14
Jonatan Eriksson sah sogleich sein Versehen ein, als die Verbindung unterbrochen wurde. Der anhaltende Ton im Hörer bohrte sich in seine Eingeweide. Was hatte er gesagt? »Ich werde das hier nicht mit dir besprechen, solange du nicht bei dir bist. Das ist erniedrigend für uns beide.« Nach vier Anrufen von Nina, deren Ton immer unverschämter gewesen war, hatte er nicht erwartet, dass der fünfte von einer anderen Person sein könnte. In Intelligenztests nennt man das »logische Folge« – in der Wirklichkeit funktionierte es nicht so. Die Wirklichkeit ist selten logisch, und er hatte auch keine Rufnummernanzeige, mit deren Hilfe er sein Versehen hätte erklären können. Verdammtverdammtverdammt!
Jonatan drehte eine Runde durchs Zimmer und schlug mit der Faust an die Wände, bis ihm einfiel, dass die Bewohner der angrenzenden Zimmer sich vielleicht schon schlafen gelegt hatten. Ninas höhnische Stimme echote ihm noch im Kopf. Sie wolle ihm nur sagen, dass sie ihren Sohn von der Schwiegermutter wiedergeholt habe, und die »verdammte Alte« habe keinerlei Recht, sich ohne Erlaubnis ins Haus zu begeben und ihn zurückzuholen. Danach war der weinerliche Anruf gekommen, dass doch alles wieder gut werden sollte. »Verzeih mir! Verzeih mir! Mein geliebter Jonatan, es soll nie wieder passieren. Nie wieder. Ich liebe dich, und sowie du aus Follingbo rauskommst, verreisen wir gemeinsam. Können wir nicht die Reise nach Paris machen, von der wir immer geträumt haben? Nur du und ich? Malte kann bei deiner Mutter bleiben, und wir hätten Zeit für uns, so wie früher, als wir keine einzige Minute ohne einander sein konnten. Erinnerst du dich an die Sandkuhle auf Fårö, erinnerst du dich, wie wir am Meer miteinander geschlafen haben? Erinnerst du dich an den Urlaub in Smögen? Wir brauchen einen Neuanfang. Wir hatten eine etwas anstrengende Zeit, aber ich verspreche dir, dass alles besser wird.«
Der Anruf, den er eben von ihr bekommen hatte, bewies das Gegenteil. »Ich höre doch, dass du getrunken hast! Lüg mich nicht an, Nina! Das Mindeste, was man verlangen kann, ist, dass du es zugibst. Du bist betrunken.« An diesem Punkt war das Einverständnis zerplatzt. »Das geht dich einen Scheißdreck an, kümmer du dich um deinen tollen Job, dann kümmer ich mich um meinen. Wenn du mir nur die Wertschätzung entgegenbringen würdest, die ich verdiene, wenn du nur auf mich hören und dich wenigstens etwas darum kümmern würdest, wie es uns hier zu Hause geht. Ich muss hier ja alles alleine machen, während du dich in der Klinik verlustierst. Es ist mir schon klar, dass da eine andere ist, oder sind es mehrere? Vielleicht sind es mehrere, Jonatan, deshalb kannst du auch nicht mehr, wenn du abends nach Hause kommst. Ich bin so müde, sagst du. Ich habe das ganze Wochenende Dienst gehabt. Klar, das muss schon anstrengend für dich sein … Wie viele schaffst du denn so an einem Wochenende?«
Es hatte überhaupt keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren, wenn sie in diesem Zustand war. Er hatte aufgelegt, und als es dann wieder klingelte …
Jonatan setzte sich an den Computer, um sich die Zeit zu vertreiben. So aufgewühlt wie er jetzt war, konnte er nicht schlafen. Er öffnete das Fenster und ließ die Kühle der Nacht herein. Das Schlimmste war, dass Malte das alles mitbekam. Der Gedanke daran, dass Ninas Temperamentsausbruch und mangelndes Taktgefühl dem Jungen Schaden zufügen könnte, machte Jonatan rasend. Aber es gab keinen Ausweg, wie er es auch drehte und wendete, er saß fest.
