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SORGLOSER MÜSSIGGANG

 

Der Tod ist in Kuopio immer wieder eine harte Erfahrung, gerade für die lebenslustigen Savolaxer. Für den zweiundachtzigjährigen Religionslehrer Sulo Auvinen bedeutete der Tod allerdings den Beginn eines neuen, beschwingten Daseins. Bevor wir uns Sulo Auvinen und seinen himmlischen Heldentaten zuwenden, begeben wir uns zunächst in die frühlingshafte Hauptstadt.

 

Helsinki erlebte einen herrlichen Morgen zu Beginn des Mai. Die Sonne war bereits aufgegangen, der Park von Hietaniemi erfüllt vom Gesang der Lerchen, die hoch durch die Lüfte schwirrten. Leichten, lässigen Schrittes wanderte Aaro Korhonen in Richtung Mechelininkatu, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Er war jetzt vierzig Jahre alt und befand sich in einem Lebensabschnitt, in dem er keine Pflichten mehr hatte. Er musste nicht zur Arbeit, auch nicht nach Hause, eigentlich nirgendwohin, wenn er keine Lust dazu verspürte. Er konnte sich einfach treiben lassen. Er hatte keinen Zeitplan, wohl aber Geld. Aaro war der ehemalige Verwalter der Pellet-Fabrik von Pietarsaari, er hatte gut verdient und war ein sparsamer Mann.

Am Krematorium glitt ihm würdevoll ein schwarzer Leichenwagen entgegen. Die finnische Flagge über dem Kotflügel wehte auf Halbmast, ein Verstorbener befand sich also auf seiner letzten Reise. Das Fahrzeug hielt neben Aaro an. Der Fahrer kurbelte das Seitenfenster herunter und grinste, im linken Augenwinkel zuckte fröhlich und vertraut ein Muskel.

»Aaro! Ich bin's, Oskari, erinnerst du dich?«

Aaro Korhonen erinnerte sich sehr gut an Oskari Mättö, den netten Kumpel aus dem Norden, den er aus gemeinsamen Zeiten in der Armee kannte. Es war einige Jahre her, dass sie miteinander telefoniert hatten. Damals hatte Oskari bei einer Umzugsfirma gejobbt und, kräftig wie er war, Klaviere und Flügel geschleppt.

Vor zwanzig Jahren hatten Oskari und Aaro als Rekruten in Hiukkavaara bei Oulu in der Jägerkompanie der Nördlichen Brigade gedient. Oskari hatte bereits damals dieses Zucken am linken Auge gehabt, ein unfreiwilliges Zusammenziehen von Wangenmuskel und Augenlid, das an ein schelmisches Augenzwinkern erinnerte. Die Sache wäre harmlos gewesen, hätten sie nicht den stupiden Sergeanten Siiloinen als Ausbilder gehabt, der das unfreiwillige Augenzwinkern persönlich nahm und sich verhöhnt fühlte. Wütend befahl er dem Rekruten Mättö, seine Miene zu beherrschen, aber was konnte Oskari für seine angeborene Muskelzuckung? Bei den Mädchen kam er damit gut an, nicht aber bei dem Sergeanten. Siiloinen gewöhnte sich an, Oskari Mättö zu schikanieren, wann immer sich die Gelegenheit bot. Oft ließ er den armen Burschen rennen bis zum Umfallen, oder er machte ihn vor der ganzen Kompanie lächerlich – ohne Erfolg. Oskari Mättö trat vor und schrie mit bebender Stimme und augenzwinkernd:

»Herr Sergeant! Einen Unschuldigen verspottet man nicht! Was kann ich dafür, dass mein Gesicht zuckt!«

