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Am Donnerstag, den 29. Juni, demselben Tag, an dem Ruben Nilsson eine neue Taube in seinem Taubenschlag entdeckte, verließ Mats Eklund in großer Eile seine Wohnung in der Donnersgatan in Klintehamn. Er nahm sich nicht einmal Zeit, die Schnürsenkel zuzubinden, geschweige denn, sich eine Jacke überzuwerfen, obwohl die Luft kühl war.

Noch weniger ahnte er, dass die Sorgen, die ihn in diesem Moment beschäftigten, schon bald ganz andere Dimensionen annehmen würden. Als er die Tür hinter sich schloss, bezweifelte er, dass es einen Weg zurück gab. Die Frage war gestellt. Es gab keine Möglichkeit, ihr auszuweichen. Die Joggingrunde würde nur einen kleinen Aufschub bedeuten, ehe die Sicherheit auf immer in Stücke geschlagen werden würde. Es war die reine Feigheit, einfach davonzurennen, das musste er zugeben. Er wünschte, er hätte besser mit allem umgehen können, aber er brauchte Zeit zum Nachdenken.

»Willst du dich scheiden lassen?« Jenny hatte die Frage geradeheraus und ohne die geringste Spur von Furcht gestellt. Sie müsste doch in ihrem Innern eigentlich ebenso ängstlich und erschüttert sein wie er, doch sie zeigte es nicht. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, als sie seinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, als ob sie ihm mit dieser Kopfbewegung helfen könnte, in Gang zu kommen. Aber es kam nichts. Kein sicheres Ja. Auch kein »Nein, ich liebe dich, das weißt du doch. Warum sagst du nur so dumme Sachen, mein Liebes?«

Sie befanden sich im Grenzgebiet. In einem sinnlosen und in jeder Hinsicht abtörnenden Stellungskrieg darüber, wer schuld war, dass der Müll nicht rausgetragen und der Herd nicht abgewischt wurde. Mitten in der Zweisamkeit fühlte er sich unendlich einsam und unglücklich, er war alles leid. War das hier das Leben? Tagesstätte, Stoffwindeln, Bio-Möhren und Jenny, die jede Lust an Liebesspielen verloren hatte, sobald sie die Kinder bekommen hatte, die sie haben wollte.

»Nein, heute Abend kann ich nicht mehr. Nicht, die Kinder könnten aufwachen!«

»Müssen die Kinder denn unbedingt hier bei uns im Zimmer schlafen?«

»Ja, denn Henrik hat Angst vor der Dunkelheit, und Stine hat heute Morgen gespuckt.« Würde das Leben immer so weitergehen? Schlafen, arbeiten, Kinder abholen, Kinder ins Bett bringen, schlafen, arbeiten … in einem ewigen Kreislauf, der nur vom Großeinkauf am Wochenende und dem Besuch der Schwiegereltern unterbrochen wurde? Wenn der Sex wenigstens funktioniert hätte, dann wären die übrigen Probleme des Lebens wahrscheinlich zu lösen gewesen. Da hätte es eine Wärme und Vertraulichkeit gegeben, die ihnen über den Wäscheberg und den Abgrund der Schreinächte geholfen hätten. Aber so war es nicht. Ich ersticke, dachte er, und begann locker loszutraben. Nachdem er die Straße zur Kirche von Klinte überquert hatte, lief er weiter hinauf nach Värsände. Hinterher könnte er am Bahndamm zurücklaufen, dachte er und steigerte das Tempo, um seinen Unmut abzuschütteln. Aber die Gedanken verfolgten ihn wie ein Schwarm Fliegen.

Nächste Woche würde Jenny als Trainerin in einem Fußballcamp in Klinte arbeiten und dort übernachten, die Kinder würden so lange bei ihren Großeltern sein. Es wäre gut, wenn sie mit einer Entscheidung bis dahin warten könnten. Dann hätten sie beide Zeit, alles zu durchdenken.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie hatten einander doch so sehr geliebt. Wohin war die Liebe verschwunden? Zärtlichkeiten, Worte, Leidenschaft? Die Angst überfiel ihn mit einer Macht, auf die er nicht vorbereitet war. Die Einsamkeit lag wie ein schwindelerregender Abgrund vor ihm. Das Adrenalin schoss durch sein Blut, und ihm wurde übel.

