21

Maria Wern sah, wie der Krankenwagen zwischen den Bäumen verschwand und auf dem geschlängelten Weg vor dem alten Sanatorium Follingbo eine Wolke von Staub aufwirbelte. Die Hitze flimmerte zwischen den Bäumen.

»Das war Sebastian«, sagte Emil. »Ich durfte ihm nicht Tschüss sagen. Er kommt in ein anderes Krankenhaus. Stirbt er jetzt? Meine Trainerin ist auch mit dem Krankenwagen weggefahren, und jetzt ist sie tot.«

»Ich weiß es nicht, Emil. Wir können nur hoffen, dass er ganz schnell zurückkommt und dass all das Schlimme bald vorbei ist und ihr wieder Fußball spielen könnt. Wir müssen einfach glauben, dass es so wird.«

»Ich will nicht länger hierbleiben, Mama. Es ist total langweilig, und alle sind so ernst und traurig oder krank. Es gibt keinen, mit dem man zusammen sein kann. Ich will nach Hause! Jetzt gleich will ich nach Hause. Ich will nicht hierbleiben, und in der Nacht hört man komische Geräusche. Es knackt an den Fenstern und in den Wänden. Und wenn draußen Wind ist, kriegen sie Luft in ihre Stimmen. Die Gespenster nämlich. Das sind die, die vorher hier gestorben sind. In dem Zimmer hier sind Leute gestorben, weißt du das? In meinem Bett ist einer gestorben, in dem Bett, in dem ich schlafen soll. Sebastian weiß das, denn seine Tante arbeitet im Krankenhaus. Vielleicht hat einer dieses Kissen hier unter dem Kopf gehabt und ist dann gestorben, und dann machen sie einen neuen Bezug drauf und tun so, als wäre nichts gewesen. Früher sind sie an Tbc gestorben. Hinter der Tapete gibt es einen kleinen Jungen, der jede Nacht kommt. Er will mich warnen und sagt, dass ich hier abhauen soll. Lauf hier weg, so schnell du kannst! Er ist etwas kleiner als ich und hat ein Nachthemd an und ist barfuß.«

»Das musst du geträumt haben, Emil.« Maria rückte die Maske zurecht. Es war so albern, in Schutzbrille und Maske miteinander zu reden, vor allem wenn es um so ernste Dinge wie den Tod ging.

»Und wenn schon! Er warnt mich im Traum. Das gilt auch. Er hat erzählt, dass seine Mama und sein Papa und alle seine Geschwister gestorben sind und dass er mit seiner Oma allein übrig geblieben ist. Genauso allein, wie ich in der Nacht bin. Erst habe ich mir mit Sebastian E-Mails geschickt, aber dann hat er nicht mehr antworten können. Mama, ich glaube, dass er stirbt. Ich habe im Radio gehört, dass die Hälfte von den Angesteckten sterben. Sebastian hat gesagt, dass er voll krank ist und aufgeschwollen wie ein Michelin-Männchen. Werde ich auch aufgeschwollen sein?«

»Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass du gesund wirst.«

»Aber du weißt es nicht. Das kannst du gar nicht wissen. Dr. Eriksson sagt, keiner weiß, wer sterben wird. Und er weiß fast alles. Aber wer leben wird und wer stirbt, das weiß er nicht.«

 

Maria ließ sich auf der anderen Seite der Glaswand nieder und nahm das Telefon, um mit Jonatan Eriksson zu sprechen. Eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, wie sie annahm. Auch wenn der Arzt erzählt hatte, seine Untersuchungsergebnisse würden zeigen, dass er momentan keine Infektion in sich trug, lebte er doch die ganze Zeit mit dem Risiko, bei seiner Arbeit angesteckt zu werden. Deshalb hatte er sich dafür entschieden, weiterhin im Sanatorium zu wohnen. Er sah unendlich müde und traurig aus, obwohl er ganz tapfer versuchte, aufmerksam zu wirken. Die Augenlider sanken ihm langsam zu, während er sich Marias Befürchtungen anhörte, dann erwachte er mit einem Ruck und riss sich zusammen, als er antworten sollte. Es war sicher nur eines von vielen, vielen schweren Gesprächen an diesem Tag.

