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Ruben Nilsson trat in die Sommerdämmerung hinaus und klopfte seine Pfeife auf dem Geländer der Veranda aus. Wenn er gewusst hätte, wie wenige Stunden das Leben nur noch für ihn bereithielt, hätte er vielleicht eine andere Eile verspürt. Der Wind war abgeflaut, die Bäume warfen lange Schatten über den gepflegten Rasen, und er blieb mit einem Gefühl der Wehmut stehen. Vielleicht war es der Duft, der ihn an Angela denken ließ, dieser süße Duft von Falschem Jasmin, der im Dunst der Abendbrise herüberwehte. Die Blumen hingen in großen Trauben über die Steinmauer und leuchteten seltsam weiß in der Dämmerung.

Als Ruben die Äste berührte, sanken die Blütenblätter wie Schneeflocken auf den Boden. Zu spät. Eben noch hatte der Falsche Jasmin in voller Blüte gestanden. Dieses Erlebnis musste an ihm vorübergegangen sein. Jetzt war der Duft ein wenig fad, die Blütenblätter schon runzelig und an den Rändern braun. Zu spät, genau wie damals, als er Angela Stern geliebt hatte, aber nicht die richtigen Worte finden konnte. Der Gedanke daran schmerzte immer noch.

Auf dem Mittsommerfest bei den Jakobssons in Eksta hatte sie sich neben ihn gesetzt, hatte seinen Hemdkragen zurechtgerückt und ihren Arm unter den seinen geschoben, als sie vom Tisch aufstanden. Sie waren in einem immer erdrückenderen Schweigen durch den Garten spaziert. Der Augenblick war groß, und alles, was ihm zu sagen einfiel, während er mit der schönsten Frau Gotlands Arm in Arm unter den Linden ging, war, dass der Wollpreis dieses Jahr wahrscheinlich schlecht werden würde, dass aber die Kartoffeln gut seien. Sie hatte geduldig zugehört und dann auf die Laube gewiesen. Den Blick, den sie ihm in diesem Moment zugeworfen hatte, würde er niemals vergessen. In der grünen Blätterhöhle vor allen anderen verborgen, hatte er sie in den Arm genommen. Das Einverständnis war den ganzen Abend da gewesen, die Blicke, die man nicht übersehen konnte, und die leichte Berührung, sowie sie in seine Nähe kam.

Der Erdbeerduft vom Falschen Jasmin war berauschend gewesen. Der dünne Stoff ihres Kleider spannte über dem Busen und über der weichen Rundung der Hüften – das hatte ihn verlegen und stumm gemacht, während ihm die Reaktionen in seinem eigenen Körper sehr bewusst gewesen waren. Eben war sie noch ein Kind, eine Spielkameradin gewesen. Angela mit dem Engelshaar, das sich wie gesponnenes Gold über ihre Schultern ergoss, mit den blaugrünen Augen und der leicht hervorstehenden Oberlippe, die er einfach küssen musste. In der Blätterhöhle fasste er Mut und tat es. Es war ein etwas missglückter Kuss geworden, die Zähne schabten aufeinander, und beide hatten sich etwas verschämt zurückgezogen.

Er hatte versucht, etwas vorsichtiger zu Werk zu gehen, und gemerkt, wie sie weicher wurde. Ihre Hände hatten seinen Rücken gestreichelt und waren langsam an den Muskeln entlang unter das Hemd geglitten. Als ihre Fingernägel vorsichtig über seine Haut kratzten und ihr Atem schneller wurde, hatte er einen leichten Schauder verspürt, der sich in seinem Körper ausbreitete. Seine Hand hatte sich den Weg in ihre Unterhose gebahnt, und sie hatte sie in der Bewegung eingefangen und festgehalten. Wie sehr liebst du mich, Ruben? Sie hatte ihm direkt in die Augen geschaut, ohne dem Blick auszuweichen, und darauf gewartet, dass er das unmögliche Losungswort aussprach. Wie sehr willst du mich? Wie sehr liebst du mich? Und er hatte geantwortet, indem er sein pochendes Glied an ihren Bauch gedrückt hatte. Sie war zurückgeschreckt, und er hatte ihre Hand dorthin geführt, wo er sie sich wünschte, damit sie spüren konnte, dass er steif war, und begreifen, wie sehr er sie wollte, wie sehr er sich nach ihr gesehnt und an sie gedacht hatte.

