30

Maria bestellte einen Blumenstrauß, der an den Kollegen Ek im Sanatorium von Follingbo geschickt werden sollte, schaute auf die Uhr und loggte sich aus dem Computer aus. Sie war gerade von einer Informationssitzung gekommen, die wegen des Ausgangsverbots anberaumt worden war. Sämtlicher Urlaub war gesperrt worden, und obwohl man eine Zusammenarbeit mit der Bereitschaftspolizei und den Wachunternehmen vorbereitete, musste man mit Überstunden rechnen, wenn der Flughafen und die Häfen, aber auch Apotheken, Krankenhaus und Ambulanzen bewacht werden mussten. Für Maria als Ermittlerin würde das keinen großen Unterschied bedeuten, aber die Situation war beängstigend und die Arbeitsverteilung unklar. Die beiden großen Fragen, für die es noch keine Lösung gab, waren, wer das bezahlen sollte und wer die Verantwortung übernehmen würde.

Als Maria nach ihrer Jacke griff, hörte sie Hartman mit jemandem am Telefon Englisch reden. Er war nicht gerade sprachbegabt. Wenn man mit falscher Satzmelodie und starkem gotländischen Akzent über richtig ernste Dinge redete, dann wirkte das leicht komisch. Hartman war in Martebo aufgewachsen, und trotz der vielen Jahre auf dem Festland war der Dialekt immer noch da. Maria versuchte nicht zu lachen – das, worüber da geredet wurde, war wirklich nicht zum Scherzen. Er gab wirklich sein Bestes und setzte voraus, dass alle anderen das auch taten. Er war großzügig, bis an die Grenze zur Naivität, und vielleicht war genau das der Grund, dass er oft Erfolg hatte, wo andere scheiterten. Der grundehrliche gute Wille schien immer durch, und die Menschen wagten es, sich ihm anzuvertrauen.

»Sergej Bykov«, buchstabierte Hartman mit viel Mühe. Einen Moment später stand er in der Tür, mit Schweiß auf der Stirn und großen feuchten Flecken unter den Armen von der Anstrengung, Englisch zu reden, aber voller Enthusiasmus.

»Der Bilderverkäufer hat einen Namen bekommen. Wir haben es über die Narbe versucht. Sie ist bei einem Raubüberfall entstanden. Er heißt Sergej Bykov und kommt aus Weißrussland. Seine Frau hat angegeben, er habe nur eine kurze Fahrt nach Schweden unternehmen wollen, um Bilder zu verkaufen, und sie habe ihn am Sonntag, den 1. Juli, zurückerwartet. Ihre Geschichte ist so traurig, dass man davon einen Kloß im Hals bekommt. Sergejs Sohn ist nierenkrank, und er sollte eine Niere von seinem Vater bekommen, aber die Operation kostet Geld, und es fehlte noch ein Tausender. Das Geld wollte Sergej in letzter Minute beschaffen, indem er seine Bilder verkaufte. Die Operation war für Montag angesetzt, aber Sergej kam nicht.«

»Wissen wir mehr von ihm? Wo wohnte er? Was war sein Beruf?« Maria hängte die Jacke zurück. Das hier war ein Durchbruch, der ohne Zweifel viele unmittelbare Maßnahmen und Überstunden erforderte. Sie musste zu Hause bei Marianne Hartman anrufen, ob sie sich noch eine Weile länger um Linda und Malte kümmern konnte.

»Sergej stammte aus Bjaroza. Das liegt in Weißrussland, südwestlich von Minsk. Er züchtete dort Labormäuse und Meerschweinchen und andere Versuchstiere für die Labore der Pharmaindustrie. Der Konzern heißt Desponia, und die Pharmaindustrie ist ein Teil davon, außerdem gibt es noch eine Entwicklungsabteilung für ein System zur Lebensmittel- und Warentransportmarkierung sowie ein Institut für verjüngende Chirurgie. Soweit ich es verstanden habe, betreibt der Konzern sogar Kliniken für übergewichtige Europäer und Amerikaner. Der Hauptfirmensitz ist in Montreal, es gibt aber Niederlassungen in der ganzen westlichen Welt. Wenn du bei den nächsten Nachrichten auf die Börsennotierungen achtest, dann wirst du sehen, dass es ein erfolgreicher Konzern ist.«

»Und was passiert jetzt mit Sergejs Sohn?« Maria konnte nicht umhin, diese Frage zu stellen, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kannte.

