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AARO SCHLÄFT IM BETT DER VERSTORBENEN
Aaro Korhonen machte eine wütende Runde durch die Helsinkier Ämter. Er äußerte seine Verwunderung darüber, dass ihm für seine neu zu gründende Firma kein Ausschankrecht gewährt wurde und dass sich die Brandschutz- und Hygienebehörden dem Vorhaben widersetzten, obwohl alle Antragspapiere in Ordnung waren. Darüber wunderten sich die Beamten selbst, allerdings nur insgeheim. Sie waren mit Aaro Korhonen einer Meinung, beriefen sich aber flugs auf verschiedene Paragraphen und Bestimmungen, die sie in aller Eile zu ihrem Schutz zusammengetragen hatten. Sie hatten Angst davor, dass sich der Antragsteller über ihr Vorgehen beschweren könnte und dass sie sich für ihre idiotischen Beschlüsse verantworten müssten. Also erklärten sie in der Art des typischen Beamten hochmütig, dass ihm der Beschwerdeweg offenstehen würde, der allerdings lang und teuer wäre und an ihren Entscheidungen voraussichtlich nichts ändern würde. Er täte gut daran, sich zu beherrschen, und vor allem sollte er sich überlegen, welcher Sprache er sich hier eigentlich bediene und wo die Grenze zwischen Kritik und Drohung verliefe. Die Unantastbarkeit des Beamten war in Finnland noch heilig, das müsse auch Korhonen anerkennen.
Heilig, genau so hätte es auch Schutzengel Sulo Auvinen formuliert. Als er Aaro in die verschiedenen Ämter folgte, trübte sich seine Stimmung. Er hatte nur Gutes beabsichtigt, als er sich in das Restaurantprojekt eingemischt und es zu Fall gebracht hatte. Aaro musste doch einsehen, dass er zum Gastwirt, dessen ganzes Sinnen und Trachten darin bestand, entgleiste Sterbliche vollends ins Verderben zu stürzen, nicht taugte? Letzten Endes hatten sich die Dinge zum Guten und Abstinenten gewendet, dass würde Aaro im Laufe der Zeit bestimmt noch selber merken. Trotz alledem beschloss Sulo Auvinen, Aaro irgendwie für die erlittenen Rückschläge zu entschädigen. Vielleicht könnte er ihm eine ansehnliche Summe Geld auf sein Konto transferieren? So etwas ist Engeln immer möglich, im Himmel wird nicht gekleckert. Schließlich ist Geld ein ideeller Wert, und so gesehen sind Geisterwesen ungeheuer reich. Als ehemaliger Religionslehrer entdeckte Sulo Auvinen zum ersten Mal, dass er wirklich große Summen bewegen konnte, und er geizte nicht damit. Hätte er doch nur zu Lebzeiten so hemmungslos mit Geld um sich werfen können! Was hätte er nicht alles anschaffen, was alles unternehmen können … Plötzlich besaß Aaro mehr Geld als Sulo Auvinen während seines ganzen Lebens.
Nach diesem Aufeinandertreffen mussten sowohl der Schutzengel als auch die Beamten in Helsinki erschrocken feststellen, dass ein gereizter Aaro Korhonen ein ernst zu nehmender Gegner war, der nicht so leicht klein beigab. Wenn Aaro dem Beamten in die Augen starrte, musste der auf einmal dringend zur Toilette. Auch der Schutzengel hatte es nicht leicht. Sulo Auvinen musste zugeben, dass er mit seinem Schützling ernsthaft Stress hatte. Mit Aaro war nicht gut Kirschen essen. Er war aus hartem Holz geschnitzt.
Einige Tage später wurde eine Auktion des beweglichen Eigentums von Hilma Väisänen veranstaltet, auf der Aaro Korhonen am höchsten bot. Der Preis war gering, denn die Habseligkeiten und die uralten Möbel der Frau interessierten kaum jemanden.
Aaro hatte noch seine Dienstwohnung in Pietarsaari. Er besaß kaum bewegliche Habe, keine Möbel und auch sonst nicht viel, wenn man von den Büchern absah. So würde sein Umzug keine große Sache sein. Er vereinbarte mit Oskari, der ja ein ehemaliger Umzugshelfer war, dass sie gelegentlich zusammen nach Pietarsaari fahren würden, um die Bücher und die anderen Sachen abzuholen und nach Helsinki zu bringen.
