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Am nächsten Tag wachte Ruben erst um elf Uhr auf. Eine Fliege wanderte stur über seinen Nasenrücken. Er vermochte sie nicht zu verscheuchen. Die Laken rochen säuerlich nach Schweiß und hatten sich um seine Beine gewickelt. Der Durst war es schließlich, der ihn aus dem Bett trieb. Die Zunge fühlte sich im Mund wie ein Stück Holz an, und ihm war so schwindelig, dass er sich am Bücherregal festhalten musste, das beängstigend schwankte und fast auf ihn fiel. Als er das Wasser direkt aus dem Wasserhahn getrunken hatte, sah er ein, dass er es niemals schaffen würde, die Treppe zum Taubenschlag hinaufzusteigen und den Tieren Futter zu geben. Tatsache war, dass er es nicht einmal ins Bett zurück schaffte. Das letzte Stück kroch er auf allen vieren, während sich sein Brustkorb wie ein Blasebalg hob und senkte. Und dennoch war es, als würde er nicht genug Luft bekommen. Jeder Atemzug schmerzte, und die Muskeln taten weh.

Als er sich über die Bettkante zog, tat er es wie ein Ertrinkender, der die Reling des Bootes zu greifen bekommt und sich unter Aufbietung seiner letzten Kräfte hochzieht. Ruben musste Berit bitten, nach den Tauben zu sehen. Vielleicht würde er, wenn ein Wunder geschah und er gesund wurde, morgen an der Auflassung der Brieftauben teilnehmen können. Ruben beschloss, Cederroth nicht anzurufen, ehe er wirklich gezwungen wäre abzusagen. Er würde Berit anrufen, das würde er jetzt gleich tun. Er legte den Kopf aufs Kissen und glitt weg. Berit, er würde Berit anrufen. Bald. Erst ein wenig ausruhen und wieder zu sich kommen. Ein wenig die Augen schließen, erst ein klein wenig …

Als er erwachte, war es drei Uhr nachmittags. Ruben setzt sich mit einem Ruck auf und fiel dann wieder ins Kissen zurück. Der Kopf drohte ihm zu zerspringen, als er hustete, und es rasselte in seiner Brust. Berit. Er musste jetzt sofort anrufen. Jemand musste nach den Tauben sehen. Sein Arm kam ihm bleischwer vor, als er ihn hob, um an das Handy zu kommen. Es war eine große Erleichterung, dass sie gleich beim ersten Klingeln ranging. Natürlich würde sie den Tieren Wasser und Futter geben. Nicht sofort, aber etwas später am Abend. Wenn er nur sagte, was die Tiere brauchten. Nachbarn sollten sich helfen. Zum Glück hatte er den Schuppen nicht abgeschlossen und musste jetzt nicht aufstehen, um ihr den Schlüssel zu geben. Jetzt war alles geregelt, jetzt konnte er noch ein wenig schlafen. Loslassen und sich mit der Welle hinaustragen lassen.

 

Und sie kam ihm über das Meer entgegen, wie er es immer gehofft hatte. Angela, die Engelsgleiche. Sie formte eine Schale aus ihren Händen und füllte sie mit Wasser. »Trink.« Und er beugte sich vor, um aus ihren Händen zu trinken, aber als seine Lippen gerade die Wasseroberfläche erreicht hatten, zog sie die Hände weg. Sein Durst war unbeschreiblich, doch die Lösung des Rätsels, das sie ihm gestellt hatte, war die Bedingung, seinen Durst stillen zu dürfen, und als er zögerte, verschwand sie in den Wellen. Die Angst, sie wieder zu verlieren, ließ ihn verzweifeln. Das Meer war unendlich. Würde er sie niemals mehr treffen dürfen? Er sank herab und suchte auf dem Meeresgrund. Sein Mund war trocken, und er versuchte, von dem Wasser zu trinken, aber das war salzig und braun von verrottetem Tang. Angela! Er hätte sie niemals loslassen dürfen. Da spürte er ihre Hand an seiner Wange. Er hörte sie, vermochte aber nicht, die Augen zu öffnen, und konnte auch nicht alle Worte verstehen. Aber es war Angelas Stimme.