»Er ist sehr schwer krank. Ich weiß nicht, wie die allgemeine Krankenversorgung in Weißrussland aussieht. Sie hatten Geld gespart, um die Operation in der Privatklinik durchführen zu lassen, die zu dem Betrieb gehört, bei dem Sergej gearbeitet hat. Man kann nur hoffen, dass sie dem Jungen helfen können und einen anderen Spender finden.«

»Das Geld, das sie für die Operation vorgesehen hatten, werden sie jetzt, wenn Sergej sie nicht länger versorgt, vielleicht für den Kauf von Lebensmitteln verwenden müssen.«

Maria schloss einen Moment die Augen und dachte daran, wie sie sich kürzlich im Pausenraum bei Mårtensson darüber beklagt hatte, dass sie es sich nicht leisten konnte, ein Haus zu kaufen.

Sie rief zu Hause an, und Linda ging ran.

»Du darfst noch nicht kommen, denn wir zelten heute. Wir dürfen im Garten im Zelt schlafen, das hat Marianne uns versprochen. Das ist supergemütlich, und Marianne wird auch im Zelt schlafen und aufpassen, dass keine Gespenster kommen.«

»Kann ich sie mal sprechen?« Maria wartete und hörte, wie Linda die Treppe zur anderen Wohnung hinunterlief.

»Na ja, ich dachte mir, dass du vielleicht gern mal einen Abend für dich hättest. Tomas wird bald zu Hause sein, und die Kinder wollten so gern zelten, also, wenn es für dich in Ordnung ist, dann reicht es, wenn Aschenputtel den Ball um Mitternacht verlässt«, lachte sie.

»Ehrlich gesagt bin ich ein wenig überrumpelt. Was sagt denn Maltes Vater dazu? Ich werde erst Jonatan Eriksson anrufen und ihn fragen müssen.«

»Er war heute hier, und eigentlich war es seine Idee.«

 

Zwei Stunden später saßen Jonatan und Maria in einem mittelalterlichen Keller an der Klosterruine von St. Nikolai. Das Restaurant bot gebratenes Lamm, Ofenkartoffeln, Erdbeersalsa, Kichererbseneintopf und viele andere leckere Speisen.

»Also haben sie dich aus dem Krankenhaus gelassen?«, fragte Maria.

»Die Untersuchung hat gezeigt, dass ich keine Infektion mit mir herumtrage. Man kann das Personal nicht wie Geiseln halten. Und wenn wir uns nicht auf die Schutzausrüstung verlassen könnten, dann würde sich niemand trauen zu arbeiten.«

Erst hatten sie vorgehabt, sich in den schönen Garten unter einen gigantischen Walnussbaum zu setzen, aber es war ein wenig kühl, deshalb hatten sie sich entschieden, in den Keller hinunterzugehen, in dem früher einmal die Mönche gewohnt hatten, die beim Bau des Klosters geholfen hatten.

Sie setzten sich an den langen Tisch und bestellten jeder ein Bier, das in einem Tonkrug serviert wurde. Die vielen Kerzen in den Wandhaltern und die Öllampen auf den Tischen verbreiteten ein warmes Licht und spiegelten sich wie kleine weiße Fackeln in Jonatans Brille. Sie sprachen eine kleine Weile über die Kinder, bis Maria das Gefühl hatte, sie könne es wagen, nach Nina zu fragen.

»Weißt du, es ist so komisch, ihre Alkoholsucht nicht verheimlichen zu müssen, nachdem ich mich so viele Jahre lang mit Unwahrheiten und Ausflüchten umgeben habe. Nina liegt immer noch im Krankenhaus. Sie hat eine Lungenentzündung. Sie hatte sich übergeben und das Erbrochene in die Lungen hinuntergezogen, als sie auf dem Rücken lag. Sie hätte tot sein können.«

»Wie furchtbar.« Maria sah den Schmerz in seinem Gesicht. Eine Zeitlang sagte er nichts, sondern sah sie nur mit unergründlichem Blick an. Maria hatte das Gefühl, beurteilt zu werden. Hätte sie etwas anderes sagen sollen? Mehr fragen oder still sein sollen? Sie wünschte, er würde sich ihr anvertrauen.