Wenn Malte nicht gewesen wäre, hätte er Nina schon längst verlassen. Nach der ersten überwältigenden Verliebtheit gab es nur eine gähnende Leere. Das Gefühl von Ekel, als sie schnarchend im Bett lag, der säuerliche Geruch von Schweiß und altem Suff im Zimmer. Nein, er liebte sie nicht mehr, und er war es so unglaublich leid, die Fassade aufrechtzuerhalten und sie von Festen mit nach Hause zu locken. »Du siehst müde aus, Liebling, vielleicht sollten wir jetzt nach Hause fahren. Morgen ist auch noch ein Tag. Tja, Nina schläft immer so schlecht, und da verträgt man ja nur so wenig.«
Was sie sagte, war absolut wahr, er hatte wirklich keine Lust mehr, sie zu berühren. Sie waren beide etwas Besseres wert, aber man kann ein Kind nicht in der Mitte durchteilen. Geteiltes Sorgerecht würde schlimmstenfalls bedeuten, dass er seinen Sohn nur jedes zweite Wochenende sah. Doch selbst bei dem Gedanken daran, dass Malte bei ihm leben und sie sich nur jedes zweite Wochenende um das Kind kümmern würde, drehte sich ihm der Magen um. Achtundvierzig Stunden, ohne dass er wusste, ob es dem Sohn nicht schlecht erging. Wie würde er ihn schützen können, wie würde er im Falle einer Trennung noch Einblick bekommen?
Malte liebte seine Mutter und war bis zur Grenze des Erträglichen loyal, er glaubte an ihre Versprechungen, obwohl er immer wieder enttäuscht worden war. Es tat so weh, danebenzustehen und zusehen zu müssen, wie es wieder und wieder geschah. Ein Sorgerechtsstreit konnte so erniedrigend und schmutzig sein. Wenn sie unter Druck gesetzt wurde und gekränkt war, würde Nina nicht davor zurückschrecken, die unglaublichsten Lügen zu erzählen. Wie könnte er das vermeiden? Wenn es nur jemanden gäbe, mit dem er reden könnte, jemand, der begriff, welche Hölle das war, ohne dabei zu verurteilen und zu moralisieren. Jemand, der ihm helfen könnte, Ordnung in das Gedankenchaos zu bekommen.
Zerstreut klickte Jonatan sich bei den Suchmaschinen im Internet durch die Treffer für die Stichworte »Medikamente« und »Internethandel«. Der Internethandel mit rezeptpflichtigen Medikamenten geschah so erstaunlich offen. Es war ungesetzlich, Medikamente über das Internet zu kaufen, wenn man kein Rezept dafür hatte, aber das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass das Medikament beschlagnahmt wurde. Viagra lag weit vorn an der Spitze, aber es gab auch Epilepsiepräparate, Mittel gegen Depressionen und Antibiotika. Laut den durchgeführten Studien schwankte die Qualität der Präparate sehr stark. Einige der Medikamente waren als Bluff entlarvt worden, im besten Fall waren sie wirkungslos, im schlimmsten Fall gefährlich. Der Internethändler, dessen Webseite Jonatan gerade vor sich sah, Doktor M., verkaufte passenderweise Tamiflu. Billig war es auch noch – 795 Kronen für eine fünftägige Kur von zweimal täglich 75 Gramm. Die Dosierung schien korrekt zu sein. Wahrscheinlich Zuckerplätzchen. Da sollte Åsa Gahnström mal dringend jemanden näher draufschauen lassen.
»Herr Dr. Eriksson, Sie müssen kommen!« Die Tür wurde ohne Vorwarnung aufgerissen, und ein Gesicht mit Atemschutzmaske sah herein. »Sofort, es ist eilig!« Jonatan setzte seinen Atemschutz auf und folgte der Schwester in den Korridor hinaus und die Treppe hinunter.
