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SULO AUVINEN
ZUM RAPPORT
BEIM ENGEL GABRIEL
Sulo Auvinen flog betrübt zum Himmel nach Kerimäki. Er musste sich beim Engel Gabriel melden, das wusste er, und ihn schauderte davor. Das Wetter empfand er als äußerst widrig, obwohl er über große Flügel und gute Flugkünste verfügte. Ihm stand ein Rapport über vermasselte Schutzaufgaben und womöglich irgendeine Strafe bevor, wer weiß welche – zumindest aber ein Gesichtsverlust, und der wog im Himmel schwerer als auf Erden. Ein Engel kann schließlich keinen Selbstmord begehen.
Sulo Auvinen war frühmorgens vom Innenhof des Marienkrankenhauses zu seinem Flug gestartet, aber er kam erst gegen Abend am Ziel an. Er hatte ein paar Denkpausen eingelegt, und so hatte sich die Reise in die Länge gezogen. Sulo hatte einfach keine Lust, dem Engel Gabriel höchstpersönlich gegenüberzutreten und sich von Hochwürden abkanzeln zu lassen. Gern hätte er die Reise abgebrochen und wäre zu seiner irdischen Wanderung, zum Leben, zurückgekehrt. Aber Toten bleibt keine Wahl, nicht mal jenen, die zu Engeln befördert worden sind. Sulo war gezwungen, seinen schweren himmlischen Weg fortzusetzen.
Unsicher landete er vor der Kirche von Kerimäki. In dem seltsamen gelblichen Licht des Sommerabends glühte der größte Balkentempel der Welt in sämtlichen Ockerfarben, genau wie die untergehende Sonne. Überall schwärmten Engel herum, manche saßen, die mächtigen Flügel ausgebreitet, auf dem Dach des Glockenturms, ein paar kauerten auf der steinernen Einfassung des Friedhofs, andere wiederum eilten zwischen Kirche und Vorplatz hin und her und erledigten verschiedene Dinge. Es waren mehr als zweihundert, wie ein flüchtiger Blick ergab, und weitere befanden sich in der Kirche. Sulo Auvinen landete inmitten dieses ganzen Gewimmels und fragte äußerlich ruhig, ob jemand melden könne, dass er zum persönlichen Rapport beim Engel Gabriel erschienen war.
Als Neuling im Himmel hatte Sulo geglaubt, dass er tatsächlich mit dem Erzengel höchstpersönlich zu tun haben würde, aber das war zum Glück nicht der Fall. Stattdessen führte man ihn ins Innere des Gebäudes und dort auf die stattliche Orgelempore, wo ihn ein jung aussehender, keck wirkender Engel erwartete, der ein vernarbtes Einschussloch auf der Stirn hatte und ein rotes Muttermal am Hals, unmittelbar am Flügelansatz. Sulo Auvinen meldete sich zum Rapport, und sein Gegenüber stellte sich vor:
»Gabriel. Willkommen Sulo. Dein Flug verlief hoffentlich gut.«
Rasch stellte sich heraus, dass es im Himmel mindestens Tausend Engel mit dem Namen Gabriel gab, und dieser war einer von ihnen. Er erzählte, dass er für Sulo Auvinen schon zu dessen Lebzeiten zuständig gewesen sei und diese Aufgabe im Himmel fortführen würde. Er habe bereits als Sulos Schutzengel sein Bestes getan. Der unwiderlegbare Beweis dafür sei, dass Sulo ein relativ tadelloses und langes Leben geführt habe und jetzt in die Schar der Engel aufgenommen worden sei.
Erleichtert erzählte Sulo Auvinen, dass er ganz unerwartet mitten aus seiner Arbeit heraus nach Kerimäki beordert worden sei.
»Tja …, die Dinge sind nicht ganz so gelaufen, wie ich erwartet hatte.«
»Das tut mir sehr leid, dabei habe ich mein Bestes getan.«
»So ist es eben …, wer von uns wäre schon vollkommen«, murmelte der Engel Gabriel. »Aber kommen wir zur Sache. Du hast ziemlich talentiert gepfuscht.«
Auf der Orgelempore erschien ein junger Kanzleiengel, der vortrug, was Sulo Auvinen bewirkt hatte: Sein Schützling hatte während der kurzen Frühlingsperiode mehrere Unfälle gehabt, dabei drei Gehirnerschütterungen in Folge erlitten, hatte es mit weltlichen Polizeibeamten zu tun bekommen und war überreichlich mit Frauen gesegnet, all das in sehr kurzer Zeit. Ein schrottreifer Leichenwagen, ein zweiter blutverschmiert, ein halbtotes junges Mädchen mit einer Schädeloperation …
»Und dann hast du diesem Verwalter aus eigenem Antrieb eine Frau besorgt. Wie der schlimmste Zuhälter. Als gestandener Mann in mittleren Jahren wird der Korhonen so etwas ja wohl noch allein schaffen.«
Sulo Auvinen verteidigte sich mit der Bemerkung, dass die Serviererin in der Mechelininkatu aus seiner Sicht zu jung und weltlich sei. War es nicht sinnvoll, dass man sich auch in Heiratspläne rechtzeitig einmischte?
