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Ich sagte zu dem Herrscher von Vallia: »Es war unnötig, daß du selbst gekommen bist. Dafür sind deine Generäle da.« Ich sah die Herrscherin von Vallia an. »Sag es ihm, Silda, um des süßen Willens der Dame Dulshini!«
Mein Sohn Drak schob entschlossen den Unterkiefer vor. Wenn er wollte, konnte er so stur wie ein Calsany sein. Silda wußte dies nur zu gut, und so ging sie das Problem von einer anderen Seite an. Wir saßen in der vallianischen Botschaft in Oxonium; unsere Heere kampierten draußen, die Luftstreitkräfte luden Ausrüstungsgegenstände aus. Brannomar hatte uns mit offenen Armen willkommen geheißen und brachte seine eigenen Heeresverbände auf Trab.
»C'Chermina hat Prinz Ortyg als Verbündeten verloren. Sie hat keine Ibmanzys. Die Angelegenheit dürfte nicht lange dauern«, sagte Drak.
Wenn Könige und Herrscher normalerweise auf Reisen gehen, so geschieht dies mit unglaublichem Aufwand und einem gewaltigen Troß. Man muß da nur an ein paar der mächtigen Herrscher denken, die ich auf Kregen kennengelernt habe. Mein Val! Sie nehmen jedesmal so viele Diener, Zelte und Ausrüstungsgegenstände mit, daß sie eine kleine Stadt damit errichten könnten.
Zumindest in dieser Hinsicht war mein Sohn Drak nach mir geraten. Er war nicht gerade inkognito gekommen, hatte aber nur einen kleinen Stab mitgebracht und lebte militärisch schlicht. Silda war genauso. Und dann gab es natürlich noch eine Sache, in der er mir ähnelte, und das war das Verlangen nach Abenteuern. Obwohl er ein durch und durch ernster Mensch war, liebte er es geradezu, sich dem Protokoll des Hoflebens zu entziehen. Und darum war Silda auch zwischen zwei Wünschen hin- und hergerissen.
»Jaidur und Inch werden in ein paar Tagen eintreffen ...« Silda verstummte, schüttelte den Kopf und verfiel in Schweigen.
»Ganz recht!« knurrte Drak. »Ich bleibe!«
»In diesem Fall könnte ich nach Prebaya zurückkehren«, sagte ich.
»Das ist eine großartige Idee, mein alter Dom! Ich würde die verfeindeten Zwillingsschwestern zu gern mit eigenen Augen sehen.«
»Aye, Seg. Das ist schon ein Pärchen, bei Vox!«
Mein Klingengefährte rieb sich die Hände und verkündete, er werde im mittleren und nördlicheren Balintol mit Sicherheit viele erstklassige Lieder sammeln. Sein neuestes Steckenpferd war die Zusammenstellung eines Hyr Lif, das die Lieder vieler verschiedener Gegenden Kregens sammelte. Ein erstaunlicher Mann, dieser Seg Segutorio, alles was recht ist!
Hier fand keine oberflächliche Unterhaltung statt. Entscheidungen mußten getroffen werden, und sie wurden auch getroffen. Boten trafen mit Berichten ein und gingen wieder mit Befehlen.
C'Cherminas Generäle hatten den Feldzug in von Alters her erprobter Weise begonnen und ihre Luftwaffe zur Aufklärung ausgesandt. Wir hatten sie an ein paar Stellen aufhalten können; an anderen war ihnen der Durchbruch gelungen. Die wahrscheinlichsten Routen des Vormarsches wurden berechnet und auf Karten niedergeschrieben. Rückten die Streitkräfte vor, trugen wir es in die Karten ein. In der ganzen Aufregung versuchte ich im Hintergrund zu bleiben.*
Als Herrscher mußte Drak das Kommando führen, zusammen mit Hyr Kov Brannomar von Tolindrin.
Die Vorbereitungen gingen weiter, Truppenkontingente marschierten ab, von Marschmusik und flatternden Flaggen begleitet. Eines schönen Morgens wollte ich Dimpy eine Lektion im Schwertkampf geben, denn er war ein begieriger und begabter Schüler. Doch der junge Schurke war nirgendwo aufzuspüren. Verärgert fragte ich mich, ob er mit den Soldaten gegangen war. Wie jeden temperamentvollen jungen Mann dürstete es ihn nach Ruhm.
Als an diesem Tag die Sonnen untergingen, war er plötzlich wieder da. Als Antwort auf meine leicht ungehaltene Frage sagte er, er habe alte Freunde in den Gräben besucht.
