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AMALIAS UND ELSAS
LEBENSENDE
IN DEUTSCHLAND
Das nächstgelegene Montagewerk von Mercedes-Benz befand sich in Stuttgart, wohin Aaro Korhonen von unterwegs telefonischen Kontakt aufnahm. Er teilte mit, dass er und sein Kollege zu Untersuchungszwecken anreisten, sie wollten die Konkurrenzfähigkeit von Volvo und Mercedes bei Begräbnisfahrten prüfen, und er hoffe, dass das Autowerk dem Vorhaben mit dem gebührenden Interesse begegne. Weiter führte er aus, dass er den finnischen Bestattungsunternehmer Lindell vertrete, der sich den Ruf des Marktführers in den nordischen Ländern erworben habe und der gute und gemäßigte Geschäftsprinzipien zu schätzen wisse. Wenn also das Fahrzeug den Erwartungen entspreche, könne man eventuell handelseinig werden.
Aus Stuttgart bekam er die Antwort, dass man die Gäste gern im Werk begrüßen werde. Leichenwagen blickten dort auf eine Tradition seit 1890 zurück. Aaro verkniff sich einen makabren Scherz über jüngere, in die Geschichte eingegangene Leichentransporte, z.B. die in Konzentrationslagern.
Oskari Mättö holte die Trauerflagge ein und drückte auf die Tube. Der Volvo seufzte aus all seinen sechs Gaskehlen und beschleunigte umgehend auf zweihundert. Aaro studierte die Landkarte, und zum Abend erreichten sie Stuttgart, wo sie Hotelzimmer bezogen. Am Morgen machten sie sich auf den Weg, einen Mercedes zu kaufen.
»Für gewöhnlich lassen wir die Ausstattung unserer Spezialfahrzeuge in den Abnehmerländern vornehmen, aber in Ihrem Fall machen wir gern eine Ausnahme. Beim Bau von Leichenwagen haben wir überzeugende Erfahrungen, und ich glaube nicht, dass man Ihnen in Helsinki einen ebenso ausgefeilten Service bieten kann wie wir hier in Stuttgart.«
Heinz Schafenstein – der Chef für Produktentwicklung bei Spezialfahrzeugen in den Mercedes-Benz-Niederlassungen von Mitteleuropa – hieß die Vertreter des Bestattungsinstituts Lindell herzlich willkommen. In seinem Arbeitszimmer gab es heiße Bratwürste, Sauerkraut und starkes deutsches Bier. Man kam auf den Anlass des Besuches zu sprechen. Schafenstein stellte das derzeit im Angebot befindliche Modell detailliert vor. Es konnte seiner Meinung nach sehr gut mit dem entsprechenden Modell der schwedischen Marke Volvo konkurrieren. Es hatte ein Automatikgetriebe, versehen mit Schneckenkriechgang, wie er scherzhaft formulierte, die Sarglafette hatte sich bei vielen Tausend Begräbnissen bewährt, und sie glitt problemlos hin und her wie die Stimmung einer Frau, bewahrte aber ihren Halt mindestens ebenso gut wie der Kampfsattel der einstigen Hakkapeliten oder Mongolen. Die schwarze Außenlackierung war mit Ebonit behandelt, der Wagen glänzte nicht unnötig, sondern vermittelte einen ruhigen, fast andächtigen Eindruck.
Alle drei gingen nach draußen, um das Fahrzeug in Augenschein zu nehmen. Auch Aaro Korhonen kannte sich inzwischen mit der Qualitätskontrolle von Leichenwagen aus. Er zog die Hecktüren auf und legte sich auf die Sarglafette. Oskari und Heinz konnten so feststellen, dass selbst ein Mensch von 2,20 Metern Körpergröße mit Sarg und allem Drum und Dran ins Fahrzeug passen würde. Auch die entsprechende Breite war vorhanden. Selbst wenn der Tote hundertfünfzig Kilo wiegen würde, Platz war genug.
Mitten in diesen wichtigen Tests surrte Oskaris Mobiltelefon. Im Display tauchte eine kurze Textnachricht auf: Auf der Rückfahrt von Berlin müsstet ihr eine verstorbene Finnin mitnehmen, Hilkka Pöntinen, die Sekretärin der Finnisch-Deutschen Gesellschaft weiß Näheres. Ist der Mercedes gut? Gruß Lindell.
