52
Das Klettern ist die reinste Hölle, und ich brauche all meine Kraft, um mich Stück für Stück nach oben zu ziehen. Über und unter mir ist nichts als Dunkelheit. Ich habe einen Leuchtstab dabei, traue mich aber nicht, in hervorzuholen. Das gelbgrüne Leuchten könnte unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Ich bin schon ziemlich hoch. Wenn ich jetzt stürze, würde ich mich ernsthaft verletzen. Besser nicht daran denken.
Meine Hände sind wund, und die Sohlen meiner Stiefel lösen sich Stück für Stück auf. Ich weiß nicht, wie lange ich schon so klettere, aber ich höre Marschs Stimme nicht mehr. Anfangs hat er mir noch mit beruhigenden Worten Mut zugesprochen, jetzt ist um mich herum nur noch Fels und Finsternis. Ich komme mir vor wie in einer Gruft.
Zu meiner größten Erleichterung wird die Felsröhre kein bisschen enger, während ich klettere. Sie ist fast rund, und der Durchmesser verändert sich kaum, also ist es wohl tatsächlich ein Bohrschacht. Ich wüsste nur gern, wo er hinführt.
Weiter, immer weiter, es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Das letzte Mal, als ich in einem so dunklen Felstunnel war, bin ich in nackte Panik ausgebrochen, doch Doc hat mich durch gutes Zureden beruhigen können. Diesmal muss ich allein zurechtkommen. Marsch und Velith, die beiden Wesen, die mir am meisten von allen bedeuten, warten dort unten und zählen auf mich. Wenn ich es nicht bis nach oben schaffe, sterben wir hier in der Dunkelheit.
Die Haut auf meinen Handflächen hängt in Fetzen, und der Flüssigverband auf der Bisswunde an meiner Schulter beginnt sich abzulösen. Nicht mehr lange, und ich fange an mehreren Stellen an zu bluten. Hoffentlich zieht der Geruch nicht das nächste fleischfressende Ungeheuer an.
Vielleicht schließe ich besser die Augen und konzentriere mich ausschließlich auf meine Bewegungen. Tue so, als wäre es nicht stockfinster hier, als wäre ich nicht schon am Ende meiner Kraft.
Meine Arme und Beine beginnen zu zittern vor Anstrengung.
Ich kann es schaffen. Ich muss.
Verzweiflung treibt mich weiter, aber ich muss jede Minute eine Rast einlegen. Es ist unvorstellbar schwer, wieder zu Atem zu kommen, wenn man sich gleichzeitig an nacktem Fels festkrallen muss, um nicht in den Tod zu stürzen. Verzweiflung reicht nicht mehr, um weiterzuklettern. Ab jetzt ist es nur noch Sturheit. Ich habe mir geschworen, Marsch da rauszuholen, und ich werde jetzt nicht versagen.
Mein Mund ist staubtrocken, und die Lippen platzen auf. Es fühlt sich an, als würde Felsstaub in jede meiner Poren dringen.
Endlich spüre ich einen kalten Lufthauch. Heißt das, dass ich’s geschafft hab? Ich verdoppele meine Anstrengungen und ziehe und schiebe mich weiter, bis meine Hände ein Sims erreichen.
Mit letzter Anstrengung hieve ich mich hinauf. Der Sims ist erstaunlich breit und tief – eine Höhle vielleicht. Ich ziehe den Leuchtstab hervor, um es zu überprüfen. Tatsächlich, hier kann ich mich zumindest ein wenig ausruhen. Ich sehe sogar Stalagmiten auf dem Boden, also ist dies tatsächlich eine natürliche Höhle. Ich befestige das Seil an einem der Tropfsteine, überprüfe den Knoten und werfe das andere Ende den Schacht hinab. Ich hoffe nur, das Seil ist lang genug.
Es hat keinen Zweck, ihnen etwas zuzurufen, denn sie werden mich nicht hören. Außerdem will ich keine anderen Lebewesen hier auf mich aufmerksam machen, falls es die gibt. Keine Ahnung, was in dieser Höhle haust. Ich könnte den Leuchtstab nach unten werfen, um zu signalisieren, dass ich oben bin, aber ich möchte lieber nicht hier im Dunkeln warten müssen.
