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»Auf Gotland befürchtet man einen Ausbruch der Vogelgrippe. Zwei Todesfälle könnten in Zusammenhang mit der Ansteckung stehen, und eine Reihe von Personen ist zur Beobachtung in das alte Sanatorium von Follingbo verbracht worden. Åsa Gahnström, Sie sind Seuchenschutzärztin und sagen, Sie hätten damit gerechnet, dass eine solche Seuche ausbrechen würde. Warum haben Sie dann keine Vorsorgemaßnahmen ergriffen?«
»Zunächst einmal wissen wir noch nicht, ob es die Vogelgrippe ist, mit der die Patienten infiziert sind, zum anderen …«
»Warum wissen Sie das nicht?« Die Stimme des Radioreporters schnitt scharf wie eine Pfeilspitze ein.
»Es dauert eine Weile herauszufinden, um welche Form der Influenza es sich handelt. Die Analysen müssen in einem Sicherheitslaboratorium durchgeführt werden. H5N1, die sogenannte Vogelgrippe, befällt für gewöhnlich keine Menschen, sondern Vögel. Wenn Menschen infiziert werden, dann hatten sie Kontakt mit Tieren. Wir wissen nur von einigen wenigen Fällen, bei denen die Infektion von Mensch zu Mensch stattfand. Das war ein Einundzwanzigjähriger in Hongkong, der während einer Neujahrszeremonie Entenblut getrunken hatte. Die Krankenschwester, die ihn gepflegt hat, und seine vierzehnjährige Schwester starben, mehr Fälle sind allerdings nicht bekannt. Seit einiger Zeit befürchten wir, dass das Virus mutieren könnte. Das könnte geschehen, wenn eine Person eine gewöhnliche Grippe hätte und dann durch Kontakt mit Vögeln mit der Vogelgrippe infiziert würde. Es besteht auch die Gefahr, dass dieser Prozess in einem anderen Haustier stattfinden könnte. Doch momentan sehe ich keinen Grund zur Besorgnis.«
»Es heißt, man habe auf der ganzen Welt 180 Fälle von Vogelgrippe bei Menschen festgestellt, 87 von den Infizierten sind tot. Wenn Sie eine solche Entwicklung befürchtet haben und die Sterblichkeitsrate so hoch ist, warum sind Sie dann so schlecht auf eine Krisensituation vorbereitet? Warum ist nicht die ganze Bevölkerung gegen Vogelgrippe geimpft wie auch gegen Tetanus, Diphtherie und Kinderlähmung?«
»Viren ändern ihre Struktur. Man muss immer neue und wirkungsvollere Impfstoffe hervorbringen, und ehe man genau weiß, wie das Virus aussieht, ist es unmöglich, einen Impfstoff zu entwickeln. Sogar die Impfung gegen normale Grippe wird dem Virus genau angepasst, aber manchmal schafft das Virus es dennoch, sich so zu verändern, dass die Impfung keinen umfassenden Schutz bietet. Deshalb dauert es mindestens ein halbes Jahr, eine Impfung gegen Vogelgrippe zu entwickeln, wenn man weiß, wie das Virus aussieht, doch wir haben diese Ressourcen in Schweden nicht mehr, sondern müssen uns darauf verlassen, dass wir Impfungen aus dem Ausland einkaufen, wo man besser weiß, was gerade hergestellt werden muss.«
»Und bis dahin kann bereits ein Drittel unserer Bevölkerung betroffen sein? Kann man das mit der Spanischen Grippe vergleichen, die 1918 ausbrach und an der weltweit ungefähr 20 Millionen Menschen gestorben sind? Die jüngsten Prognosen sprechen von 100000 Todesfällen allein in Schweden.«
»Das wäre doch zu drastisch. Im Moment gibt es keinen Grund zur Beunruhigung.«
»Vielen Dank für das Gespräch. Wir schalten um nach Almedalen zur Politikertagung, wo wir hoffen, einen Kommentar von Gesundheitsminister Erik Malmgren zu erhalten.«