»Für Malte ist es am schlimmsten. Es tut mir so weh und macht mich so wütend. Er glaubt, dass eine Mutter so sein müsse. Er hat ja keinen Vergleich. Es ist normal, eine Mutter zu haben, die den halben Tag im Bett liegt und dann plötzlich von den Toten aufersteht und Wasserlandschaften und Rutschbahnen und Computerspiele und neue Spielsachen verspricht, und dann wird wieder nichts aus all dem, was sie versprochen hat. Ein paar Stunden später schlägt es um. Sie ist auf Entzug und wird wütend und schnauzt ihn an, und alles, was er macht, ist falsch. Wenn sie Arbeit hätte, wäre es vielleicht anders, aber so ist es nun einmal nicht.« Jonatan holte tief Luft und biss die Zähne zusammen. Maria legte ihre Hand auf seine. Auch jetzt sagte sie nichts. Sie konnte keine passenden Worte finden.

Am anderen Ende des langen Tisches ließ sich ein Pärchen nieder. Die beiden küssten sich, und ihre Hände suchten einander unter dem Tisch. Ihre Wangen glühten, die Augen glänzten, und sie sahen nur einander. Jonatan musste lächeln. »Schon ganz schön lange her, seit ich so dasaß und …« Er legte seine andere Hand auf Marias, und sie zog ihre nicht weg. Er sah ihr ernst in die Augen. »Es hätte eine Erleichterung für mich sein können, wenn Nina gestorben wäre. Ich weiß, dass du findest, ich sollte das nicht sagen. Ich sollte das nicht fühlen. Aber das tue ich. Sie hat mir das Leben zur Hölle gemacht, und ich würde keine Minute länger bei ihr bleiben, wenn ich nicht Angst hätte, das alleinige Sorgerecht für Malte nicht zu bekommen.«

»Sie braucht Hilfe.«

»Sie will keine Hilfe. Ihrer Meinung nach hat sie keine Probleme. Es ist sozusagen mein Problem. Ich habe sie im Stich gelassen, deshalb muss sie sich sinnlos betrinken. Außerdem gibt es auf Gotland keine Klinik dafür. Die nächste ist Runnagården in Örebro. Ich habe versucht, mit ihr zu reden, aber sie weigert sich zuzuhören. Wenn sie zwangsweise eingewiesen würde, dann wäre das eine Tatsache, die mir im Sorgerechtsstreit einen Vorteil verschaffen würde. Sie würde nicht verstehen, dass ich ihr helfen will, und sie will mir keinen Trumpf in die Hand geben. Wir sind in einen Stellungskrieg geraten, in dem jeder Schachzug strategisch begründet ist. Wir verletzen einander wissentlich, obwohl das keiner von uns möchte. Ich weiß, das klingt krank, aber so ist es.«

»Inwiefern hast du sie im Stich gelassen?«

Jonatan seufzte tief, ließ Marias Hand los und lehnte sich zurück, als bräuchte er Distanz, um klar denken zu können.

»Ich habe sie betrogen. Vor ein paar Jahren, als wir mit der Infektionsklinik auf einer Fortbildung auf dem Festland waren. Ein einziges Mal ist es passiert. Nina und ich hatten über zwei Jahre lang keinen Sex gehabt. Ich kann nicht anders, aber es ekelt mich an, dass sie sich erst betrinken muss, um Lust zu haben. Dann will ich sie nicht, und so wird es nie etwas. Von einer Freundin, die es von einer anderen Freundin hatte, hat sie erfahren, dass ich sie betrogen habe. Ich war so feige zu behaupten, dass wir nur im Hotelzimmer gesessen und geredet hätten. Aber es war mehr als das – es war nicht vorhergesehen, nicht geplant. Wir waren beide ausgehungert. Das merkte man schon, als wir tanzten. Wir konnten gar nicht genug voneinander bekommen, und die anderen fingen schon an, ihre Kommentare abzugeben, also beschlossen wir, auf meinem Zimmer einen Drink zu nehmen, und dann … Ehrlich gesagt würde ich es ohne Zögern wieder tun. Das war es wert.«