Oskari sammelte am Schießstand Patronen, bis er genug beisammen hatte, um das Magazin eines Sturmgewehrs zu füllen. Aaro, seinem besten Kumpel auf der Stube, verriet er seinen grausamen Racheplan. Bei passender Gelegenheit würde er Sergeant Siiloinen erschießen. Die Gelegenheit kam im Winter während der Partisanenausbildung am Ufer des Valkeislampi-Sees. Oskari und Aaro saßen am Lagerfeuer und bewachten die Skispur der Rekrutenmannschaft. Sie brieten sich Ringwurst, die Aaro von zu Hause geschickt bekommen hatte. Ihre Sturmgewehre lehnten an einer Föhre, Aaros Waffe war mit Platzpatronen geladen, in Oskaris Gewehr steckte scharfe Munition. Sergeant Siiloinen kam über das Eis des Sees geglitten. Er lehnte sich auf seine Skistöcke und begann in gewohnter Manier auf dem Rekruten Mättö herumzuhacken.

»Sergeant, jetzt knallt's!«

 

Oskari durchschoss mit einer gezielten Salve Siiloinens linken Skistock. Schon weniger genügt, einen Menschen, auch einen Soldaten, zu erschrecken, aber die Rache war noch nicht vollendet. Oskari watete durch den Schnee zum Sergeanten, bedrohte ihn mit der Waffe und forderte einen seiner Skier. Als er diesen erhalten hatte, drosch er ihn dem Sergeanten auf den Hintern, bis er zerbrach.

»Her mit dem anderen Ski, Sergeant, oder ich schieße!«

Oskari verprügelte den Sergeanten auch mit dem zweiten Ski so heftig, dass das Opfer Versöhnung vorschlug. Sie wurde mit Handschlag besiegelt, und Siiloinen stapfte in der Spur der Rekruten davon. Am gegenüberliegenden Seeufer angekommen, rief er dumpf herüber:

»Alles nur Kanonenfutter, keiner von euch Teufeln hat das Zeug zum Offizier!«

Die Freunde verbrannten die Reste der Skier und Stöcke im Feuer, womit die Angelegenheit allerdings nicht erledigt war. Aaro und Oskari bekamen für das Entwenden und Verbrennen der Skier ihres Ausbilders acht Tage Arrest aufgebrummt, außerdem mussten sie die Kosten erstatten. Siiloinen kaufte sich für das Geld neue und bessere Skier, hörte aber mit den Schikanen auf.

Oskaris Muskelzuckung machte ihm seither kaum mehr zu schaffen, das Auge und der Wangenmuskel zuckten nur noch, wenn er sich besonders herzlich freute, wie jetzt über die Begegnung mit seinem alten Armeekameraden Aaro Korhonen.

Oskari spendierte eine Runde Zigaretten und bat seinen Freund schließlich, ihm zu helfen, den Leichnam in die Kapelle des Krematoriums zu tragen. Der zuständige Mitarbeiter würde erst in einer Stunde kommen, aber als Fahrer des Leichenwagens hatte Oskari von Amts wegen einen Schlüssel zur Kapelle. Sie öffneten die Seitentüren und schleppten den Eichensarg hinein. Oskari holte ein weißes Blumengebinde – frische Lilien – aus dem Auto und arrangierte es auf dem Sarg.

»Allein kann ich diese schweren Kisten nicht mehr heben, das macht mein Rücken nicht mit. Früher habe ich mir ein Klavier einfach unter den Arm geklemmt und einen Flügel geschultert.«

Als die Arbeit getan war, erkundigte sich Aaro, ob es sich bei dem Leichnam um einen Mann oder eine Frau handelte, sofern die Frage gestattet sei.

»Moment, ich hole den Frachtbrief.«

Laut Fahrtenbuch des Bestattungsinstituts Lindell lag im Sarg eine Frau namens Hilma Katariina Väisänen, Gastwirtin, gestorben im achtundsiebzigsten Lebensjahr. Die Trauerfeier würde um elf Uhr beginnen, und anschließend ginge es für Oskari im Eiltempo nach Honkanummi, ein Polier aus Vallila hatte das Zeitliche gesegnet, auch für ihn war ein Eichensarg bestellt. Am Nachmittag müsste er dann das Fahrzeug in die Werkstatt bringen.