»Ich bin gekommen«, sagte sie. »Jetzt bin ich endlich gekommen. Bist du immer noch böse auf mich?« Er umfasste ihre Hände und zog sie an sich. Er sog ihren Duft ein. Er war genau wie damals, süß und voller Sommer.

»Du bist gekommen.« Und alles, was er hatte sagen und fragen wollen, von ihrer Krankheit und dem Mädchen, das Mikaela hieß, und von der Zeit, die vergangen war, wurde zu einem wortlosen Strom des Einverständnisses. »Ich bin durstig.« Als sie ihm das Glas reichte, trank er es bis auf den letzten Tropfen aus. Mit diesem Trank war alles vergeben und vergessen, und es gab nur noch die Gegenwart und ihre weiche Haut auf seinem nackten Arm.

Angela. Sie lief mit ausgebreiteten Armen über die Wiese, genau wie damals. Er kämpfte, um bei ihr bleiben zu können, aber die Träume führten ihn weiter, und plötzlich saß er auf Großvater Runes Knie, in der warmen guten Stille, in der alle Gedanken erlaubt waren und alles selbstverständlich war und nichts erklärt werden musste. »Ich habe Durst.« Und Angela stand wieder über ihn gebeugt, und ihr Gesicht war wie die Sonne, und er erwiderte ihr Lächeln. »Ich will nie mehr ohne dich sein.« Als er seine Hand hob, um ihre Wange zu streicheln, verwandelte sie sich vor seinen Augen, und ihr Gesicht wurde ausgewischt und nahm die graue Gestalt von Berit Hoas an.

»Was ist los mit dir, Ruben? Du siehst gar nicht gesund aus.«

»Ich habe auf dem Meeresgrund gelegen. Habe keine Luft kriegen können, aber jetzt ist es besser. Da kam eine Taube, ein Geschenk. Hast du sie gesehen? Sie war hier.«

»Weißt du was, Ruben, ich glaube, du phantasierst. Du musst hohes Fieber haben. Ich denke, du solltest ins Krankenhaus fahren. Zu dumm, dass ich keinen Führerschein habe, sonst hätte ich dich in eine Decke gewickelt und gleich in die Stadt gefahren. Vielleicht sollten wir Cederroth anrufen?«

»Niemals. Dann findet sie mich nicht, wenn sie zurückkommt. Ich muss hierbleiben.«

Berit schüttelte den Kopf über seine dummen Sätze. »Möchtest du etwas zu trinken? Ich habe eine Kanne Wasser auf den Nachttisch gestellt, und ich habe einen Zweig vom falschen Jasmin mit reingebracht, damit du ihn riechen kannst, wenn du aufwachst. Ich weiß, dass du den so gern magst. Ich habe wohl gesehen, dass du oft dastehst und daran schnupperst. Hast du heute überhaupt etwas gegessen? Es ist noch etwas vom Omelett übrig.«

»Ich kann nicht, und es tut im Hals weh, wenn ich schlucke. Das muss bis morgen warten.«

»Ich denke, du solltest zum Arzt gehen. Wirklich.« Berit sah seine fieberglänzenden Augen und die feuchten Laken an. »Vielleicht hast du dir eine Lungenentzündung geholt. Damit ist nicht zu spaßen in deinem Alter, Ruben.«

»Nein, ich nehme ein paar Aspirin, und dann geht es mir morgen wieder besser. Es wird sich schon geben.«

 