»Seht ihr euch immer noch?« Maria musste das fragen, obwohl es sie eigentlich nichts anging. Überhaupt nichts. Und doch wollte sie es wissen. Es lag sozusagen in der Luft, das aufkeimende Gefühl, dass etwas passieren würde. Maria wischte den Gedanken beiseite. Er war schließlich verheiratet! Und sie sollte es ja wohl besser wissen, als sich von einem Mann täuschen zu lassen, der eben zugegeben hatte, dass er untreu gewesen war, weil seine Frau ihn nicht verstand. Intelligente Frauen fielen auf solche einfachen Finten nicht herein. »Triffst du dich immer noch mit der Frau?«

»Nein, wir haben gar keinen Kontakt mehr. Sie wollte nicht. Vorher war nichts zwischen uns, wir waren nur Arbeitskollegen, und hinterher war auch nichts. Es war nur damals, in dem Moment, und ich möchte dieses Erlebnis nicht missen. Findest du mich schlimm?«

»Nein.« Was sollte sie sonst sagen, wenn er sich so verletzlich machte? Das Leben war nicht immer so, wie man es sich wünschte. Nur selten fanden sich einfache Antworten auf schwierige Fragen, und wer hatte das Recht, einen anderen zu verurteilen, der sich nach Liebe sehnte und das nahm, was sich ihm bot?

»Wie ist es denn bei dir? Gibt es einen Mann in deinem Leben?« Er sah sie belustigt an, als er merkte, dass die Frage sie ein wenig genierte.

Maria nahm einen Schluck Bier und dachte nach. Es wäre so einfach zu sagen: Ja, er heißt Emil und ist zehn Jahre alt. »Es gab jemanden, aber es ist nichts daraus geworden. Er konnte nicht warten, und dann … dann passierte etwas. Er bat mich um eine vertrauliche Information über eine laufende Ermittlung, aber ich weigerte mich, und seither haben wir uns nicht mehr gesehen. Er hieß Per.«

»Aber du denkst an ihn, oder? Er bedeutet dir immer noch viel.« Jonatan lächelte, kniff ein Auge zu und sah sie listig an. »Oder täusche ich mich?«

»Ja, aber ich habe mich entschieden, ihn zu vergessen. Es bringt ja nichts. Er wird nicht zurückkommen.« Maria stand auf und ging zur Toilette. Sie wärmte sich die Hände ein wenig am Feuer, und als sie zurückkam, war die vertrauliche Stimmung gebrochen. Es hatte sich noch eine Gruppe am langen Tisch niedergelassen, und der Geräuschpegel war gestiegen.

»Weißt du, was ich gerade gedacht habe?«, sagte er, als sie sich wieder gesetzt hatte. »Diese Brieftaube, die in den Taubenschlag von Ruben Nilsson gekommen ist, hatte das Vogelgrippevirus in mutierter Form, und sie kam aus Weißrussland. Zuvor ist die Vogelgrippe nur von Hühnervögeln verbreitet worden und nicht von Tauben. Ich glaube, dass jemand sie präpariert, also absichtlich infiziert haben könnte. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Bevor wir uns eben getroffen haben, habe ich in den Nachrichten gehört, dass der Tote, der in Klintehamn gefunden worden ist, aus Weißrussland stammte. Ist das nicht seltsam?«

»Ich wusste gar nicht, dass Ruben Nilsson von einer Taube angesteckt wurde. Ich dachte, seine Vögel seien von Wildenten angesteckt worden. Woher weißt du, dass es eine Taube aus Weißrussland war?« Maria beugte sich vor, um besser hören zu können, und Jonatan berührte leicht ihre Wange, als er antwortete.

