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»Auf Gotland ist ein Verdachtsfall auf Vogelgrippe aufgetreten. Wir bitten daher alle Touristen, die vorhatten, die Insel zu besuchen, von der Reise Abstand zu nehmen. Außerdem möchten wir Personen, die am Abend des 1. Juli und in der Nacht zum 2. Juli in Visby ein Taxi benutzt haben, bitten, die eigens eingerichtete Hotline der Infektionsklinik anzurufen, die Nummer lautet: 0498-69 00 01. Es besteht kein Grund zur Sorge, doch um Engpässe zu vermeiden, bitten wir Personen mit Grippesymptomen, nicht den Arzt oder das Krankenhaus aufzusuchen. Wenn erforderlich, wird ein Arzt zu Ihnen nach Hause kommen. Um einen Arztbesuch zu vereinbaren, rufen Sie bitte unter 0489-69 00 02 an. Für allgemeine Informationen wählen Sie die Nummer 0498-69 00 03. Der Verdacht auf Vogelgrippe ist noch nicht bestätigt, und es besteht kein Grund zur Beunruhigung.«
Maria Wern schaltete das Radio aus, wo jetzt eine Sendung über die Politikertagung in Almedalen folgte und über eine Journalistin berichtet wurde, die eine Reihe namhafter Politiker des Sexismus bezichtigt hatte. Die Gleichstellungsministerin Mikaela Nilsson war in ihrer Verurteilung der Affäre schonungslos. Das roch nach einem großen Skandal. Maria fuhr den Computer hoch. Im Zimmer neben ihr saß Tomas Hartman. Sie hörte, wie er mit seiner Frau telefonierte. Liebesworte.
Alltagsvereinbarungen. Weitere Liebesbezeugungen. Ich dich auch. Nicht schlecht nach dreißig Jahren Ehe. Glückliche Menschen. Natürlich meint man, dass es das ganze Leben halten muss, wenn man sich ewige Treue geschworen hat. Aber das Leben wird nicht immer so, wie man es sich vorgestellt hat. Und wenn es nicht wird, wie man es sich vorgestellt hat, kann man seine Selbstvorwürfe genauso gut wegschieben. Sie in der Faust zerreiben und dann die Krümel aus dem Fenster pusten. Denn sie führen zu nichts, machen einen nur traurig. Das Schlimmste ist, bei anderen das Glück zu sehen und daran zu denken, woran man selbst gescheitert ist. Dass man vielleicht nie wieder jemanden finden wird, dem man vertrauen und mit dem man zusammenleben kann.
Sie hörte, wie Hartman auflegte und zu pfeifen begann. Dann stand er auf, die Stuhlbeine schrammten über den Boden, und ein grauer Haarschopf wurde in der Türöffnung sichtbar.
»Wir haben ein erstes Obduktionsprotokoll von dem Mann aus Värsände bekommen. Irgendwann in der Nacht vom 28. zum 29. Juni ist ihm die Kehle durchgeschnitten worden. An den Fersen hat er erdige Schleifspuren, als ob er aus einem Haus gezogen worden wäre. Dann hat er eine kleine, kaum merkliche Schnittwunde am linken Oberarm und eine alte Narbe auf dem Brustkorb. Es gibt noch keine Ergebnisse von der chemischen Analyse. Die kommen momentan nicht weiter. Wir haben immer noch keine Ahnung, wer er ist. Vom Alter und Aussehen her stimmt er mit keiner der Personen überein, die vermisst gemeldet wurden. Das schwarze Haar kann darauf hindeuten, dass er kein Schwede ist.« Hartman schielte auf die Uhr. »Ich hatte vor, mich auf eine Bank an der Stadtmauer zu setzen und dort mein Lunchpaket zu essen. Kommst du mit? Es wird uns guttun, ein Weilchen von hier wegzukommen und im Mittelalter zu landen.«
»Ja.« Maria erhob sich, um ihm zu folgen, als das Telefon klingelte. Sie bat ihn zu warten, während sie schnell ranging, und er ging pfeifend in sein Zimmer, um sein Essenspaket zu holen.
»Ich hätte gern Maria Wern, die Mutter von Emil, gesprochen, bin ich da richtig?«, fragte eine Frauenstimme.
»Ja.« Maria spürte, wie die Sorge angekrochen kam. War etwas passiert? Hatte Emil sich etwas getan? Den Kopf angeschlagen? War er krank geworden und musste jetzt aus dem Fußballcamp abgeholt werden? Oder hatte er einfach Heimweh? Krister hatte Linda im Wohnwagen mitgenommen. War Emil vielleicht neidisch? Aber er hatte ja wählen dürfen. Vielleicht bereute er es und wollte jetzt lieber mit seinem Papa zusammen sein?
