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NORDISCHE STIMMUNG
AM LAGERFEUER

 

Die Versicherung holte den Leichenwagen ab. Viivi verfrachtete die Bücher und die beiden Männer nach Helsinki. Auch Aaros Gehirnerschütterung besserte sich, und so konnten sie gemeinsam darangehen, ihr Antiquitätengeschäft mit Antiquariat einzurichten. Oskari trug Hilma Väisänens Bücher und alten Möbel nach unten ins Erdgeschoss. Aaro putzte die Schaufenster und arrangierte hinter den Scheiben einige Bücher, die ihm in die Hände gefallen waren und von denen er annahm, dass sie die Passanten interessierten: Kaarina Karis Die Eroberung von Halt (Kisakalliostiftung 1978), Stig Jägerskiölds Gustav Mannerheim 1906-1917 (Otava 1965), Katriina Jauhola-Sorjonens Sibeliushaus (Edita 2000), mehrere Pekka Lipponens und Kalle-Kustaa Korkkis aus der Outsider-Reihe sowie Michail Bulgakows Der Meister und Margarita (WSOY 1968).

Schutzengel Sulo Auvinen sah seinem Schützling beifällig lächelnd beim Dekorieren zu. Wie wahr!, dachte er triumphierend beim Anblick von Bulgakows Buch, der Satan hatte seinen Job in Moskau so ungemein gründlich erledigt, dass das ganze damalige System an seiner eigenen Unmöglichkeit zugrunde gegangen war. Zum Glück war jetzt eine neue Zeit angebrochen, und der Satan hatte keinen Platz mehr in Europa, jedenfalls nicht in Helsinki, wo neuerdings die Engel herrschten. Sulo Auvinen war nach Helsinki gekommen, sagte sich der ehemalige Religionslehrer zufrieden.

Viivi eröffnete das Café ohne Genehmigung, die Kuchen und Torten bezog sie von Ahlenius in der Merikatu, dem besten Zuckerbäcker der nordischen Länder.

Aaro Korhonen hatte das Gefühl, das Ziel seines Lebens erreicht zu haben. Ruhe und Glück, was will der Mensch mehr. Er saß im Café und las die neueste Nummer der Zeitschrift Bibliophilos, die einen interessanten Artikel über die Fische und Vögel der Renaissancezeit enthielt. Sein Leben war jetzt mehr als vollkommen, zumal ihm Viivi Honigtee und einen frischen Pfannkuchen servierte.

Nur der Schneeregen, der zum finnischen Frühling gehört, verdarb ein wenig die Stimmung, aber das war rasch korrigiert. Der Schutzengel wischte die Wolken vom Himmel und ließ die Sonne scheinen.

»Aaretti, uns geht es richtig gut, nicht wahr?«, sagte Viivi Ruokonen.

»Stimmt. Auch die Gehirnerschütterung lässt nach.«

Viivi betrachtete Aaro, der seinen Pfannkuchen kaute. Ein netter Mann, wenn auch ziemlich alt, schon vierzig, schade. Doch was bedeuteten letztlich die fünfzehn Jahre Altersunterschied? Die Männer starben sowieso vor ihren Frauen, was also machte es da aus, ob man fünf Jahre früher oder später Witwe wurde. Plötzlich waren ihr diese seltsamen Gedanken peinlich, und sie ärgerte sich über sich selbst. Was hatte sie sich in die Angelegenheiten fremder Menschen einzumischen! Aber die Anwesenheit des Mannes ließ ihr keine Ruhe. Sie fragte ihn, ob er tatsächlich richtige Bücher geschrieben hatte. Er sah ihr verwundert in die Augen, wurde dann rot und erzählte schnell, dass er einfach nur so zum eigenen Vergnügen die Geschichte seiner Heimatgegend, eine Art belletristischer Rückschau auf die einzelnen Epochen der Einödgemeinde Savukoski, schreibe.