Wohnwagenbesitzer Hans Moberg stellte das Radio aus und zog die blaukarierte Gardine auf. Es begann aufzuklaren. Das kam ihm gerade recht. Er streckte die Beine aus und beendete seinen Flirt mit »Reife Frau ’53« mit einem französischen Satz, den er in einer früheren Konversation mit »Dolly P«, einer arbeitslosen Postangestellten aus Västerås, aufgeschnappt hatte. Weiß der Geier, was das hieß, aber es sah einfach schick aus. Er klemmte die Zunge in den Mundwinkel und tippte den Satz Buchstabe für Buchstabe nach der Vorlage ein. Frauen mochten so etwas, das funktionierte immer. Er hatte nicht die Absicht, »Reife Frau ’53« in der Realität zu treffen, ganz bestimmt nicht, aber momentan konnte er jemanden gebrauchen, der ihm etwas mütterliche Fürsorge erwies. »Blonde Göttin« hatte sich nämlich bei näherer Betrachtung in einer Kabine auf der Gotlandfähre als Enttäuschung erwiesen. Aber man musste Rückschläge einstecken. Man wurde dadurch geläutert. Nur selten entsprachen die Frauen den Bildern, die man sich von ihnen machte, während man im Netz mit ihnen chattete, dachte Hans Moberg. Die Realität wurde bei der Begegnung dann oft allzu real. Vor allem, wenn man sich bei Tageslicht traf. Das war manchmal fast ein Schock, und zwar für beide, um ehrlich zu sein, und dann kam es darauf an, schnell zu dem Einverständnis zurückzufinden, das es in den vertraulichen Gesprächen im Internet gab, oder der Dame sofort einen Kuss aufzudrücken, um die Verliebtheitshormone in Gang zu bringen, ehe sie nachdenken konnte.
Hans Moberg, von seinen Freunden Mubbe genannt, stellte sich vor den braunfleckigen Spiegel an der Tür zum Besenschrank und kämmte sich das lange, wellige Haar, ehe er in die Stiefel stieg. Er betrachtete noch einmal sein Gesicht, zupfte ein paar weiße Haare aus dem Schnurrbart und setzte sich den weißen Cowboyhut auf. Justierte die Krempe, ein wenig schräg über dem einen Auge sollte sie sitzen. Halunken haben schwarze Hüte, Helden weiße, das wusste jedes Kind. Vielleicht war er zu nett, zu wohlwollend in der Interpretation von »ein paar Kilo zu viel« und »momentan ein paar finanzielle Probleme«. Ganz zu schweigen von »eifersüchtigen Ehemännern«, was die reinste Hölle sein konnte. Das wusste er aus Erfahrung. Und doch war das hier sein Leben. Mit seinem Wohnwagen herumzufahren, der zugleich auch sein Liebesnest war, und Frauen zu treffen, wo man wollte, wann man wollte und wie lange man wollte. Kein Boss. Keine Alte. Keine Termine, an die man sich halten musste, außer denen, die man selbst ausgemacht hatte, und das auch nur, wenn die Lust im richtigen Moment vorhanden war. Ansonsten konnte man seine Hotmailadresse ändern, eine andere Identität im Internetforum erfinden und zu neuen Abenteuern aufbrechen.
Ein Teil der Verlockung lag tatsächlich darin, jedes Mal eine neue Rolle spielen zu können – Besitzer einer Kunstgalerie in Paris, Projektleiter in der Baubranche an der Riviera, Polizist im Nachrichtendienst, Einsatzleiter bei der Feuerwehr oder Großwildjäger in Gambia. Alles, wovon man als Junge geträumt hatte, woraus aber nie etwas geworden war und was auch gar nichts werden musste, denn man konnte es doch in der Phantasie erleben, ohne sich die Hände schmutzig machen oder sich körperlichen Gefahren aussetzen zu müssen. Entscheidend war, wie die anderen einen sahen, ob sie an das Erscheinungsbild glaubten.