Gabriel erklärte kühl, dass es nicht Aufgabe der Schutzengel sei, sich in das Liebesleben der Menschen einzumischen, das sollten sie unter sich regeln. Und außerdem: Was war aus Sicht eines Mannes falsch an einer jungen Frau? Sulo Auvinen gab zu bedenken, dass eine reife und unverheiratete Frau eher geeignet war, dem Mann, der stets anfällig für sündige Versuchungen war, in den Stürmen des Lebens Schutz und Schirm zu bieten.
Darauf sagte Gabriel, dass Sulo jederzeit von seiner Funktion als Schutzengel zurücktreten könne, wenn er der Meinung sei, dass sie ihn überfordere. Niemand werde ihn dafür tadeln. Im Grunde genommen wäre diese Lösung wahrscheinlich die beste für alle Beteiligten.
Sulo Auvinen bettelte und flehte, dass er weitermachen, es noch einmal versuchen dürfe.
»Nun, beten kannst du … als Religionslehrer. Wann bist du noch gleich gestorben?«
Sulo Auvinen berichtete, dass er vor vier Monaten an Lungenentzündung gestorben sei, zum Schluss sei das Fieber auf 41,3 Grad gestiegen. Er sei nach seinem Tod unsagbar glücklich gewesen, da er von seinen Qualen erlöst war, und besonders, da ihm ein eigener Schützling anvertraut worden sei.
Der Engel Gabriel erwähnte, dass er selbst bereits 1939 an der Front von Suomussalmi gestorben sei.
»Wir dürften etwa gleichzeitig zur Welt gekommen sein, warst du nicht bei deinem Tod zweiundachtzig Jahre alt? Ich wurde 1919 in Kuusamo geboren, und als ich starb, war ich zwanzig. Im Februar 1940 wäre ich einundzwanzig geworden, hätte man mich nicht in Suomussalmi erschossen.«
Sulo Auvinen regte die Flügel. Konnte es wahr sein, dass der Engel Gabriel im finnischen Winterkrieg gekämpft hatte und dort gefallen war? Er sagte, dass er 1922 geboren worden sei, worauf Gabriel konstatierte, dass es also doch einen Unterschied von zwei, drei Jahren hinsichtlich des Geburtsjahres gebe, obwohl Sulo sechzig Jahre älter sei.
»Ich bin tatsächlich schon länger als sechzig oder siebzig Jahre tot. So verrinnt die Zeit. Man registriert es hier im Himmel nicht so wie einst zu Lebzeiten als junger Mensch.«
Gabriel äußerte sich lobend darüber, dass Sulo seinem Familiennamen bemerkenswert treu geblieben war, weil er sich auch im Himmel wieder Auvinen nannte, so wie einst auf seinem irdischen Lebensweg. Er selbst, so sagte er, habe sich einst dazu nicht in der Lage gesehen, aber er habe seine Gründe dafür.
Der Engel fuhr fort, dass er im Himmel wohl für etliche Lacher gesorgt hätte, wenn er hier offiziell seinen einstigen Namen weitergeführt hätte.
»Ja, und wer warst du, damals zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts?«
»Ich war Kalle Määttä und bin es irgendwie immer noch, wenn ich natürlich auch schon seit Jahren tot bin.«
Sulo überlegte, wie sich »Engel Kalle Määttä« anhören würde, und fand, dass es jedenfalls nicht sehr fromm und zumindest bibelhistorisch gesehen nicht gerade seriös klang.
»Bedenke, dass ich in einem laestadianischen Elternhaus groß geworden bin, unsere Familie war sehr fromm. Jetzt im Nachhinein und kühl betrachtet, sind die Määttäs natürlich ebenso gute und wunderbare Engel wie andere, also zum Beispiel all die Gabriels und so weiter. Aber zweifellos weckt »Erzengel Määttä«, nur mal als Gedanke, zumindest unter den sündigen Spottdrosseln kein sehr großes Vertrauen.«
Gabriel erzählte, dass es seines Wissens im Himmel mindestens Tausend Gabriels und Tausende heilige Petrusse und andere gab, das war Fakt. Auch er selbst hatte sich schon zu Lebzeiten daran gewöhnen müssen, dass in seiner Heimatgegend Tausende Leute desselben Namens lebten, obwohl Kuusamo, Posio und Taivalkoski damals sehr kleine Kirchspiele gewesen waren. Bei einer der Einwohnerzählungen war man im Bezirk Koillismaa auf mehr als tausendzweihundert Määttäs gekommen, davon hundertvierundsechzig Kalle Määttäs. Und dazu noch die Lämsäs, auch davon gab es Hunderte.