Hör auf! Ihr Körper war erstarrt. Er wollte sie berühren, aber sie entzog sich. Das Lächeln in ihrem Gesicht war erloschen. Als er immer noch nichts sagte, hatte sie ihn von sich weggeschubst und war zu den andern gelaufen. Er hatte sie eingeholt und versucht, sie von hinten zu umarmen. Sag doch was, du dummer Idiot, flüstere die Worte, die sie hören will. Aber die Worte hatten sich niemals eingefunden, damals nicht, und auch heute kaum, fünfzig Jahre später, als er darüber nachdachte, was er hätte sagen müssen, um den Lauf der ganzen Geschichte zu verändern. Wie sehr liebst du mich? Was antwortet man darauf? Liebe kann man doch nicht abwägen und messen. Sie hatte sich mit einem Zorn, den er nicht verstehen konnte, aus seiner Umarmung losgerissen und ihn dann den ganzen Mittsommerabend lang nicht mehr angeschaut. Und danach – war es zu spät gewesen.

Ruben wandte das Gesicht mit den blassblauen Augen zum Abendhimmel und schniefte. In der letzten Zeit überfiel ihn oft die Rührung. Als Kind weint man, weil man traurig ist oder sich wehtut, und wenn man alt ist, weint man, weil man gerührt ist, wenn man »Geh aus, mein Herz« hört oder sich an eine alte Liebe erinnert. Er rückte die Hose im Schritt zurecht und lächelte in sich hinein. Auch der Körper erinnerte sich noch.

Hoch über dem Taubenschlag kreiste ein Schwarm Tauben. Ruben blieb ganz still stehen und sah zu, wie sie auf dem Blechdach landeten und gurrend auf und ab spazierten, ehe sie sich zur Nacht hineinbegaben. Er erkannte die Tiere am Aussehen und wusste ihre Namen. General von Schneider, Mr. Pomoroy, Sir Toby, Mr. Winterbottom, Panik, Kakao und Evert Taube drängelten sich und pickten einander mit den Schnäbeln, als sie durch die Luke zu ihren Weibchen und Jungen und dann zum abendlichen Futter wollten. Same procedure, jeden Abend.

Ganz außen auf dem Dachfirst saß eine neue Taube, die dem Schwarm zum Schlag gefolgt sein musste. Es war ein kräftiger, leicht braun gefleckter Vogel mit weißem Kopf. Wahrscheinlich ein Männchen. Den musste er sich näher anschauen. Ruben hakte die niedrige Tür zum Schuppen auf, schlich die knarrende Holztreppe zum Taubenschlag hoch und dann zu den Säcken mit den Hanfsamen. Das waren Leckereien, die die neue Taube würden hineinlocken können. Er stellte Luke und Gitter so ein, dass die Vögel in den Taubenschlag hinein-, aber nicht hinausspazieren konnten, und wartete in der Dunkelheit, während die untergehende Sonne den Himmel und das Meer orangerot färbte und eine glühende Sonnenstraße sich ausbreitete.

Die Vögel schlugen sich um das Futter. Von Schneider hackte Winterbottom auf den Kopf und kriegte als Antwort dafür einen Schlag mit dem Flügel ab. Wer meint, Tauben seien die wahren Friedenssymbole, der täuscht sich. Das hatte Ruben schon bei vielen Gelegenheiten gesagt. Es gibt keine Vogelart mit mehr Aggression und Herrschaftsgebaren als die Taube, aber als Symbol für Liebe und Treue funktioniert sie ausgezeichnet. Die besten Flugkünstler sind die Männchen, deren Weibchen gerade brüten oder Junge haben. Sie geben alles dafür, schnell nach Hause zu kommen, was man bedenken sollte, wenn man für einen Wettkampf Brieftauben auswählt.

