20
Jonatan Eriksson schloss die Tür zu seinem Zimmer, nahm die feuchte Schutzmaske ab und ließ sich am Computer nieder, um die erforderlichen Notizen in den Bericht einzufügen. Das Hemd klebte von Schweiß, und die Hände zitterten, als er das Mikrofon nahm und die Maßnahmen beschrieb, die er in den letzten Stunden hatte durchführen müssen. Elf Kinder, alle mit Fieber, Halsschmerzen und Gliederschmerzen, waren im Laufe des Vormittags aus dem Fußballcamp ins Sanatorium gebracht worden. Es gab keine Einzelzimmer mehr für alle. Sie mussten sich Zimmer teilen, was das Risiko barg, dass eines der Kinder vielleicht keine Vogelgrippe hatte, sondern normale Grippesymptome und sich anstecken könnte. Die Eltern waren, gelinde gesagt, aufgebracht und brauchten Zeit für Gespräche. Die meisten von ihnen wollten bei ihren Kindern bleiben, aber man hatte die Grundsatzentscheidung treffen müssen, dies nicht zu genehmigen. Atemschutzmasken und Schutzkleidung reichten nicht aus. Eine neue Lieferung Atemschutzmasken würde es erst nächste Woche geben, denn sie waren beim Lieferanten ausgegangen. Zu einem gewöhnlichen Papiermundschutz überzugehen, würde ein großes und unnötiges Risiko bedeuten.
Die personelle Situation wurde immer schwieriger. Diejenigen vom Pflegepersonal, die noch nicht krank geworden waren, arbeiteten rund um die Uhr. Die zusätzlichen Ärzte, Schwestern und Pfleger, die gestern hätten kommen und sie ablösen sollen, waren noch nicht eingetroffen, da zwischen Sozialverwaltung und Gewerkschaft noch Verhandlungen liefen, ob es den Tatbestand der Arbeitsverweigerung erfüllte, angesichts eines so hohen Infektionsrisikos den Dienst zu verweigern. Zudem stieg die Anzahl der Krankschreibungen unter den Leuten, sowohl im Krankenhaus als auch im Sanatorium. Am liebsten wollte man natürlich Personal haben, das mit der Arbeit auf einer Infektionsstation vertraut war. Wahrscheinlich würde man aber, noch ehe der Abend kam, diesen Ehrgeiz aufgeben müssen und alle Hände nehmen, die willig waren zu helfen.
Jonatan konnte alle verstehen, die sich weigerten und verhandeln wollten. Auch die Loyalität des Pflegepersonals hat Grenzen. Jemand muss es tun, aber warum gerade ich? Warum ausgerechnet ich? Diese Frage hatte er sich auch gestellt. Vielleicht hatte in seiner Entscheidung, als er beschloss, im Dienst zu bleiben, eine Mischung aus Todessehnsucht, Schuldgefühl und Verpflichtung gelegen.
Die Intensivstation in Follingbo konnte keine weiteren Patienten mehr aufnehmen, die Infektionsabteilung auch nicht, der Ansturm der Allgemeinheit auf die Ambulanzen ließ das ganze Gesundheitssystem allmählich kollabieren. Am Morgen war ein Mann mit Grippesymptomen und Herzinfarkt gestorben, während er zu Hause auf den Arzt wartete. Eine Frau mit perforiertem Blinddarm war auch nicht schnell genug versorgt worden und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Und in dem Zelt, das man vor dem Krankenhaus aufgestellt hatte, um Temperatur und andere Anzeichen auf Grippe zu kontrollieren, war ein Tumult ausgebrochen, als den Patienten der Zutritt zur Ambulanz verweigert worden war.
Was Jonatan Eriksson jedoch im Moment am meisten Sorgen machte, war, dass es dem einen der beiden zehnjährigen Jungen, die am gestrigen Tag eingeliefert worden waren, Sebastian Wahlgren, sehr schlecht ging. Emil Wern schien mit der Infektion besser klarzukommen. Man hatte Kontakt zu den Eltern von Sebastian aufgenommen, sie würden jeden Moment kommen. Jonatan graute vor diesem Gespräch. Tut mir leid, aber wir haben nicht mehr zu bieten als allgemeine Pflege und gutes Zureden. Vielleicht wird man ihn an das Beatmungsgerät anschließen müssen, aber es gibt keine mehr auf der Insel. Für die bestmögliche Pflege müsste er nach Linköping gebracht werden. Dort ist ein Platz frei, aber auch dort hat man keine antiviralen Medikamente zur Verfügung.