»Es ist Sonja Cederroth, wir schaffen es nicht. Es ging ihr plötzlich viel schlechter. Wir haben Furix gespritzt, aber sie hat keinen Urin mehr, und der Sauerstoffumsatz ist katastrophal schlecht. Sauerstoff bei 64 Prozent.«
»Wo ist Morgan Persson? Sollte er nicht heute Nacht arbeiten?«
»Dr. Persson ist in der Schule in Klinte beschäftigt. Zwei Jungen und einer der Trainer haben Symptome. Sie sind mit dem Notarzt auf dem Weg hierher. Und Dr. Hammar ist verschwunden. Karin an der Rezeption hat gesagt, er sei rausgegangen, um eine zu rauchen. Ich hatte nämlich gesagt, er dürfe hier drinnen nicht rauchen. Sie konnte ihn nicht daran hindern. Was machen wir jetzt?«
»Bereiten Sie einen Respirator vor. Wir fangen mit fünf Litern Sauerstoff an. Aber vorher will ich noch mal das Arteriengas ermittelt haben. Es kann auch venös sein«, meinte Jonatan mit einem Blick auf den Zettel mit dem Untersuchungsergebnis.
»Glaube ich nicht«, sagte die Schwester. »Sie sieht todkrank aus, die Nägel sind völlig blau, das Gesicht graubleich. Unter der Maske ist schwer zu erkennen, ob sie eine Lippenzyanose hat, aber das können wir wohl annehmen. Unregelmäßiger Puls bei 120, Blutdruck nicht messbar. Ich glaube nicht, dass wir sie durchkriegen.«
Kostbare Minuten vergingen, während sie ihre Schutzausrüstung anlegten und in den Untersuchungsraum gingen. Dort saß Petter Cederroth bei seiner Frau auf der Bettkante und hielt sie umarmt. Eine Krankenschwester in Schutzkleidung und Visier war dabei, Sauerstoff an den Respirator anzuschließen. Das Pulsoxymeter piepste. Der Sauerstoffgehalt sank immer weiter, und auf dem Display waren nur noch gerade Striche zu sehen. Jonatan fühlte nach dem Puls an ihrem Hals.
»Wir verlieren sie!« Er riss die Sauerstoffmaske ab und drückte die Beatmungsmaske über Sonjas Gesicht. Rhythmisch begann er mit der schwarzen Gummiblase Luft einzupumpen, während die Krankenschwester den Sauerstoff anschloss. Das Kopfende des Bettes wurde weggerissen, die Reanimationsplatte wurde unter die Frau geschoben, und die Herzmassage begann. Das Schweigen war drückend. Kurze Kommandos und notwendige Erläuterungen – keine anderen Geräusche wurden zugelassen.
»Defibrillator.«
Der stand schon bereit. Er hielt die Platten über die Brust der Frau, um einen Stoß zu geben.
»Es geht los.«
Alle, die sich um das Bett versammelt hatten, machten einen Schritt zurück. Ein neuer Stoß ließ den Körper der Frau im Bett hochfahren, dann fiel er ebenso schlapp wie zuvor zurück. Trotz hartnäckiger Versuche konnten sie sie nicht retten.
Das Zimmer war ein Chaos aus Apparaten und Schläuchen. Auf dem Bett nebenan saß Petter Cederroth, verschreckt und allein gelassen, und kratzte sich ununterbrochen am Arm. Kratzte sich blutig, damit der Schmerz ihn aus dem höllischen Albtraum retten möge, in dem er sich befand. In der Not der Stunde hatte sich keiner um ihn kümmern können. Unter normalen Umständen hätte er das Zimmer mit jemandem verlassen müssen, der bei ihm geblieben wäre. Er hätte nicht sehen dürfen, was er jetzt sah. Aber die Umstände waren nicht normal, in dieser Situation gab es keine sicheren Routinen, an die man sich halten konnte. Das Infektionsrisiko machte alles umständlicher und zeitraubender, und das Mitgefühl durfte erst an zweiter Stelle kommen, wenn es darum ging, Menschenleben zu retten.
»Ist sie tot?« Seine Stimme war sehr schwach und durch die Schutzmaske kaum zu hören.