Als keine Überredungsversuche halfen, ging Berit Hoas zum Schuppen hinüber, um nach den Tauben zu sehen. Die Leute pflegten zu sagen, Ruben Nilsson sei stur und eigensinnig, und damit hatten sie völlig recht. So einen seltsamen Kerl gab es nicht zweimal. Er ließ niemanden in sein Leben hinein, ging selten zum Laden und gab sich ausschließlich mit den Brieftaubenzüchtern und seinen verstorbenen Vorvätern ab. Er war oft oben auf dem Friedhof, und es hatten ihr schon mehrere Leute erzählt, dass er Selbstgespräche führte, wenn er da rumging und die Gräber harkte. Wie eigenbrötlerisch durfte man denn sein, ehe es als krank galt? Er sollte wirklich ins Krankenhaus fahren. Vielleicht würden die auch gleich was für seinen Kopf tun können, wenn er schon mal da war. Vielleicht hätte sie doch Cederroth anrufen und ihn bitten sollen, mit Ruben in die Stadt zu fahren.

Berit machte die Tür zum Schuppen auf und horchte auf das gurrende Geräusch aus den Nestern. In einer Zinkwanne neben der Tür lag eine tote Taube. Sie stieg mühevoll die Treppe hinauf. Das Erste, was sie bemerkte, war der Feld-Stecher, der an dem Fenster lag, das auf ihren Garten wies. Hatte der alte Kerl etwa hier gesessen und sie beobachtet? Sie war richtig wütend, ehe ihr einfiel, dass er natürlich nach den Tauben sah. Er pflegte mit seinem Feldstecher dazustehen und zuzuschauen, wenn sie über dem Dach kreisten. Schon auf weite Entfernung konnte er sehen, welche Taube es war, und sie beim Namen nennen. Panik, Sir Toby und wie sie alle hießen.

Auch oben an der Treppe lag eine tote Taube, und noch eine zwischen den Käfigen, und die zwei, die am Tag zuvor Penizillin bekommen hatten, waren auch tot. Er hätte auf sie hören sollen. Nachdem Berit drei weitere tote Tauben gefunden hatte, fing sie an, ernsthaft darüber nachzudenken, was hier wohl geschehen war. Ob der Habicht hereingekommen war, oder ein Iltis? Sie sah sich mit einem Schaudern um. Oder war irgendetwas mit dem Wasser, was die Tiere krank machte? Ruben hatte einen eigenen Brunnen, aus dem er das Wasser für den Garten holte. Soweit sie wusste, war es nicht als Trinkwasser ausgezeichnet. Aber er hatte auch Wasser von der Gemeinde. Konnte er den Tauben schlechtes Wasser gegeben haben? Sieben tote Tauben, abgesehen von der, die da unten in der Zinkwanne lag, das war überhaupt nicht gut. Sollte sie Ruben das erzählen, oder sollte sie lieber warten, bis es ihm besser ging? Jetzt im Moment konnte er ohnehin nichts ausrichten. Also beschloss sie, ihm die traurige Nachricht erst einmal zu ersparen.

 

Berit Hoas ließ sich mit ihrem Strickzeug vorm Fernseher nieder. Sie war das Alleinsein gewohnt, aber dennoch kam es ihr still und leer im Haus vor. Eigentlich war sie in Rente, doch als sie das Angebot bekommen hatte, fürs Fußballcamp zu kochen, hatte sie nicht widerstehen können. Ihre Arbeit in der Mensa der Schule in Klinte fehlte ihr einfach. Sie mochte die Kinder, und die mochten sie. Obwohl es so viele waren, hatte sie sie schnell kennengelernt und wusste genau, welches Essen sie mochten und welches nicht. Wenn Pelle ein paar Tage lang hintereinander schlecht aß, dann versuchte sie den Speiseplan ein wenig zu ändern, damit er sein Lieblingsessen bekam, und wenn Sofia drei Tage hintereinander im Essen gestochert hatte, dann hatte Berit vorsichtig gefragt, was denn los war, und dann hatte Sofia erzählt, dass ihre Eltern sich scheiden lassen wollten. Genau so verhielt es sich mit Gabriel. Er hatte nach der Schule bei Berit in der Küche gesessen und erzählt, dass er im ganzen Bauch traurig war, weil sein Kaninchen tot war. Es hatte sich erkältet und Penizillin gekriegt, und dann hatte es von dem Penizillin Durchfall gekriegt und war gestorben. Er hatte das tote Kaninchen in einem Schuhkarton mit in die Schule gebracht, und sie hatten es zusammen unter einem Baum am Bach begraben, und Gabriel hatte zum Abschied »Alle meine Entchen« auf seiner Blockflöte gespielt.