Bisher hatte er nur an sich selbst gedacht, an seine eigenen Träume und daran, wie das Leben mit Jenny hätte werden sollen. In seinem tiefsten Innern hatte er ihr vorgeworfen, dass sie nicht alle seine Bedürfnisse erfüllte, als wäre er ein kleines Kind mit dem Recht auf bedingungslose Liebe. Was Jenny von ihrem gemeinsamen Leben hielt, wusste er nicht. Er hatte nie gewagt zu fragen. Ob sie sich wohl scheiden lassen wollte? Nein, das durfte nicht geschehen. Sie mussten Ruhe bewahren und es sich gut überlegen, ehe sie davonrannten und etwas taten, was sich nicht mehr reparieren ließ. Sie mussten an die Kinder denken.

Als Mats Eklund um die Ecke des Toilettenhäuschens auf dem Einödgelände in Värsände lief, erblickte er das Zelt. Ein kleines schmutzig graues Zweimannzelt. So eins, wie er es als Junge gehabt hatte, mit altmodischen Holzstecken und Schnürung anstelle eines Reißverschlusses. Er musste einfach hineinschauen. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach und nach bildete sich aus dem Grau eine Gestalt heraus. Blut, schwarz wie Teer, war in der Dunkelheit zu sehen. Und weiße Haut. Ein Mensch.

Der Anblick ließ ihn nach Atem ringen. Er wankte zurück und setzte sich hin, stand wieder auf und rannte zum Weg, möglichst weit weg von dem, was er gerade gesehen hatte. Er wühlte in der Tasche nach seinem Handy, um die Polizei anzurufen, wagte dann aber nicht, sich auf seine Sinne zu verlassen, ohne noch einmal zu prüfen, was er gesehen hatte. Diesmal knotete er die Verschnürung auf und schaute richtig hin. Der Anblick nagelte ihn fest, und er blieb stehen, ohne etwas tun zu können. Auf einer Persenning lag ein Mann, der ein paar Jahre älter war als er. Die Augen starrten ins Leere, und der Mund stand offen. Auf dem hellen Hemd hatte sich ein großer, schwarz glänzender Blutfleck ausgebreitet.

 

Es war eine Polizistin, die Mats Eklund verhören sollte. »Maria Wern, Kriminalinspektorin«, stellte sie sich vor. Mit dem langen hellen Haar und den braunen Augen sah sie Jenny so ähnlich, dass ihn das noch aufgeregter und nervöser machte. Die Wärme und Ruhe in ihrer Stimme brachten ihn dazu, sich der Anspannung ganz zu ergeben und die Beherrschung zu verlieren.

»Wie geht es Ihnen? Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?« Er hatte völlig unkontrollierbar angefangen zu zittern. Sie hatte abgewartet und dann behutsam eine Frage nach der anderen gestellt und seine unzusammenhängenden Antworten notiert. Er konnte es nicht lassen, während des Verhörs verstohlen in die Richtung zu sehen, wo die Techniker der Polizei arbeiteten. Eine Absperrung war errichtet worden. Die Leiche wurde herausgetragen und zugedeckt. Wenn er in diesem Moment in eine andere Richtung geschaut hätte, dann wären ihm wohl die Albträume der nächsten Zeit erspart geblieben, doch sein Blick wurde wie ein Magnet angezogen. Überall war geronnenes Blut. Als die uniformierten Männer die Leiche zu dem bereitgehaltenen schwarzen Sack transportieren wollten, stolperte einer von ihnen über eine Unebenheit im Boden. Einen Moment lang entglitt ihm der Körper, der Kopf des Toten wurde mit einem heftigen Ruck nach hinten geworfen, und eine klaffende Wunde am Hals wurde sichtbar.

