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Petter Cederroth lag im Halbschlaf in seinem Bett und blinzelte gegen den schmalen Streifen grauen Nebels, der unterhalb des Rollos ins Zimmer drang. Sonja war da gewesen und hatte ihn zweimal geweckt, aber er hatte sie gebeten, ihn in Ruhe zu lassen, damit er noch ein wenig schlafen könnte. Sie sagte, die Polizei habe ihn gesucht, und schon um zwölf hatte eine Krankenschwester aus der Klinik angerufen und mit ihm sprechen wollen. Es hatte irgendetwas mit Berit Hoas zu tun. Die Leute begriffen einfach nicht, was eine Nachtschicht bedeutete. Wenn man um sieben Uhr nach Hause kommt, schläft man frühestens um acht. Um zwölf hat man dann gerade vier Stunden geschlafen. Vier Stunden! Wenn dann jemand anruft und fragt: »Schläfst du noch?«, wird man richtig wütend. Es würde doch auch kein Mensch einen bei Tage Arbeitenden um zwei Uhr nachts anrufen und ganz erstaunt fragen: »Schläfst du noch?« Das war einfach respektlos!

Es ist kein leichter Job, am Wochenende nachts Taxi zu fahren. Abgesehen von all den Reisenden, die mit der Nachtfähre ankommen, mit Gepäck, als wollten sie auf einer einsamen Insel überwintern, und die miteinander herumstreiten, wo die Taxischlange anfängt und wer zuerst am Schild war, gab es noch die Betrunkenen, die von der Kneipe nach Hause wollen und das Taxi vollkotzen, oder Frauen, die sich mit ihren Männern gezankt haben und jetzt die Nacht bei ihrer Schwester verbringen wollen und ihr Geld zu Hause vergessen haben. Wenn man tagsüber schläft, vermengen sich die Ereignisse der Nacht zu einem einzigen Brei.

Petter wachte davon auf, dass er fror. Als er die Decke über sich ziehen wollte, lag die auf dem Boden und war nass vor Schweiß. Draußen war es feucht und im Zimmer nicht besonders warm. Er würde doch nicht krank werden? Petter stützte sich auf und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das immer auf dem Nachttisch stand. Es war lauwarm und schmeckte abgestanden, und es tat im Hals weh, wenn er schluckte. Das wäre wirklich Pech, wenn er jetzt krank werden würde. Dabei hatte er Sonja extra instruiert, wie sie die Brieftauben entgegennehmen und die Ringe in der Reihenfolge, in der sie vom Wettkampf nach Hause kamen, in die Uhr stecken sollte. Das war wirklich nicht ganz einfach gewesen, doch so hatte er eine zusätzliche Schicht Taxi fahren können. Das Geld sparten sie für eine Urlaubsreise im Herbst, wenn der Touristenstrom versiegte. Sonja wollte so gern nach China.

Petter ließ den Kopf auf das Kissen sinken und schloss die Augen. Die Ereignisse der Nacht kreisten immer noch in seinem Kopf herum. Wenn man eine Weile lang Taxi gefahren ist, dann erkennt man allmählich die Leute, die man öfter fährt. Der Taxifahrer wird dann oft zur Unperson, zum Beobachter. Sobald einer ins Taxi gestiegen ist und die Adresse genannt hat, gibt es den Fahrer nicht mehr. So war es gestern gewesen, als er einen der Ärzte vom neuen Gesundheitszentrum gefahren hatte, natürlich ein Privatunternehmen, wo die Schwestern wie Stewardessen aussahen und so deutlich und freundlich redeten, als würden sie ständig abgehört. Sonja behauptete sogar, sie müssten vor der Einstellung Stimmproben abgeben. Reine Hammar hieß der Arzt. Petter hatte die Reportage über ihn in der Zeitung gesehen. Er war groß, an die zwei Meter, trug einen perfekten Anzug und eine perfekte Frisur, und er war erkältet oder litt an einer Allergie. Er schnäuzte sich nicht, sondern saß nur da und schniefte und räusperte sich. Nach zehn Minuten im Auto ging einem das Geräusch auf die Nerven. Seine Frau war auch in der Zeitung abgebildet gewesen, eine schicke Person, die so aussah, als wüsste sie, was sie wollte, ebenfalls Ärztin. Aber sie war es nicht, die Hammar gestern im Taxi mit dabeigehabt hatte. Das war eine süße junge Frau mit langem blondem Haar gewesen, in weißem Rock und hohen Stiefeln. Hätte seine Tochter sein können. Die Adresse lautete Jungmansgatan. Hammar wohnte in einem Haus für 4,5 Millionen Kronen auf Norderklint, wenn er nicht kürzlich umgezogen war. Das hätte aber sicher in der Zeitung gestanden.