Die Patienten aufs Festland zu bringen, auch das war ein Risiko, das man in der gegenwärtigen Situation eingehen musste. Wenn man da am Bett stand und zusah, wie es einem zehnjährigen Jungen immer schlechter ging, und wusste, dass seine Überlebenschancen größer waren, wenn er die Insel verließ, was machte man dann? Eine kleine Chance, aber man nahm sie natürlich wahr.
Jonatan hatte Åsa Gahnström seine Arbeitssituation in scharfen Worten dargelegt, und sie beteuerte, der nationale Seuchenausschuss würde sein Möglichstes tun, um Tamivir zu bekommen. Das war ein Medikament, das sich in Tests als wirkungsvoll gegen die Vogelgrippe erwiesen hatte, die in Vietnam und dann in Weißrussland ausgebrochen, dann aber wieder abgeklungen war, sodass die Pandemie, die man befürchtet hatte, ausblieb. Doch es sah nicht gut aus. Die Darreichungen, die man über einen Internethändler gekauft hatte, hatten sich als wertlose Zuckerpillen mit einem Zusatz von Kortison und Anis entpuppt. Aus China importiert.
Es klopfte an der Tür, und Jonatan setzte seine Atemschutzmaske wieder auf.
»Sebastians Eltern sind jetzt da.« An der Stimme erkannte er Schwester Eva, ansonsten sahen sie und Schwester Agneta vollkommen gleich aus, wenn sie eine Maske trugen. Jonatan verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Er hätte sich erkundigen sollen, wie es Schwester Agneta ging. Das war seine verdammte Schuldigkeit als Chef. Aber was könnte er ihr zum Trost sagen? Nicht viel. Und die Müdigkeit ließ alles erlahmen. Wenn er lebend aus diesem Inferno herauskäme, dann würde er sich vor allen verstecken und ewig mit niemandem reden und mehrere Tage lang schlafen, seinen Job als Arzt kündigen und niemals, niemals mehr Entscheidungen treffen, die mit dem Leben und der Gesundheit anderer zu tun hatten.
»Helfen Sie ihnen bitte mit der Schutzkleidung. Ich rufe Åsa Gahnström an und erkundige mich, wie die Verhandlungen vorwärtsgekommen sind und ob es etwas Neues gibt. Wie nehmen sie es auf?«
»Natürlich sind sie sehr besorgt. Werden Sie ihnen erzählen, dass Sebastian verlegt werden muss, damit er Intensivpflege erhalten kann?«
»Ich habe ihnen nur gesagt, dass es ihm schlechter geht, nicht, wie schlimm es ist. Das werde ich ihnen jetzt sagen. Ich wollte nicht, dass sie im Autoverkehr ihr Leben riskieren, um hierherzukommen. Es ist besser, ihnen gegenüber zu sitzen und ihre Fragen in Ruhe beantworten zu können.«
»Ich habe nur gefragt, damit ich weiß, was ich sagen kann, wenn sie mich fragen.« Schwester Eva verschwand wieder. Jonatan holte tief Luft und verspürte einen Druck auf dem Brustkorb, er konnte keinen ganzen Atemzug nehmen. Wahrscheinlich Seitenstiche oder ein beginnender Infarkt. In seiner Lage war es fast egal – der Tod als Befreiung von allem Elend stellte für ihn keinen Schrecken mehr dar.
Er nahm den Hörer, um die Durchwahl von Åsa Gahnström zu wählen, doch stattdessen hatte er plötzlich seinen Kollegen Morgan Persson in der Leitung, der in Klintehamn die Eltern der Kinder beruhigte, die sich noch im Fußballcamp befanden.