»Hm«, knurrte ich. »Na gut, hol dein Rudis, und ich werde ein paar Lektionen in dich hineinprügeln.«
Da er so flink wie ein Aal und so schnell wie ein Blitz war, gab er einen geschickten Schüler ab. Nachdem ich zugelassen hatte, daß er mich mit der Holzspitze seines Schwertes traf, setzten wir uns noch auf ein Ale zusammen, und mir kam ein Gedanke. »Nagzallas Böse Neemus«, sagte ich. »Wie du weißt, war ich kurze Zeit Mitglied dieser Bande. Ich glaube, ich werde ihnen einen Besuch abstatten. Bei Reder, ja!«
Dimpy meinte dazu nur, er halte das für eine gute Idee und werde mich begleiten. Meine Stellung in der Botschaft überraschte ihn, doch er wußte nichts von meiner Teilnahme an den hochrangigen Besprechungen. Für ihn war ich einfach Drajak der Schnelle, ein guter Freund und Mentor.
Als ich Silda nach Neuigkeiten über Delia fragte, erfuhr ich, daß sich die Schwestern der Rose bereithielten. Das reichte! Ich verzichtete auf jede weitere Frage.
Die vereinigten Heere stellten zweifellos eine eindrucksvolle Streitmacht dar. Jeder hatte etwas zu tun. Ohne Delia fühlte ich mich von allem ziemlich losgelöst. Inch war nach Norden gereist, um den Vorstoß zu überwachen. Die langen, sonnigen kregischen Tage erschienen mir länger als je zuvor und immer weniger sonnig. Ein Besuch der Banden in den Gräben würde mich aufmuntern.
»Komm schon, mein alter Dom! Du siehst aus, als hättest du eine Zorca verloren und ein Calsany gefunden.«
»Aye, Seg, aye.«
Als ich den geplanten Besuch bei Nagzallas Bösen Neemus erwähnte, strahlte Seg übers ganze Gesicht. Er kannte meine Erzählungen, und jetzt konnte ihn nichts mehr davon abhalten, uns zu begleiten.
Oxonium befand sich nach den Erdbeben, den Ibmanzys und den Bränden noch immer in einem traurigen Zustand. Zwar räumte man die Ruinen weg und errichtete neue Gebäude, um die zerstörten zu ersetzen, doch es gab noch viel zu tun. Die Luftdienste Vallias, Hamals und Hyrklanas mußten noch immer Lebensmittel und alle möglichen anderen Dinge des täglichen Lebens einfliegen. Die Gräben konnten Segs Meinung zufolge also nicht viel schlimmer aussehen. »Ha!« sagte ich. »Warte ab!«
Wir saßen in einer verschwiegenen Schankstube, und Seg fuhr fort, einen neuen Bogenstab zu polieren. Nun, das war eine völlig überflüssige Bemerkung. Gab es überhaupt einen Tag, an dem Seg nicht an der Herstellung eines neuen Bogens arbeitete? Aber jetzt waren noch die Lieder dazugekommen.
»Da unten wird doch auch gesungen, oder?«
»Aye.«
Seg polierte zufrieden weiter. »Ausgezeichnet!«
Eine weitere Sache war recht interessant: Während Dimpy mich als eine Art Onkel ansah, begegnete er Seg mit unverhohlener Ehrfurcht. Seg war ein König, ein Herrscher unter allen anderen anwesenden Herrschern. Wie junge draufgängerische Schurken nun einmal sind, zerbrach er sich nicht weiter den Kopf über den morgigen Tag. Doch was mir gefiel, war die Tatsache, daß Dimpys Respekt für meinen Klingengefährten mehr Segs Können mit dem großen lohischen Langbogen entsprang als seinem adligen Rang.
Wir legten dunkle Gewänder und das kregische Waffenarsenal an und stiegen in die Gräben hinab. Nach der Plünderung der Oberstadt durch die Banden hatte man die Ordnung wiederhergestellt, und die Beziehungen zwischen Hügeln und Gräben waren mehr oder weniger wieder so wie in der Vergangenheit. Man brauchte nicht durch Geheimtunnel zu schleichen. Unser größtes Problem würde darin bestehen, der wieder aktiven Kataki-Wache aus dem Weg zu gehen.
»Bei Erthyr dem Bogen!« verkündete Seg, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete staunend das wilde Treiben. »Hier stinkt es.«
Nun hatte Seg die gleichen Schwierigkeiten wie ich, den wohlmeinenden Absichten seiner Männer zu entgehen. Wir hatten uns beide wegschleichen müssen, und ich wäre keine Wette eingegangen, daß uns keiner unserer Leibwächter folgte.
