16
FRÄULEIN NUUTINEN IST EIN STANDHAFTER CHARAKTER

 

Nachdem Leutnant Sulo Auvinen von Unteroffizier Määttä Absolution erhalten hatte, machte er ein paar Tage Urlaub im heimatlichen Kuopio, ehe er wieder nach Helsinki flog, um seinen Dienst zu versehen. Er besuchte das Grab seiner Frau, und erst jetzt stellte er sich verwundert die Frage, wo sich Hilma eigentlich aufhielt … im Himmel war er ihr nicht begegnet. War der alte Drachen nach den Heimsuchungen des Fegefeuers womöglich in der Hölle gelandet? Wieso war ihm diese Möglichkeit nicht früher in den Sinn gekommen? Immerhin hatten sie etliche gemeinsame Ehejahre hinter sich, und auch er selbst war inzwischen schon mehrere Monate tot.

Jemand hatte Blumen auf Hilmas Grab gestellt. Und sein eigenes? Sulo erinnerte sich, dass er neben Hilma bestattet worden war, so weit, so gut, aber auf dem Auvinen'schen Grabstein, den er selbst gekauft hatte, war sein Name nicht zu finden, auch keine Spur von Geburts- und Sterbedatum. Wahrlich keine angenehme Erkenntnis. So leicht gerieten das ganze Lebenswerk und die persönliche Geschichte eines Menschen in Vergessenheit? Oder handelte es sich womöglich um eine normale Lieferverzögerung? Einen Namen in den Stein zu meißeln klappte wahrscheinlich nicht von heute auf morgen. Wieso war das noch nicht erledigt? Verflixt, wenn Hilma noch leben würde, wäre die Sache längst in Ordnung gebracht, aber tot war eben tot.

Sulo gestand sich nüchtern ein, dass seine Ehe in vieler Hinsicht missglückt war. Der wichtigste Grund für eine Heirat war für ihn ursprünglich das brennende Verlangen nach einer Frau gewesen. Jedes x-beliebige junge Ding wäre ihm recht gewesen, die Leidenschaft zu kühlen. Zufällig war ihm Hilma über den Weg gelaufen, sie hatten sich verlobt und dann geheiratet. Auch Kinder waren gekommen, aber das ganze Bündnis war von Reue und Gleichgültigkeit bestimmt gewesen. Der freudlose Zustand hatte länger als vierzig Jahre angedauert. Hilma war auf stille Art boshaft gewesen, und bestimmt war sie jetzt in der Hölle. Ach herrje, aber Sulo konnte nicht umhin, zufrieden zu lächeln, als ihm diese Möglichkeit dämmerte.

Sonst war es angenehm in Kuopio. Sulo Auvinen kreiste am Himmel über seiner alten Heimatstadt und betrachtete von oben die Häuserzeilen, die Parks, die blauen Seen, die Brücken und den drehbaren Turm von Puijo, der seinerzeit eine nationale Touristenattraktion gewesen war. Sulo erinnerte sich, dass er, als um jenen Bau auf dem Berggipfel gestritten wurde, Zivilcourage gezeigt und unter einem Pseudonym an die Regionalzeitung Savon Sanomat einen Leserbrief geschickt hatte, der das Projekt befürwortete. Inzwischen war der Turm bereits ein wenig verfallen, aber immer noch existierte in dem Turm ein Restaurant der gehobenen Kategorie. Als Sulo von draußen durch die Fenster lugte, erkannte er die meisten Anwesenden: Der Bürgermeister erhob gerade inmitten einer Gästeschar das Glas mit einem eisgekühlten Schnaps. Viele berühmte Savolaxer Sozialdemokraten waren da, unter anderem Paavo Lipponen und Martti Ahtisaari, beide mit Gattinnen. Im Hintergrund sah er Erkki Liikanen und Lasse Lehtinen, auch sie in Begleitung, eine Seltenheit.

Während Sulo Auvinen zusah, wie das Festessen aufgetragen wurde – kleine Maränen in Sahnesoße, flambierte Eierkuchen, schimmernder Kognak –, bekam auch er Hunger. Aber wie sollte ein Toter traditionelle regionale Delikatessen zu sich nehmen? Mit welchem Recht schlemmte die Bande eigentlich unter seinen Augen! Schwarzer Neid erfüllte sein Herz, und ohne groß zu überlegen, beschloss er, ein solches Unwetter aufziehen zu lassen, dass die Prasser sich an den Fischgräten verschlucken würden.

Engel haben geistige Kräfte, oder Substanz, wie man in Savo so treffend sagt. Sulo fachte zunächst den Wind an und ließ ihn an den Fenstern des drehbaren Turms rütteln, dann zog er eine finstere Gewitterwolke über den Puijo und ließ die Blitze zucken. Ha! Ein paar der Blitze lenkte er direkt in die Spitze des Turmes und registrierte zufrieden, dass im Restaurant das Licht erlosch und dass die Fahrstühle in ihren Schächten stecken blieben. Mit weißen Gesichtern schauten die Herren in das Toben hinaus, und Sulo Auvinen hatte den Eindruck, dass zumindest Erkki Liikanen ein Stoßgebet zum Himmel schickte. Assi als liebende Gattin stand ihrem Sünder zur Seite und stimmte inbrünstig mit ein.