»Ich will die Wahrheit wissen. Wie schlimm steht es? Was denken Sie über Emil?«

Jonatan trocknete sich den Schweiß von der Stirn und sah sie mit einem Blick an, der so voller Leiden und Resignation war, dass sie zusammenschrak.

»Es gibt ein genehmigtes Medikament, Tamivir, das helfen kann. Aber wir können es nicht innerhalb der erforderlichen Zeit beschaffen. Åsa Gahnström hat Kontakt zu dem Hersteller aufgenommen und versucht, eine Vereinbarung mit ihm zu treffen, aber die sagen, sie hätten ihr Patent und ihre ganze Produktion verkauft und nichts mehr am Lager. Als es keine Epidemie gab, haben sie Pleite gemacht, und sie hatten alles investiert. Jetzt versuchen wir rauszukriegen, wohin die Medikamente gegangen sind.«

»Das kann doch nicht wahr sein! Aber Emil …«

»Es gibt keine nächste Dosis für ihn. Nichts, was wirkt. So schlimm steht es. Dennoch gehört er zu den Glücklichen, denn es scheint, als nähme seine Grippe einen milderen Verlauf. Ich glaube, Emils Chancen, gesund zu werden, sind gut. Aber es gibt andere …«

»Entschuldigen Sie. Ich sehe, dass Sie völlig abgearbeitet sind, und ich kann ahnen, wie höllisch es für Sie ist. Gibt es etwas, was ich für Sie tun könnte? Ich habe den Eindruck, als würden Sie rund um die Uhr arbeiten. Kann ich Ihnen mit irgendwas helfen?«

Er sah sie forschend an. Rang mit sich. »Sie sind doch Polizistin.«

»Ja.« Maria wusste nicht, worauf er hinauswollte.

»Ich kann kaum glauben, dass ich Sie um das Folgende bitte, aber ich sehe keinen anderen Ausweg.« Er zögerte kurz und holte dann geräuschvoll Luft, ehe er weitersprach. »Meine Frau ist Alkoholikerin. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort auf sie anwende, aber so ist es.«

Er wartete eine Reaktion von Maria ab. Was er eben offenbart hatte, war das tiefste Geheimnis seines Lebens und sein größtes Scheitern. Warum saß sie einfach da und sah ihn freundlich an, wo doch die Erde sich gerade auftat?

Er fuhr fort. »Ich habe einen Sohn, der Malte heißt, er ist sieben Jahre alt. Im Moment weiß ich nicht, wo Malte ist, denn er ist von zu Hause weggelaufen. Meine dreiundachtzigjährige Mutter sucht in der ganzen Stadt nach ihm. Nina liegt bestimmt zu Hause und schläft ihren Rausch aus. Gibt es etwas, was Sie tun können, um ihn diskret ausfindig zu machen und ihn dann zu meiner Mutter zu bringen oder zu irgendeinem anderen vernünftigen Menschen, bis das hier alles vorbei ist? Am liebsten zu jemand anders. Nina wird fuchsteufelswild, wenn er bei meiner Mutter ist, und die ist alt und herzkrank und schafft das eigentlich alles nicht mehr. Wie Sie sehen, sitze ich selbst hier in Follingbo fest, und ich würde mich besser um meine Patienten kümmern können, wenn ich nicht ständig darüber nachdenken müsste, wie es Malte wohl geht. Am liebsten würde ich nach Hause gehen und mich um meine Familie kümmern, aber das kann ich nun mal nicht. Entschuldigen Sie, ich benehme mich total unprofessionell, aber Ihre Frage hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Vergessen Sie, was ich gesagt habe, es ist völliger Blödsinn. Ich werde versuchen, es irgendwie anders zu lösen. Ich habe kein Recht dazu, Sie als Angehörige eines meiner Patienten damit zu belasten. Entschuldigen Sie: Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Ich werde tun, was ich kann. Sie kümmern sich um meinen Sohn und ich mich um Ihren. Ich werde mich mal mit einer klugen Freundin vom Sozialamt darüber austauschen, wie wir das am besten lösen. Meine Tochter ist fast genauso alt wie Ihr Sohn. Malte kann, wenn er das möchte, bei uns bleiben, bis alles geregelt ist.«

