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Jonatan Eriksson, Infektionsarzt im Krankenhaus von Visby, legte den Hörer auf und stützte den Kopf in die Hände. Ihm war nur noch nach Weinen zumute. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er nicht dagegen angekämpft. Die Müdigkeit und eine ständig nagende Angst verursachten ihm Übelkeit. Die Frau von der Ferienbetreuung, die Blonde mit der kleinen Zahnlücke, wollte nur kurz Bescheid sagen, dass Nina nicht mit Malte gekommen sei und dass alle dastünden und warteten, denn sie wollten einen Ausflug machen. Ja, doch, sie hätte mehrmals versucht, bei Nina zu Hause anzurufen, aber es sei niemand rangegangen. Ob sie vielleicht verschlafen hätten? Das wäre ärgerlich, denn Maltes Mama hätte ja versprochen, einige von ihnen mit dem Auto mitzunehmen. Jetzt am Morgen noch jemand anders von den Eltern zu finden, sei nicht so einfach.
Verdammt, wie wenig doch nötig war, um die Sorge zu wecken, die immer wie ein dumpfer Schmerz in seinem Bauch vorhanden war. Es musste ja nicht das Schlimmste geschehen sein. Es konnte doch wirklich sein, dass die beiden einfach verschlafen hatten.
Jonatan fuhr den Computer hoch und griff nach dem Mikrofon, doch er fand nicht die richtigen Worte. Mehrere Nächte ohne Schlaf versetzten ihn in eine seltsame Art der Aphasie, er suchte nach Substantiven und konnte sich nicht mehr an den Namen seines engsten Mitarbeiters erinnern. Wenn die normalen Leute draußen mal begreifen würden, in was für einem Zustand ein diensthabender Arzt nach so einer Schicht war, dann würden sie nicht mehr so vertrauensvoll ihr Wohl und Wehe in seine Hände legen. Ein Lastwagenfahrer muss nach viereinhalb Stunden eine Pause machen, ein Arzt darf rund um die Uhr arbeiten, und man erwartet dennoch von ihm, dass er Mitgefühl zeigt. Jonatan versuchte, seine privaten Sorgen wegzuschieben, und konzentrierte sich in diesen letzten Minuten, ehe er das Krankenhaus würde verlassen können, auf die Arbeit.
Am Morgen war eine Frau gestorben, und jetzt, eine Stunde später, saß Jonatan mit den Testergebnissen auf dem Bildschirm da. Er klickte zurück und las seine Aufzeichnungen, in der Hoffnung, dass sie ihm dabei helfen würden, den Bericht zu vervollständigen.
»Bisher gesunde 71-jährige Frau, stirbt um 6.35 Uhr an Lungen-, Herz- und Nierenversagen, wahrscheinlich in Folge einer Influenza vom Typ A.« Pause. Das Krankheitsbild hatte sich dargestellt wie bei einer ernsthaften Sepsis mit sehr akutem Verlauf. Auf dem Röntgenbild weiße, mit Flüssigkeit gefüllte Lungen. Periphere Schwellungen, das ganze Kapillarsystem war Amok gelaufen und hatte sich geöffnet, während der Blutdruck sank. Man hatte weitere Flüssigkeit über den Tropf geben müssen, und die Schwellungen waren noch stärker geworden. Ehe die Bewusstlosigkeit und dann der Tod eingetreten waren, war die Frau völlig desorientiert und verängstigt gewesen. Man hatte sie nicht einmal mehr intubieren können. Keine nahen Angehörigen, die eintreffen konnten, Gott sei Dank. Eine Schwester, aber der ging es offenbar zu schlecht, als dass sie ins Krankenhaus kommen konnte. Er schämte sich ein wenig für seine Gedanken. Aber aufgewühlten, vielleicht vorwurfsvollen Angehörigen zu begegnen und ihnen nach einer vierundzwanzigstündigen Schicht eine engagierte und mitfühlende Betreuung zu geben erschien ihm im Moment unmöglich.
Die Verstorbene hieß Berit Hoas. Ihr angsterfüllter Blick würde ihn lange verfolgen. Das wusste er. Vielleicht hätte er niemals Arzt werden sollen, es war die Qual einfach nicht wert, die er durchlitt, wenn eine Behandlung nicht anschlug und jemand starb. Hätte man etwas anders machen müssen? Schneller handeln? Die letzten sieben Stunden hatte er sein Möglichstes getan, um ihr Leben zu retten.