»Mein Name ist Agneta, und ich bin Krankenschwester in der Infektionsklinik. Heute Abend haben wir ein Informationstreffen zum Thema Vogelgrippe. Es betrifft die Kinder im Fußballcamp in der Schule von Klinte. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, aber wir müssen gewisse Sicherheitsvorkehrungen treffen.«
»Wie meinen Sie das?« Maria hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen, während die Worte der Krankenschwester sich in ihr Bewusstsein vorarbeiteten und ihre ganze Bedeutung entfalteten.
»Wir erklären das alles gern heute Abend bei dem Treffen. Es findet auf Warfsholm statt.«
»Nein, ich will es jetzt wissen.« Maria merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde und sich auf dem Hals rote Flecken ausbreiteten. Das Gefühl einer nicht greifbaren Bedrohung und gleichzeitiger Ohnmacht brachte sie auf. »Glauben Sie, dass die Kinder mit der Vogelgrippe angesteckt worden sein könnten? Die Köchin Berit Hoas hat sie, oder? Es ging ihr nicht gut, ich weiß, dass sie ins Krankenhaus gekommen ist. Hat sie die Vogelgrippe? Ist es so? Antworten Sie mir!«
»Ich habe keine Befugnis, darauf zu antworten. Wenn sie vor dem Treffen wichtige Fragen haben, dann können Sie über unsere Hotline mit Dr. Jonatan Eriksson sprechen.«
Die Stimme der Krankenschwester klang gepresst. Die Situation war offensichtlich ernster, als man den Anschein erwecken wollte. Wenn sie jetzt sagt, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt, dann schreie ich, dachte Maria Wern und verspürte Wut auf diese arme Person, die doch nur ihre Arbeit nach den Direktiven verrichtete, die sie erhalten hatte. Emil, wie geht es Emil? Die Sorge drückte Maria den Hals zu.
»Was werden Sie tun? Ihnen Blutproben abnehmen? Sie impfen? Hilft eine Impfung, wenn sie bereits angesteckt sind? Gibt es überhaupt einen Impfstoff? Oder Medizin?«
»Wie ich schon sagte: Wenn Sie weitere Fragen haben, dann sollten Sie diese mit unserem Arzt erörtern. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, dienen nur der Sicherheit, falls sich herausstellen sollte, dass es sich um Vogelgrippe handelt. Aber das wissen wir noch nicht.«
»Aber ihr Verdacht muss schon sehr stark sein, wenn Sie die Leute bitten, nicht nach Gotland zu reisen, oder? Da geht es ja nicht gerade um wenig Geld, wenn der Touristenstrom ausbleibt.« Maria empfand sich als hart, doch sie wollte die andere nicht zu leicht davonkommen lassen.
Hartman stand in der Tür. Diesmal hatte er das Essenspaket dabei. Er schien allerbester Laune zu sein.
»Kommst du?« Er machte einen Schritt ins Zimmer. »Was ist denn, Maria? Ist etwas passiert?«
»Du, ich komme nicht mit. Muss noch ein Telefonat führen. Es geht um Emil. Ich erkläre es dir später.« Anstatt den Raum zu verlassen, blieb Hartman an Marias Schreibtisch sitzen, ohne auch nur den Deckel von seiner Brotdose aufzuklappen. Es fühlte sich gut an, dass er dasaß, wie ein Garant dafür, dass nichts allzu Schreckliches geschehen konnte, eine Verbindung zur Alltagswirklichkeit, wo es so etwas wie Kinder, die mit tödlichen Krankheiten angesteckt wurden, nicht geben durfte.
Maria wählte die Nummer des Infektionsarztes, die sie bekommen hatte. Das Besetzzeichen ertönte. Am liebsten wäre sie zur Schule in Klinte gefahren und hätte nachgesehen, ob es Emil gut ging. Jetzt sofort. Die Gedanken drehten sich im Kreis. Was konnte sie tun, wenn er krank war? Das Besetztzeichen ertönte immer noch, und Maria war froh, dass Hartman dasaß, denn dann gab es jemanden, mit dem sie ihre Sorge teilen konnte.
»Ich dachte an den Nachbarn von Berit Hoas, Ruben Nilsson, der mit den Brieftauben. Er ist tot in seinem Bett gefunden worden. Diese Sache ist schlimmer, als sie sagen. Warum gehen die denn nicht ran? Die müssen doch begreifen, dass die Menschen wissen wollen, was los ist. Es geht hier um mein Kind!«
»Wie ansteckend ist es denn?«, fragte Hartman, weil ihm nicht Besseres einfiel.