Sulo hätte die Savolaxer Politiker durchaus noch länger gestraft, aber auch seine Befugnisse hatten Grenzen. Aus Kerimäki kam ein striktes Verbot. Der Engel Gabriel befahl seinem Untergebenen, sich zu beruhigen und das Wetter zu dämpfen. So konnte das Essen der eloquenten Herren seinen Fortgang nehmen, auch wenn der Ton gemäßigter als sonst war und die üblichen überheblichen Witze über die Leute aus Uusimaa sogar ganz ausblieben.

In Kuopio war es zwar schön, aber die Arbeit wartete. Anfang Juni flog Sulo Auvinen nach Helsinki. Jetzt war er froh und hoffnungsvoll gestimmt, anders als bei der Abreise, jetzt wo er ganz neue Instruktionen für seinen Beschützerauftrag erhalten hatte.

Aaro und Oskari waren nach Schweden zu den Volvo-Werken gefahren, um einen neuen Leichenwagen abzuholen als Ersatz für jenen, den sie in Ostbottnien zu Schrott gefahren hatten. In Aarettis antiquarischem Büchercafé agierten die Damen Viivi Ruokonen und Ritva Nuutinen. Erstere bediente die Gäste im Café, Letztere ordnete und sortierte die Bücher in den Regalen des Antiquariats. Ab und zu schauten Kunden herein. Unter den Freunden alter Bücher hatte sich die Kunde herumgesprochen, dass in der Mechelininkatu ein neues Geschäft der Branche eröffnet hatte, in dessen angrenzendem Café es leckeren Kuchen und deftige belegte Brote gab.

Als Schutzengel Sulo Auvinen Fräulein Nuutinen dabei beobachtete, wie sie zwischen den Bücherregalen hantierte, beschloss er, die günstige Gelegenheit zu nutzen und sie wieder nach Lieksa zu befördern. Gabriel hatte doch wohl recht gehabt, es war nicht Aufgabe eines Schutzengels, den ihm anvertrauten Menschen zu verkuppeln. Sulo gestand sich ein, dass er einen gedankenlosen Fehler gemacht hatte, als er das Fräulein von Lieksa nach Helsinki gelockt hatte, damit sie Aaro bezirzte. Zwar war sie in jeder Hinsicht die perfekte Kandidatin für eine Partnerschaft, aber weil Aaro ihrem Charme nicht erlegen war, war es besser, das ganze Vorhaben rückgängig zu machen. Der alte Engel drang ins Unterbewusstsein des Fräuleins ein und flüsterte ihr zu, dass es vielleicht Zeit wäre, nach Hause zurückzukehren.

Seine Vorschläge kamen nicht an. Fräulein Nuutinen lehnte diese Überlegungen rundweg ab. Es kam gar nicht infrage, dass sie Aaro aufgab. Obwohl der Engel mit aller Kraft bei ihr Stimmung gegen den Mann zu machen versuchte, konnte er nichts bewirken. Es kam zu einem Kampf der Geister, dessen Ergebnis es war, dass Aaro Korhonen dem Fräulein nur noch begehrenswerter erschien.

Sulo Auvinen konnte jedoch unmöglich klein beigeben. Die Vertreibung Fräulein Nuutinens betrachtete er als Herausforderung, die er auf alle Fälle zu bestehen gedachte, koste es, was es wolle. Er würde sich nicht von einer gewöhnlichen Sterblichen bezwingen lassen. Außerdem erschien ihm Viivi inzwischen, wenn er es ganz neutral betrachtete, doch als die geeignetere Partnerin für Aaro, mochte sie auch jung und offenkundig weltlich sein.

Sulo Auvinen grübelte den ganzen Tag darüber nach, mit welcher Methode er Fräulein Nuutinen aus der Mechelininkatu ausräuchern könnte. Am Abend stand sein Plan. Bei Einbruch der Dämmerung flog der Schutzengel durch Töölö und hielt Ausschau nach einem passenden jungen Burschen, den er auf Ritva Nuutinen hetzen konnte, damit er ihr Angst einjagte. Dann würde sie bestimmt ihre Koffer packen und nach Nord-Karelien zurückkehren.

