geführt. Außer Sprachen und Literatur hatte er auch noch Soziologie studiert. Er hatte als Sommerredakteur beim Turkuer Tageblatt und als Assistent beim Finnischen Rundfunk gearbeitet. Aaro hatte zahlreiche Berufe ausgeübt und diverse Arbeitsplätze gehabt, aber er war trotzdem bodenständig geblieben und hatte sich nicht in der Welt herumgetrieben. Völlig gelassen hatte er branchenübergreifende Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt, sodass er imstande war, schwierige Probleme zu lösen und beinahe jeden Job auszufüllen.
Als ehemaliger Religionslehrer interessierte sich Sulo Auvinen natürlich besonders dafür, ob sein Schützling gläubig war und welchen Lehren er möglicherweise anhing. Hier erwartete ihn eine Enttäuschung. Aaro Korhonen war nicht religiös, allerdings auch kein Atheist, sondern eine Art Agnostiker – falls es tatsächlich eine göttliche Welt geben sollte, war nichts dagegen einzuwenden, falls nicht, auch gut – das war sein Standpunkt.
Neben seinen verschiedenen Jobs hatte Aaro Korhonen auch zwei Bücher geschrieben. Eines war ein belletristisches Werk, eine Art Anekdotensammlung: Die Abenteuer eines Goldwäschers. Auf den Spuren des Urgesteins von Alattio bis Alaska. Das andere war ein Sachbuch über das Internet-Zeitalter: Die soziologische Bedeutung der internationalen Aktienmärkte. Eine Untersuchung zur Verelendung in der Welt des elektronisch zirkulierenden Geldes. Sulo Auvinen konstatierte, dass sein Schützling eine vielseitige Persönlichkeit war, ein ausgeglichener und fester Charakter, ziemlich talentiert und tatkräftig. Auch Aaros Äußeres war nicht übel. Mit seinen vierzig Jahren war er ein wenig kräftiger geworden, aber keineswegs korpulent, eher groß und stabil. Sein Haar war blond, seine Zähne hatten keine Löcher.
Viivi war fünfundzwanzig, ebenmäßig gebaut, eigentlich ein recht hübsches Mädchen. Sie war Bürokauffrau und hatte auf verschiedenen Stellen normale Büroarbeit geleistet, bis sie die Branche gewechselt und angefangen hatte, Hilma Väisänens Café zu betreuen. Viivi hatte mehrere Beziehungen mit Männern gehabt, die letzte war erst kürzlich in die Brüche gegangen, gerade eine Woche bevor Aaro auf der Bildfläche erschienen war.
Hier waren zwei Menschen, um die sich Sulo gut kümmern wollte. Seiner Meinung nach lohnte es. Vielleicht könnte er die beiden – oder zumindest Aaro, der so großartige Anlagen hatte – ganz nebenbei auch ein wenig erziehen. Als ehemaliger Lehrer konnte Sulo nicht ganz von diesen Versuchen lassen. Daran änderte auch nichts, dass er vor fünfzehn Jahren aus dem Schuldienst ausgeschieden, in Pension gegangen und im letzten Winter gestorben war.
Es war bereits später Abend, sodass Viivi und Aaro gerade ihren jeweiligen Heimweg antraten. Viivi begab sich in ihre Einzimmerwohnung in der nahen Caloniuksenkatu und Aaro in sein Hotel Tapiola Garden. Bevor sie sich trennten, verabredeten sie, sich am nächsten Tag im Café Väisänen zu treffen. Sie würden detaillierte Pläne für Weiterführung und Ausbau des Cafés schmieden. Beide sprudelten geradezu über vor großartigen Ideen zur Gründung eines neuen netten Kulturcafés. Vielleicht würden sie neben Kakao und Kuchenstückchen alte Bücher verkaufen …, ein Antiquariat ließe sich bestens mit einem Café kombinieren.