Petter war das Risiko eingegangen, Fußgänger und Fahrradfahrer zu überfahren, um die Unternehmungen des Paares im Rückspiegel zu beobachten. Da war kein Zögern, keine Unsicherheit, als sie den Reißverschluss seiner Hose öffnete. Es war nicht das erste Mal. Als sie den Kopf herunterbeugte, fing sie Petters Blick im Spiegel auf und blinzelte ihm mit einem amüsierten Lächeln zu. Das war der Moment, als er die Ausfahrt im Rondell verpasste, doch es schien ihnen nichts auszumachen, eine weitere Runde zu drehen.

Als er aus dem Auto ausstieg, hatte Hammar Cederroth einen Fünfhunderter in die Hand gedrückt. »Sie haben Schweigepflicht, nehme ich an.«

»Selbstverständlich!«, hatte er geantwortet und den Schein in die Hosentasche geschoben. Es kann nie schaden, wenn man Trinkgeld bekommt.

Der Rest der Nacht war leider nicht gleichbleibend unterhaltsam verlaufen. Als die Fähre gegen Mitternacht kam, hatte er eine ältere Dame nach Fårö gebracht. Dort wollte sie in einer Hütte übernachten, die sie von einem entfernten Verwandten gemietet hatte, doch als sie in der Dunkelheit ankamen, wusste sie nicht genau, um welche Hütte es sich handelte. Da war es fast halb zwei Uhr nachts gewesen, und man konnte ja schlecht anklopfen, weshalb sie wieder in die Stadt zurückgefahren waren, wo sich die alte Dame im Stadshotell von Visby eingemietet hatte. Manche Leute hatten einfach zu viel Geld. Sie hatte sich für die Unterhaltung bedankt und gesagt, allein die wäre schon jeden Öre wert gewesen. Petter hatte so ein dumpfes Gefühl, als gäbe es vielleicht überhaupt keinen Verwandten auf Fårö, und sie hätte ihn für die Unterhaltung und die kleine Rundtour durch die Nacht bezahlt, als hätte es sich um ein kleines Abenteuer zu zweit gehandelt. Dabei hatte Petter kaum ein Wort gesagt, sondern sich nur die phantastischen Geschichten aus der Vergangenheit Fårös angehört und überlegt, dass er sie eigentlich hätte gratis mitfahren lassen sollen, so interessant war es gewesen. Sie hatte von dem neuen Pfarrer erzählt, dem durchs Ohr geschossen worden war, nachdem er nach Fårö gekommen war und verkündet hatte, dass die Leute dort so wie die anderen Schweden auch den Zehnten bezahlen sollten. Die Kugel steckte nach wie vor im Altarbild fest, als eine Warnung an nachfolgende Pfarrer, hatte die Dame gesagt. Und lachend hatte sie die Originale beschrieben, die ihr ganzes Leben lang Fårö nie verlassen hatten. Warum auch, wenn man sich doch im Zentrum der Welt befand und alles andere nur die Peripherie war? Und von dem Kirchenmann, der nach einem Fest von der Bremse gerutscht, vom Weg abgekommen und durch den Zaun gefahren war, der zum Haus einer gewissen Hulda gehörte. »Da kommt dein Seelenhirte, Hulda«, hatte er gesagt. »Immer mit der Ruhe, es ist nur dein Seelenhirte, Hulda.« Die alte Dame verstand es wirklich, Geschichten zu erzählen, und er hatte sehr lachen müssen. Aber das Beste war die Geschichte vom »Allvater«, dem Mann, der alle unehelichen Vaterschaften auf der Insel übernahm, damit niemand vaterlos aufwachsen musste. Deshalb sind auf Fårö alle miteinander verwandt.