»Er hatte den Ring der Taube mit in die Bibliothek genommen und eine Bibliothekarin um Hilfe mit der Website des Brieftaubenzüchterverbands gebeten, um herauszukriegen, woher sie kam. Sie stammte aus Bjaroza in Weißrussland. Ihr solltet mal untersuchen, ob Sergej, oder wie er nun hieß, mit der Vogelgrippe infiziert war.«

»Ich glaube nicht, dass man das untersucht hat. Damals hat niemand an die Vogelgrippe gedacht, die Zeitungen waren voller Schreckensnachrichten über multiresistente Tbc und angesteckte Kindergartenkinder. So schützen Sie sich und Ihre Familie – die ganze Palette! Der Alarm mit der Vogelgrippe kam erst später.«

»Wenn ihr das wisst, dann würde ich es natürlich auch sehr gern erfahren. Vielleicht arbeiten wir ja am selben Puzzle, und da bringt es uns etwas, wenn wir die Teile des anderen sehen können. Bist du für die Ermittlungen um den Mord von Sandra Hägg zuständig?«

»Ja, weißt du etwas von ihr?« Maria sah die Veränderung in seinem Gesichtsausdruck, als sie die Frage stellte. Diese Sache war ihm wichtig.

»Sie hat lange bei uns in der Infektionsklinik gearbeitet.«

Ein Gedanke schoss Maria durch den Kopf. Sie spürte, dass Jonatan sie beobachtete, während sie ihn zu formulieren versuchte.

»Was ist denn?«, fragte er.

»Als du auf dieser Fortbildung warst, mit deiner Arbeit. Die Frau, mit der du eine Nacht verbracht hast. War das Sandra Hägg?«

»Nein, aber ich mochte sie sehr gern.«

»Kennst du einen Medizinjournalisten, der Florian Westberg heißt?«

»Ja, warum fragst du? Hat er was mit den Ermittlungen zu Sandra Häggs Ermordung zu tun? Du schaust so komisch, ihr glaubt doch wohl nicht, dass Florian … Weißt du, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er sie umgebracht haben könnte. Auf keinen Fall. Er trägt keine Aggression in sich. Wir waren zusammen beim Militär. Er konnte keine Befehle annehmen, wollte immer diskutieren und analysieren und argumentieren. Er hat den Oberst wahnsinnig gemacht, obwohl er einfach nur sanft und freundlich war. Wir nannten ihn den Hamster.«

»Warum denn das? Ich habe ein Foto von ihm gesehen, und er wirkt recht mager. Hat er militärische Ausrüstung gebunkert?«

»Nein, er kriegte Mumps. Das war eigentlich gar nicht witzig. Er war schwer krank, mit Hirnhautentzündung. Den Rest des Militärdienstes musste er nicht ableisten, aber ich hätte nicht mit ihm tauschen mögen. Als ich ihn im Krankenhaus besuchte, war seine Freundin gerade da. Yrsa hieß sie. Ich erinnere mich an sie. Sie war so eine Traumfrau mit langem blondem Haar und unschuldigen blauen Augen, nach der alle ganz verrückt waren. Süß, auf eine natürliche Weise – ungefähr so wie du.« Er lächelte, als er Marias Grimasse sah. Sie war wirklich nicht gut im Annehmen von Komplimenten. Sie brachen auf und gingen in den Garten hinaus, um sich die Feuerschlucker anzuschauen und der Musik der Gaukler zu lauschen. Das Portal zur Klosterruine von St. Nikolai stand halb offen. Sie ließen sich hineinziehen – zu dem überwältigenden Sonnenuntergang, der von den hohen Fensterbogen eingerahmt wurde. Andächtig gingen sie den Gang hinunter und spürten, wie mächtig die Geschichte an diesem Ort von der Zeit erzählte, als das Kloster noch prächtig und voller Leben gewesen war.

»In der Zeit der Pest meinte man, die Ansteckung käme durch schlechte Luft. Die Ärzte trugen Schutzkleidung mit einer Maske, die wie ein langer Vogelschnabel aussah. In dem Schnabel bewahrte man aromatische Mittel auf, die angeblich die Luft reinigten. Wenn man sich heute die Bilder von damals ansieht, meint man, der personifizierten Vogelgrippe gegenüberzustehen.«

Jonatan wollte gerade weitererzählen, als hinter ihnen ein Geräusch zu hören war und die Tür zugeschlagen wurde. Ein Schlüssel wurde herumgedreht. Sie riefen und pochten an die Holztür, doch die Geräusche wurden von der Musik draußen verschluckt.