Auch Schutzengel Sulo Auvinen begab sich zur Nachtruhe: Engel schlafen nach Art der Geister, indem sie reglos am Himmel schweben, Sulo in der Seitenlage, den Kopf und den linken Arm unter den Flügel geschoben. Im Schlaf schwebte er, vom Nachtwind getragen, in nordöstlicher Richtung bis nach Hämeenlinna, aber morgens bedurfte es nur weniger kräftiger Flügelschläge, und er war wieder in Helsinki. Die Arbeit wartete auf ihn, Viivi und Aaro saßen bereits im Café Väisänen. Viivi füllte Formulare aus, mit denen beide die Verlängerung der Gewerbegenehmigung für das Café beantragten und – abweichend von der bisherigen Praxis – eine Genehmigung zum Ausschank schwach alkoholischer Getränke. Ebenso beantragten sie, in den Geschäftsräumen die entsprechenden Veränderungen vornehmen zu dürfen. Sie machten sich unter anderem Gedanken über die Sanitärräume, den Brandschutz, die Ausbildung der Servierkräfte …, unzählige bürokratische Formalitäten waren zu erfüllen, ehe Aaro Korhonen das Lebenswerk von Hilma Väisänen in der Mechelininkatu weiterführen durfte. Viivi, durch Ausbildung und Praxis geschult, wusste alle Anträge sachkundig auszufüllen, und als Oskari Mättö mit dem Leichenwagen erschien, um sich seinen Traueranzug wieder abzuholen, versprach er, die Papiere bei den entsprechenden Ämtern abzuliefern. Alle drei waren überzeugt, dass es sich um eine bloße Formalität handelte. Für die Öffentlichkeit und auch für die Behörden war es doch nur gut, wenn das alte Café unter kultivierteren Vorzeichen weiter bestehen würde.
Als Oskari davongefahren war, um seinen Auftrag zu erledigen und danach wieder Tote in die verschiedenen Friedhofskapellen zu transportieren, gingen Viivi und Aaro daran, die Wochenprogramme des künftigen Büchercafés zu planen. Viivi fand, dass sie das Café schon in ein paar Tagen eröffnen könnten, sowie die Kühlgeräte und die neue Einrichtung an Ort und Stelle wären.
Inzwischen war Schutzengel Sulo Auvinen herangeschwebt. Er prüfte besorgt Aaros und Viivis Pläne und entschied, dass diese rasch und nachdrücklich gestoppt werden müssten. Es kam für den ehemaligen Religionslehrer auf keinen Fall infrage, dass sein Schützling einfach so und ohne Rücksicht auf die Folgen in seinem Café alkoholische Getränke und nebenbei auch noch fragwürdige Schundliteratur verkaufte. Es war an der Zeit zu handeln, die erste Aufgabe als Engel wartete. Es galt, seine Kenntnisse aus der himmlischen Schulung entschlossen und gnadenlos in die Tat umzusetzen.
Der Schutzengel flog an diesem Tag sämtliche Ämter an, in denen Oskari die ausgefüllten Anträge abgegeben hatte. Mit seinen himmlischen Kräften sorgte er dafür, dass sie allesamt abgelehnt wurden. Es kostete ihn nicht mal große Anstrengungen. Dem Brandschutzinspektor pflanzte Sulo den schweißtreibenden Gedanken an einen Fettbrand im Café in der Mechelininkatu ein, den zuständigen Ingenieur im Bauamt ließ er seine ursprünglichen Papiere überarbeiten, den Vorsitzenden des Hygieneausschusses veranlasste er, sein Mittagessen zu unterbrechen und mehrere Arbeitsmediziner anzurufen, die entsetzt erklärten, dass sie die Eröffnung eines solchen Bakterienherdes nicht einmal zu Versuchszwecken zulassen würden. Und schließlich, bereits ein wenig erschöpft, nahm er Kontakt zu jenem höheren Beamten auf, der für die Bewilligung von Ausschankrechten zuständig war, und der erkannte erschrocken, dass er aufgrund der bestehenden Verordnung für Szenekultur und Alkoholausschank jenen Antrag, den er morgens noch ohne langes Nachdenken befürwortet hatte, eigentlich rundweg ablehnen müsste. So scheiterte Aaro Korhonens und Viivi Ruokonens Plan für das an sich harmlose Caféprojekt, ehe er überhaupt begonnen hatte.
Über diese Eilentscheide wurde Viivi telefonisch informiert. Aaro Korhonen tobte und verlangte Erklärungen. Woran haperte es? Helsinki war voll von Spelunken, eine wüster als die andere, in denen zwielichtige einheimische Gangs und die schlimmsten Mafiabanden der Nachbarländer ihre sündigen Nester hatten, aber ein sauberes und gemütliches Büchercafé durfte seine Türen nicht öffnen in einer Gegend, in der es eindeutig genug potenzielle Kunden gab, die sich nähren und bilden und, im besten Falle, auch dezent vergnügen wollten.