Als ich mich mißtrauisch umsah, ertappte ich mich bei der seltsamen Frage, warum ich das hier tat, statt der Dame Quensella einen Besuch abzustatten. Nicht ohne Makki-Grodno zu beschwören, kam ich zu dem ernüchternden Schluß, daß dieser Ausflug einem Tanz mit einer Dame vorzuziehen war, die beweisen konnte, daß sie keine Dame war – durch die Dolchspitze eines Meuchelmörders. Vom Regen in die Traufe, das traf es genau, bei Krun!
Segs Beschreibung der Gräben stimmte genau – der Gestank stieg einem in die Nase und verätzte den Hals. »Denkt dran«, sagte ich zu den Gefährten, »hier unten bin ich Kadar der Hammer.«
In den Gassen gab es noch immer die Spuren des katastrophalen Erdbebens, das Mak Khons völlig unfähiger Zauberer aus Loh heraufbeschworen hatte. Kov Brannomar hatte den Armen Hilfe angeboten. Dem lagen natürlich nicht nur humanitäre, sondern auch politische Beweggründe zugrunde; danach war hier unten erstaunliche Ruhe eingekehrt.
Natürlich war in den zwischen den Hügeln zusammengepferchten Armenvierteln der Begriff Ruhe eher relativ zu verstehen. An diesem Ort schwirrte es nur so vor Aktivitäten, die alle zweifelhafter, räuberischer und habgieriger Natur waren. Wir bewegten uns mit geschärften Sinnen durch diese Lasterhöhlen, ständig bereit, einer herabsausenden Klinge und oder dem zustoßenden Dolch zu entgehen.
Es hatte bei Nagzallas Bösen Neemus einige Veränderungen gegeben, seit Dimpy und ich sie zuletzt besucht hatten. Bei dem Erdbeben hatte es viele Todesopfer gegeben, während andere wiederum dem aufreibenden täglichen Spiel von Leben und Tod erlegen waren. Brory der Tapfere erfreute sich noch immer seiner Gesundheit und begrüßte uns mit einem Weinpokal in der einen und einem Dolch in der anderen Hand. Ich übernahm das nötige Pappattu für Seg, der den angebotenen Pokal mit Begeisterung entgegennahm. Bevor wir uns zu der abendlichen Unterhaltung niedersetzten, versuchte ich Näheres über den Stand der Dinge herauszubekommen. Brory wollte davon nichts wissen. Seine neue Frau hatte Zwillinge zur Welt gebracht, und er war außerordentlich stolz auf die Kinder – und auf seine Gemahlin. Er hatte ihr einen neuen Namen gegeben: Basalma die Schöne und Freigebige.
Wir stießen pflichtschuldig auf die Säuglinge an. Seitdem die Banden nach dem Erdbeben Seite an Seite gearbeitet hatten, war viel von der früheren Feindschaft verflogen. Natürlich bestahlen sie sich noch und versuchten, gegnerisches Gebiet zu erobern, das hatte sich nicht geändert, bei Krun. Aber Brory zufolge hatte die früher übliche Verbissenheit aufgehört.
Ich saß gemütlich mit einem Pokal in der Hand da und machte mich für die gleich beginnende Liederrunde bereit, als ich mit unterdrückter Belustigung und einer Spur Bewunderung sah, daß Seg seine Schreibtafel hervorholte. Er war bereit, jedes ihm unbekannte Lied niederzuschreiben.
Da flammte am Rand meines Gesichtsfeldes ein winziger Lichtblitz auf – türkisfarbenes Licht.
Ich drehte sofort den Kopf. Das Türkislicht verschwand.
Lopy der Lahme holte eine Flöte hervor, und Nath der Laute stimmte eine Hummummba, ein Instrument, das große Ähnlichkeit mit einem Banjo hat. Die ersten Töne von ›Die Abgründe der Hölle verblassen gegenüber meiner Geliebten‹ erklangen. Münder öffneten sich, es wurde tief Luft geholt, jeder machte sich bereit, in den Refrain einzustimmen. Ein kalter Luftzug strich über die Versammlung. Tiefe Stille kehrte ein. Eine Gestalt im schwarzen Gewand und mit hohem schwarzen Zylinder trat ein – durch die geschlossene Tür.
Mir war sofort klar, welch schreckliche Neuigkeiten San W'Watchun überbrachte. Das befürchtete Unglück war zur Realität geworden. Wir standen einer absoluten Katastrophe gegenüber.