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Wie ein brodelnder Zaubertrank rollte der Nebel über die glatten Klippen, das Festland verlor seine Konturen und verschwand außer Sichtweite. Das dunkelgraue Wasser, das zu einem sprühenden Schaum geworden war, wenn es an den Steg und die Steine schlug, mäßigte sich und kam unter der Wolkendecke zur Ruhe. Gleichstellungsministerin Mikaela Nilsson saß in eine Decke gewickelt vor ihrem Haus auf der Insel, wo sie erst in einer Woche wieder abgeholt werden würde. Sie hatte die Einsamkeit gesucht, um in Ruhe trauern zu können und ohne von den Bildern der Zeitungen bedrängt zu werden. Trauer ist eine Form von Stress, und Stress kann sich auf viele Arten im Körper ausdrücken. Das war ihr sehr bewusst. Auch als Fieber, das hatte sie in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift gelesen. Sie fühlte sich wirklich sehr matt und fiebrig. Sie hatte sich entschieden, in dieser Woche ihr Handy nicht mitzunehmen. Auch kein Fernsehen, keine Zeitungen, nur das Radio, um auf P2 Musik hören zu können. Sie wollte ungestört sein. Vielleicht war es etwas dummdreist gewesen, das Handy nicht mitzunehmen, aber so war es nun einmal.
Die letzten drei Tage auf Gotland hatte sie am Sterbebett ihrer Mutter verbracht, und erst eine Stunde, ehe das Flugzeug zum Festland abhob, war Angela nach einer langen Zeit der Krankheit still eingeschlafen. Blutkrebs. Es war eine Infektion hinzugekommen. Im Einverständnis mit den Ärzten hatte Mikaela entschieden, die Behandlung zu beenden und das Leiden der Mutter nicht zu verlängern. Mikaela war in diesem Sommer mit ihrer Mutter nach Gotland gereist, weil Angela sich einen letzten Wunsch erfüllen wollte. Sie wollte eine alte Liebe wiedersehen. Mikaela hatte sie zu Ruben Nilsson nach Klintehamn gebracht und, nachdem sie die Mutter zu dessen Haustür geleitet hatte, im Auto gewartet. Das letzte Stück will ich alleine gehen, hatte Angela so bestimmt gesagt, dass Mikaela nur gehorchen konnte. Es war ein heiliger Moment gewesen, und irgendetwas in Angelas Blick und ihrer Haltung hatte gezeigt, dass alles, was nach dieser Begegnung geschehen würde, bedeutungslos sein würde – wenn sie nur die Versöhnung erleben dürfte, die sie brauchte, um über die Grenze gehen zu können. Ich habe ihm so wehgetan, sagte sie, als sie sich ein letztes Mal umdrehte und der Wind vom Meer in ihr weißes welliges Haar fuhr und es wie einen Schleier ausbreitete. »Wer war Ruben für dich?«, hatte sie Angela gefragt, als sie auf dem Weg von Klintehamn zurück waren. Gerüchten zufolge ein exzentrischer Onkel, den sie niemals hatte kennenlernen dürfen, weil ihr Vater und der Onkel auf ewig zerstritten waren. Sie wäre gern mit hineingegangen, um sich ein eigenes Bild von ihm zu machen, aber Angela hatte das nicht erlaubt. »Er war das Leben, das ich nie gelebt habe«, hatte sie gesagt, und dann war sie eingenickt und hatte den Rest der Reise aus purer Erschöpfung geschlafen.
Mikaela ging in die Küche, um etwas Kaffee aufzusetzen. Sie fühlte sich wirklich schwach, und sie fror ganz schrecklich, aber es war ihr zuwider, sich am helllichten Tag ins Bett zu legen. Um sich wach zu halten, schaltete sie zum ersten Mal, seit sie auf die Insel gekommen war, das Radio ein. Eigentlich hatte sie sich selbst gelobt, keine Impulse von außen hereinzulassen. Doch jetzt fühlte sie sich allein, und die frischen Stimmen aus dem Radio gaben ihr die Illusion, dass es gar nicht so einsam war, wie es sich anfühlte.