Dann hatte er einen Mann mit Krämpfen in der Brust in die Notaufnahme gefahren. Eigentlich hatte Petter bei der Gelegenheit hören wollen, wie es Berit Hoas ging, doch daraus wurde nichts, denn niemand hörte auf ihn, und hinterher war er dankbar, dass der Mann trotz seiner schweren Brustschmerzen die Fahrt überlebt hatte. Der Typ hätte natürlich den Krankenwagen rufen müssen, aber er wollte keine Umstände machen. Zwischen drei und vier war es ruhig gewesen, und Petter hatte hinter dem Steuer ein Nickerchen gemacht. Das gab er auch ohne Umschweife zu, als der Infektionsarzt ihn später detailliert über die Ereignisse der Nacht befragte. Aber in diesem Augenblick hatte Cederroth noch keine Ahnung gehabt, wie viel Theater es noch geben würde.

»Also, jetzt musst du dich mal aus dem Bett bequemen, Petter. Die Polizei ist hier, um mit dir zu reden. Ich habe Kaffee aufgesetzt.« Sonja zog ihm die Decke weg und öffnete das Rollo. Das Licht schnitt ihm in die Augen, und es schmerzte im ganzen Körper.

»Wenn es um Ruben geht, dann habe ich nichts mehr zu sagen. Er lag tot in seinem Bett im oberen Stockwerk. Mehr weiß ich auch nicht.«

Polizeiinspektor Jesper Ek ließ sich am Küchentisch nieder und beobachtete Sonja Cederroth, die zwischen Speisekammer und Küchentisch mit den Keksdosen hin- und herwanderte. Die rot-grün-gelbe Dose aus Blech, deren einzelne Teile man ineinanderstapeln konnte, kannte er aus dem Haushalt seiner Großmutter. Es wurden Schmalzgebackenes und Nussplätzchen und Marzipanteilchen und Waffelröllchen und riesige Safranwecken aufgefahren. Es folgten Liebeskuchen, Schokoladenbiskuitrolle mit selbst gemachter Buttercreme, Mürbteigteilchen und Kokoskekse.

»Machen Sie meinetwegen keine Umstände«, versuchte Ek einzuwerfen, aber Sonja lächelte nur. »Mag sein, dass man sich auf dem Festland mit weniger begnügt, aber nun sind wir auf Gotland. Hier geizen wir nicht mit den guten Dingen des Lebens. Es ist doch zu schlimm, was mit Ruben passiert ist! Man mag es kaum glauben. Zuerst bringt er alle seine Tauben um, dann isst er giftige Pilze, und zu allem Überfluss lädt er auch noch Berit Hoas zum Essen ein. Dieser liebe Mensch kann ihm doch nichts Böses getan haben!«

»Sonja, so war es doch gar nicht.« Petter Cederroth hatte es geschafft, sich Hosen und ein Hemd überzuziehen, bis zu den Strümpfen hatte es nicht gereicht.

Ek holte Block und Stift hervor und notierte die notwendigen Formalitäten.

»Jetzt erzählen Sie mal von Anfang an, was passiert ist. Sie kamen also um zehn Uhr vormittags zu Ruben Nilsson. Was wollten Sie von ihm?«

Petter berichtete vom Auflasstermin des Brieftaubenwettbewerbs, zu dem Ruben nicht erschienen war, und von dem schrecklichen Anblick im Taubenschlag. Dass er dann, als Ruben nicht aufmachte, zur Nachbarin Berit Hoas gegangen war und danach eine Scheibe eingeschlagen hatte, um zu sehen, was los war. »Mag sein, dass er sich umgebracht hat, aber er hatte nicht das Pilzgericht gekocht. Das war Berit. Ich habe auch schon mal Morchelragout bei ihr gegessen, und das war vollkommen in Ordnung. Wenn jemand kochen kann, dann ist es Berit Hoas.«

»Ach, wirklich?«, meinte Sonja. »Wann bist du denn bei Berit zum Essen gewesen? Das hast du mir ja gar nicht erzählt, Petter. Dann solltest du vielleicht auch in Zukunft dort essen. Zieh doch am besten gleich bei ihr ein. Das hattest du doch vor, ehe du mich an den Hals gekriegt hast. Damals wollte sie dich nicht, aber vielleicht hat sie ihre Meinung inzwischen geändert.«