»Ich kann meine Jacke um dich legen, dann schlafen wir heute Nacht hier«, schlug Jonatan vor und legte den Arm um sie. Maria schüttelte den Kopf. Der Gedanke war verlockend, aber nicht gerade unkompliziert.

»Man muss doch irgendwie rauskommen können«, sagte sie. »Auf der Ostseite ist es niedriger, da muss man nur an dem Stacheldraht vorbei.« Sie ging den Gang hinunter. Er ließ ihre Schulter nicht los, und als sie sich zu ihm drehte, legte er seine Wange an ihre, suchte ihren Mund und gab ihr einen kleinen Kuss. Sie beantwortete ihn nicht, sondern starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Er begann zu lachen. Sie sah zu lustig aus.

»Wenn wir eine Bank hierherschieben, können wir zum Fenster hinaufklettern. Wenn man dann den Stacheldraht ein wenig abschneidet, müsste man durchkommen und auf die Straße hinunterspringen können. Es ist nicht sonderlich hoch.«

Sie sprach schnell und gepresst. Es durfte nicht geschehen. Das Verlangen steckte in ihrem Körper und machte sie zu einem leichten Opfer für Berührungen. Wie lange war es her, dass jemand sie so berührt hatte? Er ist verheiratet! Und es wird mir nur wehtun, dachte sie wieder und wieder. Ich will kein kompliziertes Leben, ich will nicht betrogen werden. Denk an Nina, sie braucht ihn jetzt mehr denn je. Ich muss hier raus, sofort!

»Wenn du es wirklich für notwendig hältst, meinetwegen. Ich habe ein Schweizer Taschenmesser dabei. Aber irgendwie finde ich es schade. Ich mag es, mit dir eingeschlossen zu sein. Es fällt mir wirklich niemand ein, mit dem ich lieber eingeschlossen wäre. Kannst du es nicht auch etwas gemütlich finden? Wir sind beide Opfer des Zufalls, niemand ist schuldig. Das ist doch die Chance, oder?«

»Lass uns die Bank dort hinschieben, dann können wir leichter rausklettern.«

 

Als sie wieder draußen waren, rief Maria ein Taxi. Jonatan nahm sie zum Abschied in den Arm und bedankte sich für den schönen Abend. Sie merkte, dass er an ihrem Haar roch und seine Hände langsam über ihren Rücken gleiten ließ. Sie stand ganz still, konnte der Zärtlichkeit nicht widerstehen. Es fühlte sich wunderbar an.

»Du riechst genau richtig«, sagte er.

»Wie, richtig?«, lachte sie und ließ ihn los.

»Das hat etwas mit den Pheromonen zu tun. Kommst du mit zu mir? Ich meine, ich fände es schön.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich mag dich, Jonatan, und ich will dich gern wiedersehen. Aber du bist verheiratet und hast eine Frau, die dich braucht, und einen Malte, der sowohl seine Mama als auch seinen Papa liebt.«

»Ach, so habe ich das gar nicht gemeint. Ich dachte, wir könnten Memory spielen oder einen Kaffee trinken oder so. Ich hoffe doch, dass du nichts anderes gedacht hast.« Er lachte hinterhältig und half ihr ins Taxi. »Wenn du es jetzt gleich bereust, wird es billiger, als wenn du erst nach Klinte fährst und es dir dann auf halbem Weg anders überlegst.«

»Vielleicht ein andermal, Jonatan.« Sie fühlte sich stark und voller Selbstdisziplin, als sie das sagte, doch noch ehe das Taxi aus der Stadt war, war sie in ihrer Phantasie schon in seinem Arm, in der Ruine eingeschlossen, wo keine Augen und keine Ohren sie beobachteten. Sie spürte noch immer sein Streicheln auf ihrem Rücken, und es ließ ihr keine Ruhe.