Hilma Katariina Väisänens Wohnung war letztlich sehr hübsch, die Wohnzimmereinrichtung mindestens hundert Jahre alt. In einem der Schlafzimmer standen ringsum an den Wänden Regale, die Unmengen von Büchern enthielten, in Doppelreihen, und in der Ecke prangten zwei Biedermeiersofas, Originale aus dem Jahre 1788, allerdings später neu bezogen, sowie ein kleiner verschnörkelter Tisch und eine Stehlampe. Aaro stellte fest, dass die Lampe von 1919 stammte, sie war aus dem damaligen St. Petersburg auf irgendeine wundersame Weise vor den Stürmen der Revolution nach Finnland gerettet worden. An der Decke des Wohnzimmers schimmerte ein Kristallkronleuchter, bei dessen Anblick Sulo Auvinens Geist vor blankem Neid seufzte. Weder er noch seine Frau waren je in den Besitz einer solchen Kostbarkeit gelangt. Viivi zeigte Aaro die weibliche Sammlung der Verstorbenen im Badezimmer: Lippenstifte, Parfüms von St. Laurent, Tiegel und Döschen zu Dutzenden. Auf den Bügeln im Kleiderschrank hingen seidene Morgenröcke, Pyjamas, ein Abendmantel. Der Fußboden war mit echten Orientteppichen bedeckt.
Das Parkett war erneuert worden, stabiles Riemenparkett, das Viivi einmal pro Monat gebohnert hatte, wie sie sagte. Viele Jahre lang hatte sie Hilma betreut und in ihrem Namen sogar teure Kunstwerke gekauft – Bilder noch und noch, sie lagerten auf dem Dachboden, nummeriert. Zahlreiche Arbeiten von Edelfelt waren darunter, größtenteils gute Kopien, aber mindestens eine oder zwei waren echt. Die Gemälde waren in Wellpappe eingeschlagen, denn man konnte sie ja schließlich nicht in Plastiksäcken aufbewahren.
Die Bibliothek war gut geordnet. Viivi erzählte, dass in den Regalen mehr als zehntausend Bände standen, sie hatte sie vor zwei Jahren gezählt, als sie sie herausgenommen und abgestaubt hatte. Aaro warf einen Blick auf die ledernen Buchrücken: Giuseppe Acerbi, Fenimore Cooper, Johannes Linnankoski, alles Erstausgaben. Auch eine ganze Reihe Raymond Chandler war da, gebunden, ferner eine ledergebundene tschechischsprachige Ausgabe von Tacitus' Jugendwerken sowie Pentti Haanpääs unveröffentlichtes, aber sachkundig gebundenes Manuskript Sumpfwanderungen. Sogar die erste finnischsprachige Ausgabe von Nordenskiölds Tagebüchern war da – und Lars Leevi Laestadius' Bibelübersetzung sowie eine wirkliche Rarität: ein 129-seitiges Handbuch der Naturgeschichte und der Floristik aus dem Jahre 1898.
Viivi verweilte im Badezimmer, wo sie sich mit den Stiften der Verstorbenen die Lippen schminkte. Schönes Endergebnis, das musste Aaro zugeben, aber er vermutete, dass all die Kosmetika inzwischen überlagert waren. Womöglich war das Verfallsdatum längst überschritten.
Viivi erklärte, dass man teure Schönheitspflegemittel von Generation zu Generation weiterbenutzen konnte, sie verfielen nie, sondern waren wie Qualitätsweine.
In diesen Räumen gab es so viele Gegenstände und Bücher, dass Aaro und Viivi damit ein Antiquitätengeschäft mit Antiquariat gründen könnten, und nebenbei könnten sie das Büchercafé betreiben.
»Darf ich kommende Nacht in der Seide schlafen?«
»Von mir aus kannst du sämtliche Kleidungsstücke mitnehmen«, erklärte Aaro.
Als Viivi nach Hause gegangen war, machte Aaro sich sein Lager im Schlafzimmer der alten Frau zurecht. Es kam ihm recht seltsam vor, sich ins Bett einer Verstorbenen zu legen, aber als er ein gutes Buch zur Hand nahm, Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, kam er schnell zur Ruhe, und schon bald schlummerte er selig.
Jetzt war es auch für den Schutzengel an der Zeit, sich zu entfernen. Sulo Auvinen flatterte zur Caloniuksenkatu und warf einen Blick durchs Fenster des vierten Stocks in Viivis Appartement. Die Serviererin drehte sich vor dem Spiegel im seidenen Morgenmantel, der zweifellos eine schöne Hülle für ihren jungen Körper bildete. Als sie sich anschickte, den Mantel auszuziehen, wurde der Engel verlegen und entschwebte in Richtung Hietaniemi-Park, wo er Höhe aufnahm und sich auf eine Nachtwolke bettete, in deren Schutz er bald einschlummerte. Die Vögel schlafen mit dem Kopf unter den Flügeln, die Engel nehmen im Schlaf die Embryostellung ein. Engel sind im Grunde genommen Säugetiere, Vögel sind Vögel.