 

Als Kriminalinspektorin Maria Wern Mats Eklund nach Hause gefahren hatte, da er es abgelehnt hatte, sich ins Krankenhaus bringen zu lassen, war sie erleichtert, dass seine Frau zu Hause war. Es wäre kein gutes Gefühl gewesen, ihn allein zu lassen. Nachdem man das Mordopfer in den schwarzen Sack gehoben hatte, war Mats Eklund in Ohnmacht gefallen, einfach vor ihr zusammengesackt. Er war sehr blass und mitgenommen gewesen, und die Hände hatten schrecklich gezittert. Seine Frau hieß Jenny. Maria hatte sie schon Anfang der Woche kennengelernt – bei dem Informationstreffen zu dem Fußballcamp, für das Emil sich angemeldet hatte. Jenny war eine der Trainerinnen. Sie schien gefestigt und fürsorglich und kümmerte sich darum, dass Mats etwas Warmes zu trinken bekam und eine Decke um die Schultern.

Wieder am Tatort, notierte Maria die Fragen, die sie nicht hatte stellen können. Sie würde etwas später am Abend darauf zurückkommen müssen, wenn Mats Eklund sich etwas gefasst hatte. Maria ging zur Absperrung, die den ganzen kleinen Hof mit Wohnhaus, Schmiede, Stall und großem Vorplatz umspannte. Mårtensson war gerade dabei, die Persenning zusammenzurollen, auf der die Leiche gelegen hatte. Er versuchte, möglichst kein Blut auf seine Kleidung zu bekommen. Das Opfer schien stark geblutet zu haben.

»Er hatte keine Papiere bei sich. Es scheint, als hätte er direkt auf der Persenning geschlafen, ohne Matratze. Das muss schweinekalt gewesen sein.« Mårtensson schauderte bei dem bloßen Gedanken. »Und steinhart. Eines ist mir aufgefallen. Die Kleider scheinen selbst genäht zu sein, es gibt keine Schilder mit der Größe oder dem Hersteller.«

»Wie ist er hierhergekommen? Ist er gelaufen?« Maria sah sich nach einem Fahrzeug um, einem Auto oder einem Fahrrad, das erklären könnte, wie er sich mit seinem Gepäck fortbewegt hatte.

»Hartman hat hinten im Gebüsch ein Auto gefunden. Er ist noch dort.« Mårtensson zeigte ihr die Richtung, und sie machte sich auf den Weg. Ein paar hundert Meter weiter konnte sie Hartmans Stimme vernehmen. Neben ihm stand ein verrostetes Auto einer für Maria unbekannten Marke, ohne Radkappen und den Kofferraum nur notdürftig mit einer Schnur verzurrt. Außerdem hatte es keine Zulassungsschilder.

»Ist das sein Auto?«, fragte sie.

»Das ist anzunehmen.« Hartman öffnete mit einer behandschuhten Hand die Fahrertür und hielt die Verpackung eines Zelts und ein paar hölzerne Zeltstangen hoch. »Was hat er wohl hier gemacht? Warum war das Auto versteckt? Auf dem Rücksitz steht ein Vogelkäfig, und in dem alten Laken sind Bilder eingewickelt. Schöne Ölgemälde und ein paar Aquarelle. Im Handschuhfach liegt ein Zigarettenpäckchen mit russischer Schrift, aber keine irgendwie gearteten Papiere.«

»Haben die Nachbarn etwas gesehen?« Maria hatte mit einigen der Leute, die sich an der Absperrung versammelt hatten, gesprochen und Namen und Telefonnummern aufgenommen.

Hartman schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. Es scheint auch niemand das Zelt bemerkt zu haben, deshalb können wir annehmen, dass es noch nicht so lange hier aufgestellt war. Die Techniker schauen sich das auch noch an. Das Gras vergilbt schnell, wenn es eine Weile lang abgedeckt ist.«

Maria wandte sich erschrocken um, als es hinter ihr im Gebüsch knackte. Es war der Kollege Ek. Nachdenklich und ohne sich im Mindesten stören zu lassen, zog er den Reißverschluss seiner Hose hoch. »Tja, man sollte meinen, dass die Bauern in der Nähe oder irgendjemand vom Heimatverein das Zelt bemerkt hätten. Das ist ja nicht gerade ein üblicher Zeltplatz. Vielleicht hat er die Regeln des Jedermannsrechts nicht richtig verstanden, das kann schon mal etwas schwierig sein. Doch in gewisser Weise scheint die Sache durchdacht. Er hat es nicht weit zum Klo gehabt.«