»Ja, es tut mir schrecklich leid. Wir haben sie nicht retten können.« Jonatan sank neben Petter Cederroth auf dem Bett zusammen und legte den Arm um seinen Rücken. Es gab keine Worte des Trostes. Er konnte nur sein schweigendes Mitgefühl geben. Es fühlte sich mehr als dumm an, durch den Atemschutz zu reden, aber Jonatan widerstand dem Impuls, sich die Maske runterzureißen.
»Bin ich als Nächster dran? Ist es so verdammt ansteckend?«
»Wir wissen nicht, wer betroffen sein wird. Ich glaube nicht, dass für Sie eine große Gefahr besteht. Es geht Ihnen doch nicht schlechter als gestern, oder?«
»Meine Sonja.« Jonatan nahm an, dass Petter Cederroth weinte, man hörte keinen Laut, aber die Schultern zuckten, und von der Maske fiel ein klarer Tropfen auf das weiße Hemd herab. »Ich habe mir etwas überlegt«, sagte der Taxifahrer in ganz anderem Ton. »Es gibt da etwas, was ich nicht erzählt habe, damals, als Sie mich gefragt haben, wer alles in meinem Taxi mitgefahren ist. Ich habe ein Mädchen gefahren, ein hübsches blondes Mädchen, und zwar in die Jungmansgatan. Mit ihr zusammen fuhr Reine Hammar, also der Doktor. Er hat mir fünfhundert Kronen gegeben, damit ich die Klappe halte. Ich kann die gerne zurückzahlen. Aber wenn dieses Teufelszeug so verdammt ansteckend ist, dann sollten Sie das vielleicht wissen.«
Jonatan war derselben Ansicht.
»Und noch etwas«, sagte Petter und packte Jonatans Arm mit festem Griff. »Sonja wollte nicht eingeäschert werden. Sie hatte schreckliche Angst vor Feuer. Versprechen Sie mir das. Wir haben heute Morgen noch darüber geredet. Sie müssen es mir versprechen.« Jonatan versicherte, dass er sein Möglichstes tun würde, um ihren Wunsch zu erfüllen. Er ahnte bereits, was Åsa Gahnström von der Sache halten würde.
»Herr Dr. Eriksson, es ist wichtig, ich muss mit Ihnen reden«, rief Schwester Agneta vom Flur her. »Wir haben neue Untersuchungsergebnisse!«
Es dauerte eine Weile, bis Jonatan den Schutzanzug und die Atemmaske abgelegt hatte. Die Kleider, die er darunter getragen hatte, rochen säuerlich nach Schweiß. Jonatan fühlte sich fiebrig, und er hatte etwas Halsschmerzen, wenn er schluckte. Neue Untersuchungsergebnisse. Jetzt waren sie gekommen. Den Gedanken, dass er selbst infiziert sein könnte, hatte er bis hierher verdrängt. Was würde das denn bedeuten? Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
»Wir haben neue Untersuchungsergebnisse«, sagte sie wieder und sah ihm in die Augen. Während der vier Jahre, die sie zusammenarbeiteten, hatte er sie noch nie so nervös gesehen. Er nahm den Papierstapel entgegen, den sie ausgedruckt hatte, und setzte sich an den Schreibtisch. Ein Polizist, Jesper Ek: positiv. Dann die ältere Dame, die mit Cederroth nach Fårö gefahren war: positiv. Der Mann mit dem Herzinfarkt: positiv. Die anderen Brieftaubenbesitzer: sämtliche Befunde positiv. Alle, die zusammen mit Cederroth in der Notaufnahme gewesen waren, waren wundersamerweise nicht infiziert. Reine Hammar: negativ. Als er das nächste Blatt in die Hand nahm, flimmerte es ihm vor den Augen, es war sein eigener Befund. Er las ihn mehrere Male, um sich zu vergewissern, dass er wirklich negativ war, und dann schaute er schnell die restlichen Ergebnisse durch. Vier Leute vom Pflegepersonal, die Berit Hoas versorgt hatten, waren infiziert, eine davon war Schwester Agneta. Er hörte sie hinter seinem Rücken leise weinen.
»Was geschieht jetzt mit mir? Ich hab solche Angst.«