Obwohl es draußen so warm war, fühlte es sich in dem alten Steinhaus kalt und ungemütlich an. Berit holte sich eine Jacke und setzte Wasser für eine Tasse Tee auf. Aber die Kälte in ihrem Körper wollte nicht verschwinden. Sie fühlte sich nicht gut. Sie würde doch wohl nicht krank werden? Das ging nicht, wenn man Arbeit zu verrichten hatten. Die Kinder brauchten etwas zu essen.

Im Fernsehen kamen die Nachrichten. Offenbar war sie kurz eingeschlafen und hatte einen Teil der Sendung verpasst. Ehe sie richtig begreifen konnte, wie alles zusammenhing, ob es Gegenwart oder Vergangenheit war oder ein Film, den sie gesehen hatte, kamen schon die Börsennachrichten.

Im Morgengrauen erwachte sie, verschwitzt und gleichzeitig verfroren. Sie ging in die Küche und trank etwas Wasser, ehe sie den Wecker auf sechs Uhr stellte und ins Bett ging.

Als sie aufstehen musste, fiel es ihr schwer. Sie konnte gar nicht richtig wach werden und schlug sich fast den Kopf am Küchentisch an, als sie über der Zeitung einnickte. War es wirklich schon so spät? Berit wusch sich notdürftig im Handwaschbecken, anstatt, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte, zu duschen. Wenn sie es nur schaffte, den Kindern ein Mittagessen zu machen, dann hatte sie den Rest des Tages frei. Abends würden sie unten am Strand Würstchen grillen. Die Morgenstunden musste sie schaffen, auch wenn sie jetzt erkältet und fiebrig war. Sie hätte niemals beim Kartoffelschälen im Zug sitzen dürfen.

Wenn Berit Hoas an jenem Morgen ihrer ersten Eingebung gefolgt wäre und bei Ruben Nilsson hineingeschaut hätte, um zu sehen, wie es ihm ging, dann hätten viele Menschenleben gerettet werden können, aber sie schaffte es nicht. Auch später nicht, als sie wiederkam, nachdem sie der Fußballmannschaft Essen gebracht hatte. Sowie sie in ihren eigenen vier Wänden war, sank sie auf dem Bett zusammen. Die Kopfschmerzen verursachten ihr Übelkeit, und der Husten brachte sie fast um. Als sie zur Toilette eilen musste, damit kein Unglück geschah, musste sie plötzlich über das Morchelragout nachdenken, das sie zusammen mit Ruben gegessen hatte. Konnte es sein, dass sie sie beide ungewollt vergiftet hatte? Es waren Morcheln gewesen, und sie hatte sie auch blanchiert, genau so, wie es im Kochbuch stand. Hatte sie vielleicht etwas falsch verstanden oder einen ungenießbaren Pilz mit dabeigehabt? Sie musste Ruben anrufen. Wenn sie sich nur ein wenig ausruhen konnte, dann würde sie ihn gleich anrufen.

Es kam nicht dazu. Stattdessen wurde sie eine Stunde später von einem lauten Klopfen an der Tür und von Cederroths Schrei draußen auf der Veranda geweckt.

»Berit, mach auf! Mach auf! Es ist etwas Schreckliches geschehen! Du wirst es nicht glauben, wenn du es nicht selbst siehst. Es ist zu furchtbar!«