Hier stutzte Oskari und stellte Überlegungen an, ob da vielleicht eine Verwechslung vorlag, da die Gastwirtin hier in einem Eichensarg lag, obwohl es sich laut Transportpapieren um einen Kiefernsarg handeln sollte, der mit einem weißen, spitzenumsäumten Tuch verhüllt war.

»Das muss ich überprüfen.«

Oskari schraubte den Deckel auf.

Im Sarg ruhte friedlich ein etwa fünfzigjähriger Mann, die Augen geschlossen, wie es sich gehörte, und die Hände auf der Brust gefaltet. Graues Haar, am Kinn sprießender Bartwuchs. In jeder Weise stilvoll darauf vorbereitet, verscharrt zu werden.

»Da hab ich ja Schwein gehabt, es ist keine Frau, dies muss der Polier sein.«

Eile war geboten. Es galt, die offizielle Hilma Katariina Väisänen aus der Leichenhalle zu holen und den Polier nach Honkanummi zu schaffen. Oskari schätzte, dass er die beiden Leichen innerhalb einer halben Stunde austauschen könne, aber er wollte, dass Aaro bei der Kapelle wartete, wenn er Hilma brächte. Gemeinsam schraubten sie die Reisekiste des Polier zu und hievten sie eilends wieder ins Fahrzeug.

Eine halbe Stunde später fuhr der Leichenwagen mit qualmenden Reifen wieder beim Krematorium vor. Die Hecktür aufgerissen, den Sarg mit vereinten Kräften nach drinnen gewuchtet und mit professionellen Griffen auf die Schienen zum Ofen gestellt. Oskari erklärte, dass dies das erste Mal sei, dass bei Lindell die Leichen vertauscht worden waren. Aaro vermutete, dass Tote öfter fälschlich verbrannt und an den falschen Stellen und unter falschem Namen bestattet wurden, aber da die Särge nicht geöffnet werden, bemerkt niemand die Verwechslungen. Die Leiche einer Kneipenwirtin brennt nicht anders als die eines Poliers.

Als Oskari bereits wieder unterwegs war, kam ein Bursche im schwarzen Mantel angeradelt, der sich als Pastor vorstellte. Er hielt Aaro für den Krematoriumsangestellten, gab ihm forsch die Hand und erklärte, dass es an diesem Tag im Urnenhain zwei Bestattungen gebe, mit Reden für die jeweilige Asche. Just in diesem Moment tauchte der Mann auf, der eigentlich zuständig war. Aaro übergab ihm die Amtsgeschäfte und setzte erleichtert seinen Weg zur Mechelininkatu fort. Am Zaun des Friedhofes sprang ihn ein Eichhörnchen an und hängte sich fordernd an sein Hosenbein, aber als es merkte, dass er keine Nüsse dabeihatte, ließ es ihn in Ruhe. Der Tag war noch jung. Aus Erfahrung wusste das Tier, dass bald jede Menge trauernder Besucher kommen würden, in deren Taschen vielversprechend die Nusstüten knisterten.

In der Mechelininkatu angekommen, wandte sich Aaro Korhonen in Richtung Töölö und hoffte, nach den morgendlichen Toten bald auf lebendigere Menschen zu stoßen. Die frischen Düfte des Frühlings lockten ihn in ein kleines Café, dessen Eingangstür einladend offen stand. Eine Tasse Tee wäre jetzt genau richtig.

Im Café Väisänen war eine junge Frau in Trauerkleidung damit beschäftigt, den Fußboden zu wischen. Ihr Hinterteil zeigte abweisend zur Straße, Schweiß glänzte auf ihrer besorgten Stirn.