Die Influenza hatte einen ungewöhnlich gewaltsamen Verlauf gezeigt. Zu Beginn hatte man nur festgestellt, dass der CRP-Wert über 100 lag. Wenig Leukozyten, aber nicht lebensbedrohlich. Grippesymptome. Atembeschwerden. Kopfschmerzen. Dann ein schnell sinkender Sauerstoffwert, keine Urinproduktion. Anzeichen von Herzversagen. Als man eine Pilzvergiftung ausgeschlossen hatte, waren die Überlegungen erst einmal zu einer Infektion mit Legionellenbakterien gegangen und dann, nachdem die Frau gesagt hatte, dass sie Tauben gefüttert habe, zur Papageienkrankheit. Sie war durchgecheckt und auf Tetrazyklin gesetzt worden, jedoch ohne Wirkung. Wenn es einem nicht gelungen ist, jemanden am Leben zu halten, gibt es immer viele Was-wäre-Wenns. Was wäre gewesen, wenn man die Diagnose früher gehabt hätte? Wenn sie früher auf die Intensiv gelegt worden wäre? Jetzt war sie im Fahrstuhl nach oben gestorben. Was wäre, wenn … Jonatan stöhnte laut auf, als der Pieper ging. Er wählte die Nummer der Zentrale und wartete.
»Herr Dr. Eriksson, können Sie bitte in die Notaufnahme kommen?«
»Gibt es keinen anderen Arzt? Ist Morgan Persson noch nicht gekommen?«
»Noch nicht. Er hat angerufen. Wieder irgendetwas mit dem Auto. Sie … wir haben hier einen Mann mit Grippesymptomen. Es geht ihm verdammt schlecht. Kaum bei Bewusstsein. Seine Frau ist völlig aufgelöst, redet von einem Nachbarn, der gerade gestorben ist. Können Sie sich beeilen? Es sieht nicht gut aus.«
Jonatan fluchte laut vor sich hin. Morgan hatte wahrscheinlich vergessen zu tanken. Wenn ihn etwas auf die Palme bringen konnte, dann waren es Leute, die unpünktlich waren und sich nicht an Vereinbarungen hielten. Die Zusammenarbeit mit Morgan Persson wäre ein Wunder an Reibungslosigkeit gewesen, wäre da nicht seine mangelnde Einsicht, welche Gesetze die Wirklichkeit regeln, in der andere Menschen leben. Brauchen Autos Benzin? Wird das Telefon abgeschaltet, wenn man die Rechnung nicht bezahlt? Schimmeln Lebensmittel?
Der Behandlungsraum war von der Leuchtstoffröhre an der Decke in weißes Licht gebadet. Auf der Pritsche mitten im Raum lag ein kräftiger Mann. Seine Frau erhob sich sofort, als Jonatan Eriksson eintrat.
»Er stirbt! So tun Sie doch etwas!« Das Gesicht der Frau war verweint, und ihre rot geränderten Augen blickten wild. »Tun Sie doch etwas, Herr Doktor. Das geht nicht gut aus. Er wird mir wegsterben! Sehen Sie selbst. Petter, hörst du mich? Antworte! Da sehen Sie es, Herr Doktor. Er stirbt!«
»EKG ohne pathologischen Befund. Eine Trichykardie vielleicht. Puls 100, Blutdruck 90 zu 60. Temperatur 39,4. Sauerstoffversorgung 87 Prozent«, rapportierte die Krankenschwester, die am Kopfende stand. »Proben bei der Einlieferung entnommen. Brauchen Sie noch mehr?«
»Ich will erst hören, was geschehen ist.« Jonatan nahm Sonja Cederroth bei der Hand und setzte sich auf den Rand der Pritsche. Die Müdigkeit drückte im Kopf. Das Neonlicht schnitt ihm in die Augen. Wenn dieser Patient nicht gekommen wäre, wäre er jetzt auf dem Weg nach Hause, um wieder einmal die Situation in Ordnung zu bringen. Wo war denn Morgan, verdammt noch mal? Die Frau redete ununterbrochen, und Jonatan bekam fast Angst um sich selbst, als er merkte, dass er gar nicht zuhörte.
»Entschuldigen Sie. Können Sie noch einmal von vorn beginnen?«
»Wird er es schaffen? Was sollen wir bloß machen? Petter konnte heute kaum etwas essen. Er hat nicht einmal meine Kartoffelklöße probiert, obwohl ich ausgelassene Butter und grüne Erbsen dazu gemacht hatte.«
Jonatan merkte, wie die Wut angekrochen kam. Es war unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, während diese Frau pausenlos unpassende Sachen von sich gab.