Ruben hatte schon angefangen, die Tauben auszusuchen, mit denen er dieses Wochenende am Brieftaubenwettbewerb seines Clubs teilnehmen würde. Die Tauben würden früh am Sonntagmorgen von der Gotska Sandön losgeschickt werden. Zuvor würden die Uhren der Brieftaubenbesitzer so kalibriert werden, dass sie synchron und nach der offiziellen Zeit liefen. Auf diese Weise ersparte man sich nachträgliche hässliche Diskussionen, wenn der Schnitt in Kilometer und Zeit ausgerechnet wurde. Aber natürlich gab es auch Leute, die schummelten. Petter Cederroth hatte einmal ein kaum sichtbares Loch in das O vom Hersteller des Glasdeckels gebohrt. Dann hatte er die Uhr mit Hilfe einer Nadel bei einer passenden Zeit angehalten, um eine Wahnsinnszeit stempeln zu können. Damit man ihm nicht auf die Schliche kam, hatte er kurz vor dem Öffnen der Uhren die Zeiger vorgerückt, sodass die Zeit wieder stimmte. Ganz schön schlau, hätte sich nicht seine Frau verplappert, als sie einen in der Krone hatte. Ruben kannte niemanden, der in leicht angeheitertem Zustand so mitteilsam war wie Sonja Cederroth.

Wenn es um richtig viel Geld gegangen wäre, wie bei den Wettkämpfen auf nationaler Ebene, und nicht nur um den Wanderpreis »Die Silbertaube«, dann wäre Cederroth sicherlich aus dem Brieftaubenverband ausgeschlossen worden. Aber der Club schwieg die Sache tot. Er war einfach so nett, und noch dazu war er richtig gut darin, Gotlandsdricka zu brauen. Das musste zu seiner Verteidigung gesagt werden.

Der neu angekommene Tauber hockte immer noch auf dem Dach und hatte es nicht eilig, auch wenn er hin und wieder neugierig in den Schlag äugte. Ruben holte den Feldstecher heraus und betrachtete ihn. Wirklich ein kräftiger Vogel und vom Flug offenbar sehr mitgenommen. Ein Metallring am Bein als Markierung. Also war er ein Ausländer, in Schweden trugen die Tauben ja Plastikringe. Ein Flugtourist auf Besuch? Bestimmt war die Taube lange unterwegs gewesen, ehe sie sich dem Schwarm angeschlossen hatte. Demnach sollte der Hunger größer sein als das Misstrauen, und der Vogel würde schon in den Schlag kommen. Das war doch das Letzte, jetzt musste man sich noch lächerlich machen und aufs Blechdach steigen, um das Tier herunterzuholen.

Ruben kroch mit seinem Fangkäfig heraus. Die Taube flatterte auf und setzte sich dann ganz außen auf die Regenrinne und schaute zu, wie die Käfigfalle aufgestellt wurde. Ein Stöckchen mit einer Nylonschnur hielt die Klappe auf, und im Käfig selbst lagen appetitliche Hanfsamen auf dem Futterbrei. »Jetzt komm! Komm näher!« Ruben kroch zurück und stand dann unbeweglich mit der gespannten Nylonschnur in der Hand hinter der Wand. »Nun komm schon! Noch ein Stück. Genau, ich sehe doch, dass du hungrig bist.« Die Taube beäugte den Käfig mit halb geschlossenen Augenlidern und lächelte frech. Ruben kam es höhnisch vor, wie sie lief und den Kopf in den Nacken warf. »Was bist du für ein Vogel, und woher kommst du?« Es war doch richtig aufregend, sich vorzustellen, wie weit die Taube geflogen sein könnte.