»In Kuusamo beinhaltet das Dutzend zehn Määttäs und an den Enden je einen Lämsä«, witzelte der Engel Gabriel trocken.
Sulo Auvinen fasste sich ein Herz und äußerte, dass das himmlische Dutzend dann wohl aus zehn Gabriels und an den Enden je einem heiligen Petrus bestand.
»Tja«, konstatierte der ehemalige Kalle Määttä, jetzt wieder in offiziellem Ton. »Tja, aber nun zu dir. Wir haben hier den Verdacht, dass du unsere Vorgehensweise nicht recht begreifst, obwohl du Religionslehrer und dazu noch ein alter Mann bist. Als Schutzengel bist du ein Anfänger und ein wahrer Tölpel.«
Wenn Sulo Auvinen weiter als Aaro Korhonens Schutzengel tätig sein wolle, müsse er einen neuen Aktionsplan erstellen, erklärte Gabriel. In Kleinigkeiten solle er sich gefälligst nicht mehr einmischen. Aaro Korhonen sei ohne Weiteres imstande, allein mit seinen wenigen Problemen fertigzuwerden. Sulo müsse sich auf die großen Zusammenhänge konzentrieren. Falls er den Mann in beschützerischem Sinne vor Herausforderungen stellen wolle, die Schwung in sein Leben bringen würden und es ideell bereichern sollten, so müssten das groß angelegte Projekte sein und nicht irgendwelcher kleiner Murkskram, wie er ihn bisher initiiert habe.
Sulo sollte also ein neues Schutzprogramm entwickeln, und er bekam auch gleich die nötigen Vorgaben. Zuallererst musste er aufhören, die Frauengeschichten seines Schützlings regeln zu wollen. Auch in wirtschaftlichen Fragen sollte er überlegt vorgehen und nicht pfuschen wie bisher. Wenn er das Konto des Mannes mit Geld versorgte, musste auch ersichtlich sein, woher es kam, jedenfalls sollte nicht der Eindruck entstehen, dass es aus der Luft oder vom Himmel gefallen war.
Gemeinsam besprachen sie noch viele weitere Details, und Sulo Auvinen versuchte sich alles einzuprägen. Er zeigte sich unbedingt kooperativ, was der Engel Gabriel zufrieden registrierte.
Zum Schluss wurde die Unterhaltung lockerer und drehte sich, wie bei männlichen finnischen Engeln üblich, um alte Kriegszeiten. Gabriel erzählte, dass er im Winterkrieg in Suomussalmi im Fahrradbataillon 6 (PP6) gekämpft habe. In diesem Bataillon seien viele Männer aus Kuusamo und Posio gewesen. Es sei der Gruppe Wolf unterstellt gewesen, die von Oberstleutnant Paavo Susitaival, dem älteren Bruder des berühmten Selbstmörders Bobi Sivén, kommandiert worden sei. Die Kämpfe seien hart, aber siegreich gewesen. Ein bisschen so wie weiter südlich an der Straße nach Raate.
Sulo Auvinen erwähnte, dass er in Helsinki beim Luftschutz und später im Lappland-Krieg in einer Luftabwehrbatterie gekämpft habe. Er habe alles heil überstanden, habe sich lediglich oben im Norden Rheuma eingehandelt. Vom Rang her sei er Leutnant.
»Herr Leutnant! Unteroffizier Määttä meldet sich zur Stelle!«, brüllte der Engel Gabriel und lachte gleich darauf schallend.
Zum Abschluss des Rapports bewilligte er Sulo Auvinen einige Tage Urlaub und wünschte ihm, dass er bei der Betreuung seines Schützlings mehr Glück als bisher haben möge. Sulo wollte noch wissen, woher das Loch in Gabriels Stirn und das große Mal an seinem Hals stammten. Der Engel sagte ernst:
»Das hier am Hals ist ein Geburtsmal, und das andere ist ein Todesmal, ein Einschussloch, Volltreffer eines russischen Scharfschützen. «
Unteroffizier Määttä erzählte noch, dass nach seinem Tod ein Spähtrupp aus seiner Kompanie, geführt von Korporal Lämsä, eben jenen Scharfschützen namens Leontjew gefangen genommen hatte. Er war im Herbst 1941 im Kriegsgefangenenlager von Kuhmo verhungert.
»Ein scharfer Kerl. Weilt meines Wissens heute im Himmel der Russen. Lämsä lebt noch, röchelt dem Vernehmen nach in der Bettenabteilung des Gesundheitszentrums von Kuusamo vor sich hin. Ich schätze, dass er spätestens im Herbst stirbt und hier zu uns in den Himmel kommt.«