Und dann der Kick selbst, wenn man seine Rolle eingeübt, eine passende Gegenspielerin im Netz gefunden hatte und sich dann in der Wirklichkeit traf. Gegen alle Arten von Frauen spielen zu dürfen und für die passionierteren Szenen die besten auszuwählen … Natürlich nicht alle. Für diejenigen, die schon in ihrem Text Keuschheit und Treue auslobten, hatte er nicht viel übrig. Das wurde zu kompliziert. Auch wenn es schon passiert war, dass er eine Woche lang von Kartoffelwasser, Keimen und Sesamkörnern gelebt hatte, weil die derzeitige Frau in seinem Leben Veganerin gewesen war. Er hatte nicht einmal seinen Ledergürtel behalten dürfen, aber in der Woche hatte das gerade mal nichts ausgemacht. Die Räucherstäbchen waren schlimmer gewesen. Ein Wohnwagen verträgt nicht viel von solchen Sachen, und es stach den Geruch seines eigenen Pfeifentabaks aus. Aus seiner eigenen Höhle ausgeräuchert, fühlte er sich heimatlos. Als sie dann noch verlangte, dass er die Nesseln aß, die sie hinter dem Herrenklo auf dem Campingplatz von Västervik gepflückt hatte, war das Maß voll. Da endete die Grenze des Akzeptablen.
Nein, vielleicht sollte ich den Anker lichten und an einen schickeren Ort weiterziehen, dachte Mubbe. In der letzten Nacht hatte er sein Liebesnest in einem Industriegebiet östlich der Stadt geparkt. Wer die unnötige Ausgabe für Strom auf einem Campingplatz sparen will, für den ist die Steckdose an einem Fabrikgebäude eine bedenkenswerte Alternative, ebenso wie man in dicht besiedelten Gegenden schon mal den ungeschützten Internetzugang von jemand anders mitbenutzen konnte. Eine Krone gespart war eine Krone gespart. Man musste nur aufpassen, dass einem die Stacheldrahtzäune nicht die Hose zerrissen, wenn man über den Zaun kletterte.
Tofta Camping hieß das Strandstück, das er auf der Karte eingekringelt hatte. Dort konnte er duschen und sich vor dem abendlichen Treffen mit »Kuschelmaus aus Skåne« schick machen, doch vorher musste er noch ein paar Geschäfte erledigen. Diskrete Lieferungen. Bargeld im Austausch gegen Liebesglück und neues Selbstvertrauen. Es wunderte ihn oft, dass nicht mehr Leute in seiner Branche reisten. Freiheit, schnelles Geld und dankbare Kunden. Es war vollkommen ungefährlich, Medikamente über das Netz zu kaufen oder zu verkaufen, und ebenso risikolos, sie direkt auf der Straße wieder loszuwerden. Immer wieder waren solche Dinge vor Gericht gekommen, jedoch ohne Ergebnis. Hans Moberg hatte die Entwicklung der Ereignisse in der Presse aufmerksam verfolgt. Da hatten sich die gesetzgebenden Behörden wirklich selbst in den Schwanz gebissen. Der vierte Paragraph im Gesetz über den Handel mit Medikamenten verweist nämlich auf die Medikamentenverordnung von 1962, die 1993 aufgehoben wurde. Kein Gericht in der ganzen Welt kann einen nach einem Gesetz verurteilen, das nicht mehr existiert.
Hans Moberg machte sich keine Sorgen um sein Auskommen, weder jetzt noch in der Zukunft. Zu dem Zeitpunkt, wenn die langsamen Mühlen der Beschlüsse fertig gemahlen hatten und die Gesetzgeber den Hintern hoch gekriegt hatten, würden die EU-Gerichte bestimmt das schwedische Medikamentenmonopol abgeschafft haben, pflegte er zu seinem Kollegen Manfred »Mayonnaise« Magnusson zu sagen, der oft seiner Sorge über die Zukunft Ausdruck verlieh.