»Vielleicht sollten wir versuchen, beim Thema zu bleiben«, warf Ek ein, als er merkte, wie Sonja ansetzte, um weiterzureden. Ohne es zu wollen, war Petter ihr auf den Schlips getreten. Wenn Sonja Cederroth auf eines im Leben stolz war, dann darauf, was sie auf den Tisch brachte, und da ertrug sie auch keine Vergleiche. Petter schien das völlig egal zu sein. Offenbar kam die Sache nicht zum ersten Mal zur Sprache. Er setzte sich an den Küchentisch und legte den Kopf in die Hände. Ek betrachtete ihn. Er sah wirklich nicht gesund aus. »Hatte Ruben Nilsson irgendwelche Feinde?«, fuhr Ek fort. »Und ist Ihnen in der letzten Zeit irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Keine Freunde und keine Feinde. Am Donnerstag war ein Bilderverkäufer hier, aber ansonsten haben wir keine Fremden gesehen.« Sonja blieb mit dem Kaffeekessel in der Hand stehen und dachte nach. »Ruben war ein sehr einsamer Mensch. Er ließ niemanden richtig in sein Leben hinein. Neulich habe ich in einer Zeitschrift gelesen, dass es eine Geschlechtskrankheit gibt, die Chlamydia heißt, eine Art Papageienkrankheit. Wenn Tauben die kriegen, können sie eine Lungenentzündung bekommen und sterben.« Sonja schüttelte sich vor Schaudern.

»Aber so war es doch nicht, Sonja. Als Björkman von seinen Tauben Lungenentzündung bekommen hat, da hieß es Papageienkrankheit, und das ist keine Geschlechtskrankheit. Du bringst das durcheinander. Du kannst nicht einfach Sachen über andere Leute verbreiten, wenn du nicht begreifst, wie es wirklich ist.«

»Und was machen Sie jetzt? Wer beerbt ihn denn, sein Bruder womöglich?«, fuhr sie in mürrischem Ton fort. »Oder die Nichte? Sie wissen sicher, dass das Mikaela Nilsson ist, die in der Regierung sitzt. Als Gleichstellungsministerin. Na, aber die wird ja Geld haben. Es war sowieso nie richtig klar, wer von den beiden Brüdern ihr Vater ist, Ruben oder Erik.«

»Das geht uns nichts an, Sonja.« Cederroth schüttelte seinen Kopf mit dem zerzausten Haar. Das Verhalten seiner Ehefrau war ihm sichtlich peinlich, aber er antwortete ihr dennoch. »Ruben hätte sicher nicht gewollt, dass Erik ihn beerbt, das ist ja wohl klar. Bestimmt hat er irgendwo ein Testament versteckt.«

 

Als Ek einen dritten Kaffee ablehnte und sich verabschieden wollte, begleitete Petter Cederroth ihn zur Tür. Die Höflichkeit verlangte das, aber es fiel ihm schwer, vom Tisch aufzustehen. Der Kopf schmerzte, und jeder Muskel im Körper war verspannt. In der letzten halben Stunde hatte Petter sich einfach nur gewünscht, sich wieder hinlegen zu dürfen, aber Sonja hatte alles aufgefahren, was die Speisekammer zu bieten hatte. Sie wollte dem Polizisten offensichtlich beweisen, dass sie keine schlechtere Hausfrau war als die Köchin.

»Was geschieht jetzt?«, wollte Petter wissen. »Ich meine wegen der Beerdigung und so? Wer kümmert sich darum?«

»Das werden wohl die nächsten Angehörigen tun müssen, es sei denn, im Testament ist etwas anderes verfügt. Aber er kann erst beerdigt werden, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind. Wir werden von uns hören lassen. Im Moment gibt es nichts, was auf ein Verbrechen hinweist, aber wir warten mal die Obduktion ab.«

»Er soll obduziert werden?« Petter rieb sich mit der Hand über die Bartstoppeln. »Ist es denn notwendig, auf diese Weise Steuergelder zu verschwenden? Er war doch alt. An irgendwas wird man ja wohl sterben dürfen.«