»Ist das Café etwa geschlossen?«

»Ja, ist es.«

Wie sich zeigte, war das Lokal wegen eines bedauerlichen Todesfalles geschlossen, ja es stand sogar zum Verkauf, und sobald die einstige Betreiberin Hilma Katariina Väisänen um elf Uhr sachgemäß verbrannt worden wäre, müsste die Serviererin Viivi Ruokonen hier ihre Zelte abbrechen und sich nach einer anderen Arbeit umsehen. Doch zuvor musste sie noch einiges erledigen, zum Beispiel, im Hinblick auf potenzielle Käufer, die Geschäftsräume reinigen. Die Wohnung der Verstorbenen im Obergeschoss hatte sie bereits vor der Obduktion sauber gemacht. Das Inventar würde in der kommenden Woche auf einer Auktion versteigert werden und der Erlös in den Nachlass einfließen.

Aaro Korhonen half der jungen Frau beim Wischen, und bald putzten sie auch die Fenster. Zu diesem Zeitpunkt traf der Immobilienmakler ein, und Aaro beschloss, ihm ein Kaufangebot zu machen, sowohl für das Café als auch für die Wohnung der Verstorbenen, drei Zimmer und Küche, ohne Balkon. Kein Fahrstuhl, aber sonst eine passable Behausung. Als Aaro die Wohnung inspizierte, registrierte er, dass die Inhaberin allein darin gewohnt hatte. Die Küchenschränke waren alt, aber sauber, der Kühlschrank müsste erneuert, das Bad renoviert werden. In einem der beiden Schlafzimmer waren Bücher untergebracht. Viivi Ruokonen hatte in letzter Zeit die Blumen gegossen. Es wirkte, als wäre die Inhaberin der Wohnung nur vorübergehend verreist. Hier konnte man jederzeit einziehen. Da der Kaufpreis mäßig und sowohl die Privat- wie auch die Geschäftsräume sauber und ordentlich waren, war Aaro bereit, eine Vorauszahlung zu leisten und die Schlüssel in Empfang zu nehmen. Er sagte sich, dass er günstig zu einem Café und einer Wohnung gekommen war. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, dass er, ein sonst so ruhiger und besonnener Mann, diesen spontanen Kauf getätigt hatte. Aber ein Blick auf Viivi Ruokonen sagte ihm, dass es möglicherweise doch nicht nur eine momentane Laune gewesen war. Er brauchte ein Heim und einen Arbeitsplatz, und er sehnte sich nach weiblicher Gesellschaft. Jetzt war all das greifbar, da musste er schnell und ungeniert zuschlagen. Wenn es schiefgehen würde, könnte er ja wieder verkaufen und weiterziehen.

Oskari Mättö meldete sich über das Mobiltelefon und erzählte, dass der Polier stilgerecht in Honkanummi begraben und beweint worden war. Wie ging es Aaro sonst so, was gedachte er in nächster Zeit zu treiben? Wo wohnte er und wovon wollte er leben?

»Ich habe soeben ein kleines Café mit einer netten Wohnung im Obergeschoss gekauft. Ich beabsichtige zu schreiben, Bücher und so was.«

Aaro erkundigte sich nun seinerseits, ob Oskari möglicherweise einen schwarzen Anzug hätte, denn eigentlich müsste er an der Beerdigung jener morgendlichen Toten teilnehmen, sie war nämlich die ehemalige Betreiberin des Cafés, und es war ihr Nachlass, den er gekauft hatte. Im Bestattungsinstitut gab es vermutlich schwarze Anzüge zu mieten. Oskari bot ihm seinen eigenen Anzug an, sie könnten die Kleider tauschen, er brauchte seine schwarze Kluft heute nicht mehr, auf der Fahrt in die Werkstatt könnte er genauso gut Aaros Alltagsklamotten tragen.

Bekleidet mit Oskaris tiefschwarzem Traueranzug trat Aaro, zusammen mit der Serviererin und dem Immobilienmakler, ins Krematorium, wo der Pastor, den er bereits kannte, eine rührende Rede zu Frau Hilma Katariina Väisänens Gedenken hielt. Anwesend waren etwa fünfzig Personen, hauptsächlich ehemalige Gäste des Cafés. Blumengebinde bedeckten den schönen Sarg, der nach Abschluss der Zeremonie stilvoll den himmlischen Flammen entgegenglitt, deren Glut sogar den Teufel neidisch gemacht hätte.