Es würde nett sein, sich auf dem Campingplatz in Tofta zu treffen und das ein oder andere Bier gemeinsam zu trinken, ehe die Verteilung der Weihnachtsgeschenke an die Viagrakunden begann. Einige wollten ihr Kuvert mit der Post haben, andere wollten es direkt in die Hand bekommen. Ein paar Kunden konnte man auch vor Ort auftun, wenn während der Ferien gewisse Bedürfnisse wuchsen. Diese Reisen konnte man im Grunde als Urlaub bezeichnen. Am besten waren die Geschäfte gelaufen, als er mit Betsy zusammengearbeitet hatte, die Unterwäsche und Sexspielzeug verkaufte. Was für eine Geschäftsfrau! An die konnte man nicht heranreichen. Aber es hatte seine Geduld herausgefordert, ständig Kompromisse machen zu müssen, was die Termine und Reiserouten betraf, und mit einer Träne im Knopfloch hatte er sie, als der Winter kam und der Wohnwagen für sie beide zu eng wurde, in Tanumshede zurückgelassen. Die Freiheit hatte ihren Preis.
»Kuschelmaus aus Skåne« mochte Kuschel-Country, eine mit schwedischen Kauderwelsch-Texten versehene Country-Musik. Außerdem mochte sie Ehrlichkeit und Abende zu Hause, hatte sie geschrieben. Auf dem Bild, das sie durch den Cyberspace geschickt hatte, trug sie einen kurzen Lederrock mit Fransen. Ein kariertes Hemd, das bis zur Schamgrenze aufgeknöpft war, und spitz zulaufende Stiefel aus weißem Leder. Yippieh! Das rote Haar war zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten, und der Mund war rot und breit. Ein richtig niedliches kleines Püppchen. Aber man konnte sich natürlich täuschen.
»Kuschelmaus aus Skåne« – er hatte nicht einmal ihren richtigen Namen erfahren. Offenbar war sie eine erfahrene Internetnutzerin. Vollständige Diskretion. Er pflegte selbst ebenso vorsichtig zu sein. Sein Pseudonym »Doktor M« war ihm nach ein paar Bieren eingefallen und war eigentlich nicht sonderlich gut durchdacht, musste aber bis auf weiteres genügen. Das größte Problem an diesem Abend würde sein, sich an den Skåne-Dialekt zu halten. Unbegreiflich, wie er sich dazu versteigen konnte zu sagen, er käme auch aus Skåne. Das war ein Problem, das ihn während der Morgenstunden beschäftigt hatte, bis er auf die Idee gekommen war, seinen ungenügenden Skåne-Dialekt mit einem amerikanischen Akzent aufzuwerten, der mit etwas Glück der Dame gefallen könnte. Es war ein Teil des Spiels zu versuchen, die heimlichen Wünsche von jemandem zu erraten und diese dann zu erfüllen.
Was »Kuschelmaus aus Skåne« anging, so nahm er an, dass ein »tragisches Schicksal« die Tür zum Lustgarten des Wohlwollens und Mitgefühls würde öffnen können. Auch das gehörte zu den Dingen, die er erst hatte herausfinden müssen. Das Ergebnis der Suche nach einer passenden Identität war ein Countrysänger mit einer unheilbaren Krankheit gewesen. Nach ein paar Stunden des Suchens mit verschiedenen Suchmaschinen hatte er sich für eine unheilbare Erbkrankheit entschieden, die ein wenig diffus im Körper verteilt war. Nur noch wenige Monate zu leben. Nicht ansteckend. Zur Sicherheit hatte er sich einen lateinischen Namen ausgedacht. Strabismus. Das hörte sich gleich viel schwerwiegender an. Strabismus. Schlimm! Er verspürte schon eine dumpfe Mattheit in den Rückenmuskeln und einen diffusen Schmerz hinter der Stirn. Sein Blick wurde vernebelt. Schon bald würde es ihn auf dieser schönen Erde nicht mehr geben, aber in seiner Musik würde er weiterleben. Und selbst wenn er ihr keine Lieder vorsingen konnte, da die Krankheit gemeinerweise auf die Stimmbänder geschlagen war, so hatte er ihr doch seine Verse in einer E-Mail geschickt.