»Erst möchte ich, dass Sie mir erzählen, was passiert ist«, sagte er, zu dem Patienten gewandt. »Wie lange haben Sie schon Fieber?«
Sonja Cederroth antwortete für ihren Mann. »Er wollte nicht Fieber messen, obwohl ich es ihm gesagt habe. Aber das will er nie. Er sagt immer, man merkt doch selbst, ob man Fieber hat. Ich glaube, es ist ihm einfach peinlich, sich das Thermometer in den Hintern stecken zu müssen, verstehen Sie, Herr Doktor? In der Hinsicht ist er wirklich zimperlich. Berit Hoas soll tot sein, ich habe es von ihrer Schwester gehört. Sie hat angerufen, als wir auf dem Weg ins Krankenhaus waren, die Arme. Ist das wahr? Ist sie tot? Berit wohnt gleich neben uns und Ruben auch, Ruben Nilsson. Sie haben ihn in ein schwarzes Futteral mit Reißverschluss gelegt, hat Petter gesagt. Und die ganzen Tauben, können Sie sich das vorstellen, Doktor? Er hatte über sechzig Tauben. Was sollen wir nur tun?«
»Jetzt mal langsam, damit ich auch mitkomme.« Jonatan legte seine Hand auf den Arm der Frau, um sie etwas zu beruhigen.
»Rubens Tauben sind tot, und Ruben und Berit sind auch tot. Es ist wie die Pest. Verstehen Sie, was ich sage, Herr Doktor? Wie die Pest! Petter wird sterben. Er kriegt ja kaum mehr Luft, und das Herz schlägt ihm in der Brust, dass man Angst bekommen kann.«
»Sind Sie in Kontakt mit den Tauben gewesen?«, fragte Jonatan in einem erneuten Versuch, mit dem Patienten zu kommunizieren.
Jetzt sah Petter Cederroth auf. Er strengte sich an, um die Worte herauszubekommen. »Ich ging die Treppe zum Taubenschlag hoch und sah, dass sie tot waren. Alle miteinander. Und dann Ruben. Er lag mausetot in seinem Bett.« Petter schniefte. »Unsere Tauben sind gesund.«
Der Gedanke, der Jonatan Eriksson durch den Kopf ging, war der reinste Albtraum. Ein paar Minuten lang hörte er nicht, was die Menschen um ihn herum redeten. Die Laute kamen und gingen in Wellen. Sonjas fragendes Gesicht. Die Hand der Krankenschwester auf seiner Schulter. Sie erreichten ihn nicht. »Ich arbeite als Köchin in einem Fußballcamp«, echote die Stimme von Berit Hoas. »Ich muss schnell gesund werden, damit ich nach dem Wochenende wieder hinkann. Dort warten fünfzig Kinder auf mich. Fünfzig Kinder!«
Jonatan ging rückwärts aus dem Zimmer. Entschuldigte sich. Zog die Krankenschwester mit sich. Raus! Weg! Er hielt die Hand vor den Mund und versuchte, nicht zu atmen, bis sie ein gutes Stück den Flur entlanggegangen waren. Da hielt er inne und rang nach Luft.
»Was ist denn, Herr Dr. Eriksson? Sie sehen so seltsam aus. Sagen Sie schon, was ist los? Geht es Ihnen nicht gut?«, rief Schwester Agneta.
»Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber ich wage nicht, mich darauf zu verlassen. Vielleicht werde ich jetzt total verrückt, aber im Moment möchte ich, dass wir alle Atemschutzmasken auspacken, die wir haben. Am liebsten P3-Masken, die 3M mit Rohrfilter halten acht Stunden, ansonsten Entenschnäbel. Alle Kollegen, die in den Behandlungsraum gehen, müssen Schutzkleidung tragen, Handschuhe und den bestmöglichen Atemschutz. Der Patient und seine Frau ebenso, und das, bis wir wissen, was es ist. Holen Sie die Seuchenschutzärztin. Sofort!«
»Was glauben Sie, was es ist, Herr Dr. Eriksson?«
»Es könnte die Vogelgrippe sein. Ich brauche eine Liste aller Personen, mit denen Petter Cederroth in den letzten fünf Tagen Kontakt hatte. Mein Gott! Er hat im Wartezimmer der Notaufnahme gesessen. Wie lange kann er da gewesen sein? Ich habe gesehen, wie er dem kleinen Jungen mit dem Traktor ein Bonbon gegeben hat.«