»Ich habe kein Recht, Sie so auszunutzen. Unter normalen Umständen würde ich das niemals, niemals tun, wissen Sie das?«

»Das hier sind keine normalen Umstände. Hier herrscht Ausgangsverbot. Ich werde von mir hören lassen, sowie ich etwas von Malte weiß. Haben Sie ein Foto von ihm?«

»Ja.« Jonatan holte seine Brieftasche heraus und zeigte das Foto durch die Glaswand. »Er sieht Ihrem Sohn so ähnlich. Ich kann mir vorstellen, dass Emil so aussah, als er etwas kleiner war.«

»Stimmt.« Maria spürte, wie die Unruhe in ihren Eingeweiden herumfuhr, in einem brennenden Kreislauf. Mit ihrer ganzen inneren Kraft brachte sie ihre äußere Erscheinung unter Kontrolle, lächelte und betrachtete das Foto, als wäre es ein Tag aus der Vergangenheit, als noch nichts richtig ernst oder gefährlich war. Am liebsten hätte sie geschrien und geweint und sich wie ein Kind trösten lassen, aber diese Möglichkeit gab es nicht.

Als sie draußen im Hof war, rief Maria Hartman an und erklärte ihm die Lage. Die Hitze war fast unerträglich. Sie entschied sich, ein Taxi in die Stadt zu nehmen, um Hartman bei seiner Arbeit nicht zu behindern.

»Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und komm wieder, wenn du kannst.« In seiner Stimme lag eine große Wärme, und wäre er in der Nähe gewesen, hätte Maria ihn vor lauter Dankbarkeit ganz fest umarmt.

 

Ein trauriger kleiner Junge saß auf der Mauer unten beim Café Sankt Hans, seine Kappe umgedreht auf dem Kopf, und warf mit kleinen Steinen nach den Tauben. Seine Großmutter hatte gesagt, dass er dort gern hinging, wenn er weggelaufen war und Hunger bekam. Es gibt immer nette Menschen, die einen kleinen Jungen, wenn er nur lange genug dasteht und ihnen beim Kaffeetrinken zuschaut, fragen, ob er eine Zimtschnecke will. Maria setzte sich neben ihn.

»Ich heiße Maria und bin Polizistin. Ich habe kürzlich deinen Vater kennengelernt. Er hat große Sehnsucht nach dir, Malte, und er wäre gern bei dir, aber das kann er gerade nicht. Da sind noch andere Kinder, die sehr schlimm krank sind, und er hilft ihnen, wieder gesund zu werden. Wenn diese Vogelgrippe vorbei ist …«

»Das tut er überhaupt nicht, denn Mama und ich sind ihm scheißegal.«

»Sagt deine Mama das?«

»Mama sagt gar nichts, die schläft bloß. Ich hab versucht, sie zu wecken, aber das geht nicht. Sie schläft nur und schläft und schläft … Sie ist auf dem Fußboden im Badezimmer eingeschlafen und hat sich total vollgekotzt. Ich hab ihren Kopf geschüttelt und sie in die Nase gekniffen. Aber sie hat nicht mal die Augen aufgemacht. Denn sie schläft und schläft und schläft – hundert Jahre lang.«

»Wenn du hier sitzen bleibst, dann bitte ich deine Oma, aus dem Taxi zu kommen. Ich habe sie nämlich dabei. Wenn ihr dann eine Weile hierbleibt, dann komme ich nachher und hole euch ab. Wo wohnst du denn, weißt du das?«

Maria spürte, wie die Unruhe angekrochen kam. Der Gedanke an eine sterbende Frau auf einem Badezimmerfußboden drängte sich auf. Vielleicht fing man an so zu denken, wenn man länger in dieser Branche gearbeitet hatte, eine Berufskrankheit.

»Natürlich weiß ich das. Ich wohne in der Vikingagatan.«

»Hast du einen Hausschlüssel?« Der Junge leerte langsam seine Taschen von Playmobilfiguren, Kaugummis und Verschlusskappen und fand schließlich den Schlüssel. Maria holte Maltes Oma und ging rasch zum Taxi zurück.