Im kommenden März würde sie fünfzig werden. Viele ihrer Freundinnen hatten Kinder und Enkel, aber für Mikaela hatte das Leben nichts dergleichen bereitgehalten. Nach ein paar kürzeren Beziehungen und einer längeren, einer aufgelösten Verlobung und vielen enttäuschten Hoffnungen musste sie einsehen, dass es so schwer war, die Liebe zu einem anderen Menschen zu leben, dass sie das nie schaffen würde. Vielleicht hatte das am Verhältnis der Eltern zueinander gelegen, die durch Hassliebe und Kontrollsucht auf Lebenszeit zusammengekettet gewesen waren, damit sie sich auch so richtig gegenseitig quälen konnten. Oder es lag daran, wie ihr Therapeut behauptete, dass Mikaela ihre ganze Kindheit von ihrer Mutter im Stich gelassen worden war, wenn Angela immer wieder in die Psychiatrie musste und das Mädchen von einem Tag auf den anderen im Kinderheim oder bei Freunden oder Nachbarn zurückließ. Damals blieben Väter nicht zu Hause bei ihren Kindern. Irgendeine Erklärung brauchte man schon, wenn das eigene Leben davon geprägt war, dass man andere im Stich ließ, um nicht im Stich gelassen zu werden. Als kleines Mädchen hatte Mikaela ein Foto von Angela unter ihrem Kissen versteckt gehabt. Mein schöner, schöner Mamaengel. Wenn du nach Hause kommst, wird alles wieder gut. Dann lachen wir und umarmen uns, und es gibt wieder Wärme. Aber so kam es nie. Wer war Ruben für dich, Mama? Er war das Leben, das ich nicht gelebt habe, aber ich habe stattdessen ja dich bekommen, mein Engel.
Mikaela goss sich eine Tasse Kaffee ein. Sie wickelte die Füße in die Decke, zog sich den dicken Wollpullover über, den sie von Angela geerbt hatte, und hörte zerstreut zu, was im Radio gesprochen wurde. Es ging um die Vogelgrippe, ein monotones Wiederkäuen, das ihr zu den Ohren herauskam. Sie wollte gerade den Sender wechseln, als eine neue Stimme dazukam und von der Regierung sprach. Die weibliche Stimme verkündete, dass der größte Teil der Regierung an Vogelgrippe erkrankt sei und dass dies wahrscheinlich daran liege, dass jemand auf dem Flug von Gotland her infiziert gewesen sei, obwohl man die Kontakte der Regierungsmitglieder sorgfältig geprüft habe. Den Besuch bei Ruben Nilsson in Klintehamn hatte Mikaela ihnen verschwiegen. Es war sozusagen Ehrensache gewesen, ihn geheim zu halten … um Angelas Willen.
»Im Hinblick auf alle Kontakte, die die Regierungsmitglieder in den letzten Tagen gehabt haben, müssen wir die Lage als außerordentlich ernst betrachten. Die Infektion ist also nicht länger auf Gotland begrenzt, und es steht zu befürchten, dass man in den kommenden Tagen mit weiteren Fällen konfrontiert werden wird. Wir bitten deshalb alle Personen mit Grippesymptomen, nicht das Krankenhaus oder die Ambulanzen aufzusuchen. Es wird stattdessen Hausbesuche von Ärzten geben, wenn man über die von den Provinzregierungen eingerichteten Hotlines Kontakt aufnimmt. Es besteht dennoch kein Anlass zur Beunruhigung. Wir werden Ihre Anrufe der Reihe nach annehmen.«
Mikaela schaltete das Radio aus. Sie ging ins Schlafzimmer und kroch unter die Decken. Das Foto von Angela als junges Mädchen stand in einem billigen Holzrahmen auf dem Nachttisch. Mikaela strich mit dem Finger über den Rahmen mit seinem Trauerflor und fiel in einen tiefen Schlaf.