Aaro und Oskari prüften sorgfältig, ob die Gleiträder der Sarglafette im deutschen Fahrzeug stabil genug waren. Das war der Fall, die Räder brauchten nicht ausgetauscht zu werden. Oskari holte den Volvo, den sie auf der Straße geparkt hatten, und stellte ihn neben den Mercedes. Prachtvolle Autos! Man war glatt versucht zu sagen, dass es sich zu sterben lohnte, wenn man mit solchen Limousinen auf den Friedhof kutschiert wurde. Heinz interessierte sich für die Fahnenstangenautomatik am Volvo. Der Mercedes war noch mit der herkömmlichen, von Hand zu bedienenden Vorrichtung ausgestattet, aber womöglich würde schon bei der nächsten Generation Toter auch die deutsche Autoindustrie jene zweifellos vorzügliche schwedische Erfindung anwenden.
Als Mann mit Bildung sprach Aaro Korhonen gut deutsch. Er sagte das Offizielle, ähnlich wie Oskari in Torslanda.
Heinz Schafenstein war gerührt über das Stilgefühl seiner Kunden. Die Zahl- und Registrierformalitäten beanspruchten nur wenige Minuten. Verabschiedet mit herzlichem Händedruck stiegen die Finnen ein, und zwei prachtvolle Fahrzeuge setzten sich schaukelnd gen Berlin in Bewegung. Die starken Motoren schnurrten aus purem Wohlbehagen darüber, dass sie Gelegenheit bekamen, die edlen schwarzen Leichenkutschen auf die Autobahn zu bringen. Oskari fuhr den Mercedes, Aaro den Volvo. In Bonn tauschten sie, und bald waren sie auch schon in Berlin.
In der finnischen Kolonie in Berlin herrschte tiefe Trauer. Die Witwe Amalia Karhunen, eines der Gründungsmitglieder der Freundschaftsgesellschaft, war gestorben. Auf ihren eigenen Wunsch hin und mithilfe der beträchtlichen Geldmittel, die laut Testament vorhanden waren, sollte sie nach Finnland überführt werden und in der Heimaterde in Keikyä ihre letzte Ruhe finden. Der Sarg war bereits besorgt, der Totenschein ausgestellt, und einen Pass brauchte sie nicht mehr. Ein Frachtbrief genügte.
Es gab noch einen zweiten Grund zur Trauer. Amalia Karhunens gute Freundin Elsa Suhonen lag im katholischen Krankenhaus von Berlin im Sterben, und auch sie sollte zum Friedhof nach Keikyä geschafft werden. Nur leider lebte Elsa noch, war allerdings hirntot, und vermutlich würde sie in allernächster Zeit hinscheiden. Hilkka Pöntinen, die Vizevorsitzende der Gesellschaft, fragte die beiden Männer, ob sie es möglich machen könnten, so lange zu warten, bis Elsa tot wäre und man die entsprechenden Dokumente ausgestellt hätte. Eine Obduktion wäre wohl kaum erforderlich, und so könnten denn die sterblichen Überreste beider Freundinnen mit Stil und Würde ins Heimatland überführt werden.
»Im Bestattungsinstitut Lindell sagte man mir, dass Sie zwei Leichenwagen zur Verfügung haben.«
»Ja, stimmt, und beide nagelneu«, prahlte Oskari.
Hilkka Pöntinen bewaffnete sich für den Gang ins katholische Krankenhaus mit einem Kerzenständer und zwei blauen Kerzen, die sie am Bett der Patientin entzündete, dann bat sie das Personal, den Raum für einen Moment zu verlassen. Sie beugte sich übers Bett der künftigen Toten, zog die Schläuche aus dem Körper der alten Frau und blickte auf den Monitor. Dort zeigte sich anstelle der schwachen Herzkurve ein gerader Strich.
»Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende«, konstatierte sie kühl realistisch.
Der Tod war eingetreten. Es war ein erhabener Augenblick, Aaro und Oskari räusperten sich schweigend. Hilkka fragte, ob einer der Männer eine passable Singstimme habe, damit man gemeinsam einen Choral summen könnte. Keiner der beiden mochte das von sich behaupten, aber als Hilkka mit leiser Stimme das Lied O Welt, ich muss dich lassen zu singen begann, stimmten Oskari und Aaro mit ein. Der behandelnde Arzt kam herein und gab den trauernden Finnen die Hand.
»Mein Beileid, eine Obduktion ist nicht erforderlich, die Papiere sind bereits seit zwei Wochen fertig.«
Es dauerte seine Zeit, bis der Leichnam erkaltet war und bis man ihn hergerichtet hatte. Nach drei Tagen konnten die Männer die Rückreise antreten. Die Särge wurden eingeladen, Aaro nahm den Mercedes, Oskari den Volvo. Sie verließen Berlin und steuerten Dänemark an. Lindell teilten sie mit, dass sie nach der Ankunft in Finnland zunächst die Verstorbenen nach Keikyä bringen würden, sie wären dann in drei Tagen zurück. Lindell bedankte sich, daheim in Finnland warteten bereits sechs neue Tote.