»Ich weiß nicht, aber wenn es sich wie eine gewöhnliche Erkältung verbreitet, dann reicht ein Nieser, soweit ich weiß, zehn Meter. Aber es hängt natürlich davon ab, wie groß die eigene Widerstandskraft ist. Es gibt Medizin, die Virusinfektionen eindämmen kann.«
»Tamiflu. Als in Südostasien die Vogelgrippe ausbrach, beschloss man, dass Schweden eine Million Behandlungskuren à zehn Dosen einkaufen sollte. Man hatte vor, ein Bereitschaftslager aufzubauen. Hoffentlich haben sie das auch gemacht.«
»Ja, ich erinnere mich auch, davon gelesen zu haben. Die Ärzte hatten die Medikamente aufgrund ziemlich vager Indikationen verschrieben, und diejenigen, die die Medizin wirklich brauchten, mussten darauf warten, weil es in der Apotheke nichts mehr gab. Warum geht der denn nicht ran?«
Tomas Hartman wollte gerade etwas antworten, als Maria den Infektionsarzt in der Leitung hatte. Sie machte eine abwehrende Handbewegung, klemmte sich den Hörer unter dem Kinn fest und angelte sich gleichzeitig Papier und Stift.
»Ich will die Wahrheit wissen«, sagte Maria, als sie sich vorgestellt und nach Berit Hoas gefragt hatte.
»Ich unterliege der Schweigepflicht und darf nichts über einen einzelnen Patienten sagen und muss Sie bitten, das zu respektieren. Die Wahrheit ist, dass wir es nicht wissen – und solange wir nicht sicher sind, ist es besser, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, als den Kopf in den Sand zu stecken.« Sie hörte ihn schwer seufzen. Was hatte der denn für einen Grund zu stöhnen? Er hatte doch kein Kind, das in Gefahr war. Verdammter Schnösel! Ich muss Sie bitten, das zu respektieren. Warum musste er sich hinter so hochtrabenden Worten verstecken? Diese Art zu reden schuf Distanz. Dabei brauchte man Verständnis und das Gefühl, dass sich jemand wirklich darum kümmerte.
»Okay. Und was werden Sie mit den Kindern machen, falls sie angesteckt wurden? Ich will es jetzt wissen. Und dann werde ich Emil aus dem Camp holen. Ich will nicht, dass er dort bleibt, wenn die Gefahr besteht, dass er krank wird.«
»Das ist nicht so einfach. Die Seuchenschutzärztin hat entschieden, dass die Kinder in der Schule in Quarantäne bleiben sollen. Wenn eines oder mehrere von ihnen angesteckt wurden, dann können wir nicht riskieren, dass das Virus weiter in der Öffentlichkeit verbreitet wird. Die Kinder werden Medikamente gegen Vogelgrippe bekommen.«
»In Quarantäne. Was heißt das? Darf er nicht nach Hause kommen? Was ist, wenn er jetzt nicht angesteckt ist, aber von jemandem da drinnen infiziert wird? Zum Beispiel morgen, weil ich ihn heute nicht mit nach Hause nehmen darf? Haben Sie das Recht, das zu tun? Ansonsten handelt es sich nämlich um Freiheitsberaubung, darauf steht Gefängnis. Ich hoffe, Sie verstehen, wie ernst das ist.« Plötzlich flammte in Maria der Zorn auf. Am liebsten hätte sie den Kerl unter vier Augen vor sich gehabt, damit er nicht entkommen oder den Blick abwenden konnte.
»Wenn wir das nicht machen und sich herausstellen sollte, dass es sich um Vogelgrippe in einer mutierten Form handelt, etwas, was wir schon lange fürchten, dann würde das Tausende von Infizierten bedeuten, wenn Sie Klartext hören wollen. Die Seuchenschutzärztin hat das Recht, die Kinder zum Abnehmen von Blutproben dazubehalten. Wir rechnen damit, sie fünf Tage lang in Quarantäne zu behalten, wenn keiner von ihnen krank wird. Damit sie einander nicht anstecken, wird jedes Kind ein eigenes Zimmer bekommen, in dem es bleiben muss, und eine Atemschutzmaske, falls es das Zimmer verlassen muss. Wir werden Pflegepersonal dort haben, und die Kinder werden Handys bekommen, um in Kontakt mit ihren Angehörigen bleiben zu können. Ich verstehe, dass es sehr schwer für Sie ist«, fügte er in etwas sanfterem Ton hinzu.
»Wie lange wollen Sie also meinen Sohn festhalten?« Maria suchte Hartmans Blick, um sich Kraft zu holen.
»Bestenfalls können wir die ganze Aktion schon morgen abblasen. Da können wir allerfrühestens den Bescheid bekommen, ob es Vogelgrippe ist oder nicht.«
»Aber Sie glauben, dass es das ist?«
»Leider ja. Aber ich hoffe bei allen Mächten, dass ich unrecht habe.«