Aus der Vogelperspektive sieht man mehr als von der Straßenebene aus, und so entdeckte Sulo Auvinen auf seinem halbstündigen Gleitflug mehrere geeignete Kandidaten. Seine Wahl fiel auf einen etwa zwanzigjährigen Schmierfinken, der gerade die Mauer hinter dem Nationalmuseum mit der Sprayflasche bearbeitete. Jani Vottonen trug zerfetzte Hosen mit Hängearsch im Stil eines Hip-Hoppers und ein verschwitztes kurzärmeliges Hemd, auf dem Oberarm hatte er geschmacklose Tätowierungen und in der Nase ein ekliges Piercing. Er stank nach Schweiß und purem Dreck. Genau das richtige Ferkel, dachte der Schutzengel zufrieden. Diesen Typen würde nicht mal Fräulein Nuutinen ertragen.

Für Sulo Auvinen war es eine Kleinigkeit, sich den Auserwählten mittels Gehirnwäsche zum Gehilfen zu machen. Auf der Stelle schoss es diesem durch den Kopf, nach Töölö zu gehen, zum Beispiel in die Mechelininkatu, um alte Weiber zu erschrecken … Es war wie ein innerer Zwang, der Bursche wunderte sich selbst darüber, aber die Sache reizte ihn, es erschien ihm viel spannender als das übliche Verunstalten öffentlicher Anlagen und Plätze. Zielstrebig machte er sich in Richtung Töölö auf, wandte sich zuvor aber noch einmal um und sprühte seine persönliche Signatur sowie eine Verwünschung der ganzen Menschheit unter sein Gemälde auf der Mauer. Dann betrachtete er sein Werk und verließ zufrieden lächelnd diesen Ort künstlerischen Schaffens. Der Schmierfink trabte sodann zur Mechelininkatu. Ganz automatisch landete er in jenem Viertel, in dem sich Aarettis antiquarisches Büchercafé befand. Im Schaufenster lagen alter Krempel, pfui Deibel, und haufenweise alte Bücher, uninteressanter ging es nicht mehr. Der Bursche sprühte dicke Hieroglyphen an die Scheibe und beschloss dann, wie von Gott geleitet, im Haus für noch viel mehr Unruhe zu sorgen. In seinem Kopf brannte nur ein Gedanke: Verpiss dich nach Lieksa, verfluchte Alte, und zeig nie wieder deine blöde Fresse in dieser Gegend! Er musste richtig lachen und fragte sich, wie er auf diese Schimpfkanonade gekommen war, jedenfalls klang sie toll.

Jani drückte aufs Geratewohl auf einige Klingelknöpfe am Aufgang A, und bald schnarrte das Schloss. Immer noch ohne genaueren Plan trat er in den Fahrstuhl und fuhr in die oberste Etage. Dort musterte er die Namensschilder an den Wohnungen: Haartmann, Salonen, Korhonen, Starck. Wie wäre es mit Korhonen?, sagte sich Jani und klingelte. Es war bereits Nacht, sodass er mehrmals auf den Knopf drücken musste, ehe sich die Tür einen Spaltbreit öffnete und eine Frau in mittleren Jahren, mit einem Nachthemd bekleidet, herausschaute. Genau das richtige Opfer, entschied Jani und schrie ihr ins Gesicht:

»Verpiss dich nach Lieksa, verfluchte Alte, und zeig nie wieder deine blöde Fresse in dieser Gegend!«

Um den Effekt noch zu steigern, spuckte er Fräulein Nuutinen ins Gesicht. Das war zu viel für die mitten aus dem Schlaf gerissene Lehrerin. Sie packte den Strolch am Kragen und schleuderte ihn gegen die gegenüberliegende Wand, dass es nur so krachte, anschließend riss sie ihn an der Gurgel wieder hoch, klatschte ihm mit den Händen auf beide Wangen und zwang ihn vor der Tür in die Knie. Nun zog sie sich in ihren Flur zurück, nahm Anlauf, kam wie der Blitz zurück und trat Jani so kräftig in den Hintern, dass er schreiend auf den Fahrstuhlschacht zusauste und sicher noch manchen weiteren Meter zurückgelegt hätte, wäre er nicht von der scheppernden Gittertür aufgehalten worden. Weinend und Rache schwörend schleppte sich der jämmerliche Held zur Treppe. Dorthin mochte ihm Fräulein Nuutinen nicht mehr folgen.

Schutzengel Sulo Auvinen beobachtete den Kampf voller Entsetzen. Wieder war ein gut gemeinter Plan völlig in die Binsen gegangen. Das Fräulein war tatsächlich eine harte Nuss! Einerseits konnte er nicht umhin, sie zu bewundern, doch machten ihm solche Auftritte auch Angst. Falls sich die Nuutinen endgültig für ein Zusammenleben mit Aaro Korhonen entscheiden sollte, würden für den Mann schwere Zeiten anbrechen.

Jani Vottonen humpelte durch die Mechelininkatu. Er reckte die Fäuste zum Obergeschoss des bewussten Hauses.

»Ich schwöre, dass ich bald das ganze Viertel abfackeln werde, verfluchte Scheiße.«

Diese Worte sorgten dafür, dass die Sorgen des Schutzengels noch weiter anwuchsen.