»Eine Chronik mehr oder weniger. Wahrscheinlich kommt sowieso nichts dabei heraus, diese ganze Schreiberei ist doch ziemlich kompliziert.«

Viivi dachte im Stillen, dass er vermutlich klüger daran getan hätte, Verwalter der Pellet-Fabrik zu bleiben, das Einkommen wäre sicherer gewesen. Wo lag dieses Savukoski überhaupt? Wohl irgendwo im Norden.

»Hast du schon viel Text fertig, darf ich darin lesen?«

Aaro Korhonen erhob sich behände und eilte nach oben, um seine Mappe zu holen, dann packte er einen Stapel Manuskriptseiten auf den Tisch. Viivi beugte sich hinunter und las das Titelblatt:

Savukoski. Das Leben eines Einöddorfes vom Mittelalter bis ins dritte Jahrtausend, Verfasser A. Korhonen.

Aaro erzählte schüchtern, dass er an den Anfang der Handlung eine Szene mit einem Savukoskier Bärenjäger gestellt habe, eine Art Stimmungsbild von der Atmosphäre am Lagerfeuer in einem Frostwinter irgendwann in den 60er-Jahren.

»Damals wurde ich zwar gerade erst geboren, aber in Büchern darf man ja wohl schreiben, was man will«, erklärte er mit verlegenem Eifer. Dann las er Viivi ein paar Auszüge vor, in denen der Großwildjäger Albert Ikäheimo, genannt Ikä-Alpi, in seinem Winterlager hantiert.

 

Alpi zerhackt einen Kloben und schnitzt aus dessen trockenem Inneren dünne Späne, sogenannte Spreißel. Als er genügend beisammenhat, sammelt er sie auf und steckt sie in eine Ritze zwischen den Kieferkloben. Nun zündet er die Spreißel an, die Flammen greifen allmählich auf die Kloben über, und sie verkohlen. Das Lagerfeuer ist entzündet – Alpi beabsichtigt, draußen an einem vereisten Bach im Tal des Pöytesvaara zu übernachten.

 

»Solche Stimmungsbilder sagen dir wahrscheinlich nichts?«, fragte er Viivi. Sie bat ihn weiterzulesen, obwohl sie sich tatsächlich nicht sonderlich für den Bärenjäger von anno dunnemals interessierte.

 

Alpi holt Brot und getrocknetes Rentierfleisch aus seinem Rucksack. Er schneidet von dem Brot dünne Streifen ab, die er abwechselnd mit dem Rentierfleisch verzehrt. Der Kessel ist heiß: Alpi schneidet mit der Spitze seines Dolches eine Kaffeepackung auf, schüttet nach Augenmaß Kaffee in das siedende Wasser, dann nimmt er den Kessel vom Feuer, damit sich der Kaffee setzt.

 

Aaro war so eifrig bei der Sache, dass er aufstand und eine richtige Lesung für Viivi veranstaltete, die jetzt konzentriert zuhörte.

 

Die Abendsonne geht langsam unter. Der große Schatten des Pöytesvaara fällt auf Alpis Standort. Die Landschaft verdunkelt sich. Das Feuer glüht rot zwischen zwei Holzkloben. Alpi greift nach dem Kessel und füllt seinen Becher, er schnitzt sich aus einem Birkenreis einen Stab zum Umrühren und genießt in aller Ruhe den heißen, schwarzen Kaffee.

Langsam senkt sich die Nacht über die Einöde. Der Frost verschärft sich und lässt den matschigen Schnee hart und fest werden. Die Landschaft ruht still in der grimmigen Kälte. Überall breitet sich Dunkelheit aus, nur an Alpis Lagerplatz glüht mitten im Dunkeln ein matter roter Schimmer. Das gleichmäßig brennende Lagerfeuer beleuchtet die Umgebung. Alpi legt sich unter sein Schutzdach, die Flammen des Feuers wärmen ihn. Ikä-Alpi hat an die Tausend Füchse, dazu mehrere Wölfe, etwa zwanzig Vielfraße und Luchse sowie achtundvierzig Bären erlegt. Er ist Finnlands mächtigster Raubtierfänger und -jäger.