»Hier ist die Hölle los. Ich kann die Stellung hier draußen nicht halten. Die Eltern verlangen, ihre Kinder holen zu dürfen. An der Absperrung stehen jede Menge Leute, die ihnen helfen wollen, ihre Kinder zu befreien. Sie begreifen einfach nicht, was sie riskieren, wenn die Infektion sich verbreitet und es keine Medikamente gibt. Wenn wir es nicht schaffen, die Infektion zu begrenzen, dann müssen wir mit Hilfe des Militärs die ganze verdammte Insel absperren, und dann werden die Leute wie die Fliegen in ihren Häusern sterben, weil es keine Krankenhausplätze gibt. Vielleicht ist es an der Zeit, mit der Sache an die Medien zu gehen, vielleicht muss man jetzt mal Klartext reden. Åsa Gahnström ist auf dem Weg hierher. Die wütende Masse hier draußen hat versprochen, abzuwarten, was sie zu sagen hat. Wenn es nichts gibt, was man den Kindern geben kann, wird die Hölle los sein. Was machen wir dann? Das ist doch einfach nicht wahr! Das ist der reinste Albtraum!«
»Ich weiß nicht, was wir machen sollen, Morgan, ich weiß es wirklich nicht.«
»Du, da ist noch etwas, ich weiß, dass ich dich eigentlich nicht damit belasten sollte, aber ich finde, du solltest es trotzdem wissen. Meine Frau war gestern mit ein paar Leuten in der Kneipe und hat den Abschied eines Kollegen gefeiert. Sie hat Nina gesehen. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, damit du es nicht falsch verstehst, aber Nina, also deine Frau …«
»Was war mit Nina?« Durch den Schmerz in der Brust musste Jonatan sich zusammenkrümmen. Er nahm ihm fast den Atem, ein reißender Schmerz, der sich bis in den Rücken ausbreitete. Das fehlte gerade noch …
»Nina war hackezu und wurde rausgeschmissen, weil sie laut wurde und, na ja, unverschämt. Sie hat mit anderen Gästen Streit angefangen. Es tut mir so leid, Jonatan. Aber ich fand, du solltest das erfahren.«
»Danke, Morgan. Da hast du natürlich recht. Nina hat es in der letzten Zeit nicht leicht gehabt. Ist Åsa Gahnström jetzt bei dir? Ich müsste mal mit ihr reden.«
»Nein, sie ist noch nicht hier. Sie müsste aber bald kommen, sonst gibt es einen Aufruhr. Ich kann die Verantwortung nicht mehr länger übernehmen. Ich vertraue darauf, dass du an die Sozialverwaltung weiterleitest, was ich gesagt habe: ich kann die Verantwortung nicht mehr länger übernehmen, und du hast es gehört.«
Jonatan wählte die Nummer zu Hause, ließ es acht Mal klingeln und rief dann seine Mutter an. Sie versprach, sich darum zu kümmern, wo Malte war. Ihre Stimme klang so klein und ängstlich, dass es ihm wehtat.
»Es ist so schlimm, dich darum bitten zu müssen, Mama, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, Ich weiß, wie Nina sich dir gegenüber benimmt. Wenn das hier alles vorbei ist, dann werde ich etwas in meinem Leben verändern. So kann es nicht weitergehen.«
Sie beruhigte ihn mit der Versicherung, dass sie ihr Bestes tun würde.
»Ich werde Malte finden und ihn mit zu mir nehmen. Kümmere du dich um deine Arbeit, Jonatan. Ich mach das hier schon.«
Die Eltern von Sebastian saßen in Schutzausrüstung in der Schleuse auf der anderen Seite der Glasscheibe. Sie hielten einander an den Händen. Jung und hilflos. Aber sie hatten einander, das war deutlich zu sehen. Er ging zu ihnen hinein und erläuterte ihnen die Lage so schonend wie möglich.
»Sebastian muss nach Linköping verlegt werden. Wir können einen von Ihnen mitfahren lassen.«
»Aber er wird doch wieder gesund?« Die Stimme der Frau war hinter der Maske nur ein Wispern, aber die Augen waren umso größer. Als Jonatan mit der Antwort zögerte, begann sie zu weinen.
»Ich hoffe, dass er wieder gesund wird. Wir tun, was wir können, aber seine Nieren arbeiten schlecht, und das Herz macht Probleme. Er ist sehr aufgedunsen, das werden Sie sehen. Was auch immer da drinnen passiert und wie schwer es Ihnen auch fallen wird, Sie dürfen nie die Schutzausrüstung ablegen oder die Maske lockern.«
Als sie das Jonatan versprochen hatten, gingen sie in das Krankenzimmer, in dem zwei Schwestern den Jungen gerade mit Sauerstoffflasche, Notfallweste und Intubator für den Transport fertig machten. Sebastian sah sie an. Dann schloss er wieder die Augen. Die Wangen unter der Atemschutzmaske glühten vom Fieber. Er wurde vorsichtig mit einem Tragetuch auf eine Trage mit Rädern gehoben. Die Eltern sahen verloren aus und so, als hätten sie das Gefühl, im Weg zu stehen. Jonatan unterbrach die Vorbereitungen, um dem Vater einen kleinen Augenblick zum Abschiednehmen zu geben. Sie hatten beschlossen, dass Sebastians Mutter mit ihm nach Linköping fahren würde.
»Halt dich wacker, mein Junge. Wir sehen uns, wenn du wieder zurückkommst.« Der Vater boxte Sebastian freundschaftlich gegen die Schulter, und Sebastian sah auf und nickte. Da brach die forsche Haltung zusammen, und der Vater legte den Kopf auf den Bauch seines Sohnes und weinte. Und ehe jemand ihn daran hindern konnte, hatte er die Maske abgenommen und seine Wange an die des Jungen gedrückt, damit Sebastian ihn auch wirklich hörte. »Wir haben dich so lieb.«