 

Nach ein paar Stunden auf der Wache rief Marias Sohn Emil an und fragte, wo sie blieb. »Du hast doch gesagt, dass du heute früh nach Hause kommst.« Wieder das schlechte Gewissen. Die Kinder. Sie hatte versprochen, mit ihnen zum Strand zu fahren, damit sie bei einem Sandskulpturenwettbewerb in Tofta mitmachen konnten. Das war ihr völlig entfallen, und jetzt war es zu spät.

Auf dem Heimweg wurde Maria klar, dass sie auch noch einkaufen musste. Der Kühlschrank war größtenteils leer, und sie hatte sich auch noch nicht überlegt, was es zum Abendessen geben könnte. Irgendetwas, nur nicht Fleischbällchen aus der Tiefkühltruhe, denn das hatten sie in dieser Woche schon zweimal gegessen. Wie waren eigentlich die Mütter gestrickt, die nach einem Arbeitstag noch richtig kochten? Außerdem musste es schnell gehen, damit die Kinder nicht zu müde und ungeduldig wurden. Am Tag zuvor war Maria im neuen Shoppingcenter gewesen und hatte sich erklären lassen, wie man nach dem neuen System einkaufte: Man scannte selbst den Preis der Ware ein, legte sie direkt in seine Tasche und überreichte dann an der Kasse den Beleg. Schnell und effektiv, wenn man wusste, was man wollte. Vielleicht Lachsfilets? Maria sah die lange Schlange am Fischtresen, wo es die frischen Lachsfilets zum Sonderpreis gab, und schnappte sich stattdessen ein Paket aus der Kühltruhe. Nicht ohne schlechtes Gewissen. Vielleicht gewann sie keine Zeit, wenn sie den Fisch erst noch auftauen musste, aber der Gedanke, in der Schlange stehen zu müssen, war einfach abschreckend.

In der Schlange am Fischtresen bemerkte Maria eine schlanke Frau mit dunklem Kurzhaarschnitt, die, während sie wartete, mit ihrem Scanner spielte. Ihr war wohl langweilig. Sie scannte Waren ein, machte den Kauf wieder rückgängig, klickte noch einmal. Anscheinend war sie gerade in das Quick-Shop-System eingeführt worden. Wenn man der Werbung glaubte, konnte so bei allen Waren, in die ein kleiner Chip eingesetzt war, die Transportstrecke vom Hersteller zum Kunden verfolgt werden. Keine unnötige Lagerhaltung, die am Ende vom Kunden bezahlt werden musste. Die Frau spielte weiter mit ihrem Scanner, zog ihn über ihren Oberarm und klickte. Als sie Marias belustigten Blick bemerkte, hörte sie sofort damit auf. Plötzlich schien es, als habe sie etwas Wichtiges vergessen, sie verließ ihren Platz in der Schlange und eilte zum Ausgang. Der Korb mit dem Einkauf und dem Geldbeutel blieb zurück. Vielleicht war ihre Parkuhr abgelaufen, oder ihr war etwas anderes Wichtiges eingefallen. Eine Verabredung vielleicht?

»Hallo, Sie haben Ihr Geld vergessen! Warten Sie!« Maria sah, wie die Frau auf ein Fahrrad stieg und um die nächste Ecke verschwand. Ehe sie den Geldbeutel der Kassiererin übergab, öffnete Maria ihn. Auf dem Führerschein stand, dass die Frau Sandra Hägg hieß.

Als Maria im Auto nach Klinte saß, waren ihre Gedanken schon wieder bei dem ermordeten Mann im Zelt. Es war furchtbar. Der Tatort war nur wenige hundert Meter von dem Haus entfernt, in dem Maria mit ihren Kindern in dem ruhigen und idyllischen Klintehamn lebte.