 

Aaro legte die Manuskriptseiten aus der Hand und blickte durchs Schaufenster auf die Straße. Irgendwie fand er es schön, dass er Viivi seine Ergüsse vorgelesen hatte. Obwohl er das Mädchen kaum kannte, war alles irgendwie ganz zwanglos. Sie schwiegen beide, Viivi kam näher und lachte dann unruhig.

»Heutzutage töten die ›Fuchsmädchen‹ in einer einzigen Nacht tausend Füchse«, sagte sie und streichelte Aaros Haar.

Er erzählte ihr, dass man in Savukoski letzten Sommer Gold gefunden hatte, und zwar im Kies am Ufer des Värriöjoki. Keine großen Mengen, Touristen hatten ein paar kleine Krümel ausgewaschen, aber immerhin.

»Die Gemeinde plant bereits für den Herbst Goldwäscherwettkämpfe oder irgendwelche Kurse. Mich haben sie auch eingeladen, weil ich dieses Buch schreibe. Wäre es nicht großartig, am Fluss Geld zu machen?«

Viivi dachte bei sich, dass sie wohl nicht einfach so mit einem fremden Mann verreisen würde, aber wer weiß.

»Es wäre natürlich toll, reich zu werden. Man müsste einen Klumpen Gold finden, der ein ganzes Kilo wiegt. Was könnte man dann nicht alles kaufen!«

Der Schutzengel hatte Aaro Korhonens Lesung zunächst gleichgültig gelauscht, aber je mehr der Vortragende von der Lagerfeuerstimmung wiedergab, desto mehr wurde Sulo Auvinen für das Thema sensibilisiert. Nach Ende des Vortrags begann er, Tapio Rautavaaras bekannten Erfolgstitel von der Nachtstimmung am Lagerfeuer vor sich hin zu summen. Als Religionslehrer hatte er zwar sein ganzes Leben lang Kirchenlieder gesungen, aber er kannte auch diesen wehmütigen Schlager, an dessen Text er sich gut erinnerte. Sulo war richtig gerührt von seinem eigenen Gesang und hob die Stimme. Dabei dachte er an den im Manuskript erwähnten Jäger Ikä-Alpi, und zum Schluss ließ er seine Stimme in ihrer ganzen Feierlichkeit laut schallen. Zum Glück ist der Gesang der Engel für des Menschen Ohr nicht wahrnehmbar, sonst hätte Sulo Auvinens Darbietung das ganze umliegende Viertel aufgeweckt.

Aaro Korhonen stimmte ganz ungezwungen in den Gesang seines Engels mit ein. Ihm kam Rautavaaras Melodie in den Sinn, und ein tiefer innerer Zwang und der Zauber des Augenblicks ließen ihn laut grölen. Am erstaunlichsten war, dass sogar Viivi, eine junge Städterin, ihre Nase zur Decke emporreckte und mitsang, und sie kannte alle Strophen, obwohl sie den besagten Schlager zuvor noch nie gesungen hatte. Doch es ist ja schon öfter vorgekommen, dass die Menschen unverhofft in einen Engelschor einstimmten.

Dreistimmig, mit zwei für das menschliche Ohr wahrnehmbaren Stimmen, sangen sie:

Ein wärmendes Feuer in Lapplands Nacht,

ich starre in die Flammen …

Zu gegebener Zeit endete die zu Herzen gehende Darbietung. Viivi und Aaro fielen einander lachend um den Hals. Vor allem Viivi wunderte sich, wieso sie diese altmodische Schnulze gesungen hatte, denn sie hatte sie nur einmal vor Jahren im Radio gehört.

»Das Lied ist ja wirklich schön, und dein Buch wird ganz prima, du brauchst nicht mal viel zu korrigieren.«

Von dem hier besungenen speziellen Lagerfeuer, dem Ritzenschein, hatte Viivi als kleines Mädchen stets angenommen, dass damit das durch die Tür- oder Fensterritze eindringende Licht gemeint sei. Ein paar freche Jungen hatten allerdings behauptet, die Frauen hätten zwischen den Beinen einen Ritzenschein … und gewissermaßen schöpft ja daraus auch der Bedürftige nachts Trost, Licht und Wärme.