 

Das weiße Einfamilienhaus lag in Grün eingebettet. Ein paar Kinder spielten mit ihren Fahrrädern auf dem Bürgersteig. Sie hatten Pappstückchen in die Speichen gesteckt, um knatternde Geräusche zu erzeugen. Der kleine Junge, der vorbeifuhr, wäre fast in Maria hineingefahren, die in letzter Sekunde beiseite sprang. Ein kleines Idyll.

Maria bezahlte das Taxi und betrat den Garten, in dem das Gras lange nicht geschnitten worden war. Auf dem blau gestrichenen Gartentisch lagen eine leere Weinflasche und ein paar Spielzeugautos aus Plastik. Über die Holzbank war eine vergessene Kinderjacke geworfen. Die Vordertür war verschlossen. Maria klingelte und überlegte gleichzeitig, was sie Makes Mutter sagen würde, wenn sie aufmachte. Sie ließ es noch mal klingeln, diesmal etwas länger. Drinnen kein Lebenszeichen. Mit Hilfe von Maltes Schlüssel verschaffte sie sich Zugang.

In dem großen hellen Flur schlug ihr ein scharfer, etwas muffiger Geruch entgegen. Sie rief nach Nina Eriksson. Abgesehen von dem sturen Summen einer Fliege am Fenster war es völlig still. Frische Blumen in einer Vase vor dem Spiegel. Teure Möbel und tadellos saubere Fußböden. Es wirkte nicht so, als würden sie im Elend leben. Was Malte sagte, konnten natürlich auch Hirngespinste sein oder irgendetwas, was er im Fernsehen gesehen oder geträumt hatte. Sie eilte weiter, auf der Suche nach dem Badezimmer, und kam an einem Wohnzimmer vorbei, das vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen eingerichtet war. Mitten im Zimmer stand eine riesige Ledergarnitur, dazu große Grünpflanzen und exklusive Bodenvasen.

Die Tür zum Badezimmer war offen, und dort lag auf dem blauen Kachelfußboden eine blonde Frau auf dem Rücken. Maria hockte sich neben sie. Spürte einen schwachen Puls. Kaum feststellbare Atmung. Die Frau war klein und dünn, und es bereitete keine Schwierigkeiten, sie in die stabile Seitenlage zu bringen. Sie versuchte so gut es ging, die Reste von altem Essen aus dem Mund der Frau zu holen. Das T-Shirt, das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war braun von Erbrochenem. Maria würgte und drehte sich für den nächsten Atemzug weg. Fasste in etwas Klebriges und stand auf, um sich die Hände abzuspülen. Auf jeden Fall lebte die Frau. Der Gedanke daran, was sie hätte tun müssen, wenn da keine Atmung und kein Puls gewesen wäre, ließ ihr erneut die Übelkeit im Hals hochsteigen. Schon die Vorstellung, bei jemandem, der sich eben übergeben hatte, eine Mund-zu-Mund-Beatmung vornehmen zu müssen, ekelte sie an. Maria holte ihr Handy heraus und wählte den Notruf. Besetzt, obwohl sie es mehrmals versuchte. Noch einmal. Hatte sie vielleicht die falsche Nummer gewählt, oder riefen da jetzt so viele Leute an? Maria ging wieder in die Hocke und fühlte den Puls der Frau. Ein dünnes und unregelmäßiges Ticken unter der Haut. Jetzt geht schon ran! Schließlich kam sie durch und brachte ihr Anliegen vor. Sie versprachen, einen Krankenwagen zu schicken. Aber es würde eventuell eine Weile dauern, wenn der Zustand nicht direkt lebensgefährlich war. Derzeit waren alle Krankenwagen im Einsatz.

»Ich kann nicht beurteilen, ob es lebensgefährlich ist. Sie atmet nur sehr unregelmäßig …« Das Gespräch wurde unterbrochen, noch ehe Maria den letzten Satz beendet hatte. Sie feuchtete ein Handtuch mit kaltem Wasser an und kühlte damit die Stirn der Frau, um sie zum Aufwachen zu bringen. Die Haut fühlte sich so warm und verschwitzt an. Ein Gedanke nahm Form an. Wenn es nun kein Alkoholrausch war? Vielleicht hatte sie Fieber und war richtig krank. Ansteckend? Woher konnte man wissen, ob sie nicht die Grippe hatte?