Cederroth hatte das ganze Frühjahr damit angegeben, dass er eine Taube aus Polen bei sich gefunden habe, aber niemand hatte sie sehen können, ehe sie wieder davongeflogen war, und Jönsson hatte vorigen Sommer bewiesenermaßen einen Vogel aus Dänemark und neulich einen aus Skåne gehabt. »Ja, gut so. Jetzt rein mit dir. Nein.« Die Taube hatte vor dem Käfig kehrtgemacht und marschierte jetzt wie ein General mit steifem Rücken in die entgegengesetzte Richtung. Dann fing sie bei der Regenrinne noch mal an. Jetzt kam sie zurück. Ruben war bereit. Er hielt den Atem an. Kein Geräusch durfte den Vogel erschrecken. Die Taube machte den entscheidenden Schritt. Jetzt vermochte sie den Leckereien nicht mehr zu widerstehen, und die Klappe schlug zu.

Ruben trug den Käfig mit der Taube über das Dach und öffnete ihn nicht, ehe er im Schlag war. Es war wirklich ein prächtiger Tauber, wenn auch das Federkleid während der langen Reise ein wenig gelitten hatte. Ruben breitete die Flügel nacheinander in seiner Hand aus und sah sie sich gründlich an. Am rechten fehlten zwei Federkiele, und am linken war ein Kiel zu kurz, aber wieder im Wachsen begriffen. Um die Beringung näher betrachten zu können, musste er seine Brille aufsetzen. Er fand sie auf der Holzleiste über den Transportkäfigen, rieb den weißen Staub vom Glas und besah sich den Ring. Das sah aus wie russische Buchstaben, wirklich interessant. Ruben gab den Tauben frisches Wasser und fütterte sie mit einer Maismischung. Dann ging er ins Haus, um Cederroth anzurufen. Doch der war bei seinem Bruder in Martebo, und wie Sonja sagte, würde er erst am späten Abend zurückkehren.

Ein Blick auf den Gratiskalender vom ICA-Laden zeigte Ruben, dass schon der 29. Juni war. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und betrachtete durch das Fenster das wunderschöne Farbenspiel, als die rote Sonnenscheibe langsam ins Meer glitt. Es ist eine große Gunst und eine Wohltat für die Seele, so zu wohnen, dass man die Sonne über dem Meer untergehen sehen kann, dachte er. Dann stand er auf, um sich einen Kaffee einzugießen und eine Scheibe Brot abzuschneiden, die er dann mit Fleischwurst belegte, zwei dicke Scheiben auf einer soliden Unterlage aus Butter, keine künstliche Margarine mit Plastikkügelchen drin. Das Meer war am Abend so unglaublich schön anzusehen. Man wurde richtig andächtig und sanftmütig davon und voller Gedanken darüber, was es jenseits der Zeit wohl noch geben mochte.

Er dachte an das Wort »Versöhnung«, und er dachte an Angela. Gab es ein schöneres Wort als Versöhnung? Mit dem, was geschehen war, Frieden zu schließen, es nicht zu vergessen oder zu verringern, sondern sich ohne ein Gefühl des Schmerzes daran zu erinnern. Sich damit abzufinden, dass es nicht so gekommen war, wie man in seinem Herzen gedacht und gehofft hatte. So weit zu kommen, dass man sich mit seinem Schicksal versöhnte.

Angelas Vater war es gewesen, der mit den Brieftauben angefangen hatte. Als er sie leid war und stattdessen anfing, Golf zu spielen, hatten Ruben und sein kleiner Bruder Erik die Tauben übernommen und den Schlag zu sich nach Hause an den Södra Kustvägen in Klinte verlegt. Aber Erik hatte auch irgendwann keine Lust mehr gehabt und sich lieber ein Motorrad angeschafft. Und so kam es, wie es kommen musste.