Da spannt sich das Seil, beginnt zu zittern, und ich bin unendlich erleichtert: Jemand zieht sich daran nach oben.
Schlotternd vor Erschöpfung sitze ich da und starre in die Tiefe, bis ich etwa zehn Meter unter mir Marsch ausmache. Ich würde ihm so gern helfen, aber mir fehlt die Kraft, also rutsche ich nur ein Stück von der Öffnung weg, damit er Platz hat. Unfassbar, wie viel Kraft er noch hat, nachdem er schon so viele Stunden in dieser winzigen Zelle gehockt hat und immer wieder misshandelt worden ist.
»Maria sei Dank«, keucht er, als er mich erblickt. »Das war die längste Stunde meines Lebens.«
Nicht mehr? Mir kam es viel länger vor.
Auf Händen und Knien kriecht Marsch auf mich zu, bebend vor Erleichterung. Stinkend und verdreckt, wie wir sind, schließen wir einander in die Arme und verschmelzen förmlich. Im fahlen Schein des Leuchtstabs sein Herz schlagen zu hören kommt mir vor wie das Paradies.
Vel ist am schnellsten von uns oben. Er ist stärker als ich, und er wurde in den letzten Tagen nicht mehrfach misshandelt wie Marsch.
»Gute Arbeit, Sirantha. Ich werde die Umgebung scannen, um herauszufinden, wo wir sind.« Er holt das Seil ein und macht sich sofort an die Arbeit.
Es ist mir egal, wie lange er braucht. Ich bin glücklich.
Nach einer Weile verkündet Vel: »Hier entlang. Wir befinden uns in einem Hohlraum innerhalb eines Berges.«
»Hast du einen Ausgang gefunden?«
»Mehr oder weniger. Ich habe einen Riss im Fels entdeckt, den ich mit einem Laser vergrößern kann.«
Ich bin so erschöpft, ich kann kaum noch denken und setze wie automatisch einen Fuß vor den anderen. Zu mehr bin ich nicht mehr in der Lage. Keine Ahnung, ob wir uns noch innerhalb des Vierundzwanzig-Stunden-Zeitfensters befinden. Ich hoffe nur, Dina und Hammer ist nichts zugestoßen. Sie müssen einfach da sein und auf uns warten.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als wir endlich zu der Stelle gelangen, von der Vel gesprochen hat. Ich sehe nichts als eine nackte Felswand, aber Velith geht zielstrebig auf einen winzigen Riss im Gestein zu, streut irgendein Pulver darauf und zieht einen Laserbrenner hervor.
Beißender Rauch und Staub steigen auf, und ich kann kaum noch atmen. Ich halte mir die Hand über Mund und Nase, aber das bringt nicht viel.
Marsch wühlt in Veliths Rucksack, bis er eine Flasche findet, die er mir reicht, während Velith unermüdlich weitermacht und immer tiefer in dem Felsspalt verschwindet.
Als ich schon glaube, ich halte es nicht mehr aus, sagt Vel: »Ich kann das Loch nicht noch größer machen, ohne zu riskieren, dass die Decke runterkommt. Wir müssen so hindurchkommen.«
»Danke, Velith.« Ich würde ihn gern küssen, aber ich bin zu schwach. »Du bist großartig. Das warst du immer.«
Sogar Marsch stimmt mir zu. »Ich hätte geschworen, es ist unmöglich, hier rauszukommen. Also habt ihr beiden wohl das Unmögliche geschafft.«
Ich gehe als Erste. Der Tunnel, den der Kopfgeldjäger in den Fels geschnitten hat, ist wirklich winzig, und wieder steigt diese Klaustrophobie in mir hoch. Ich kann mich kaum dazu bringen, mich tiefer hineinzuschieben. Ständig stoße ich mich an den Felswänden der engen Röhre. Wie sollen Marsch und Vel hier durchpassen? Die Gedanken an die beiden lenken mich so weit ab, dass ich beinahe vergesse weiterzukriechen – bis ich die Kälte des ewigen ithorianischen Winters auf meiner Haut spüre. Ich bin fast da! Hastig lege ich die letzten Meter zurück und gelange inmitten eines Schneesturms ins Freie. Die Kälte verschlägt mir den Atem, und meine Wimpern überziehen sich sofort mit einer Eisschicht.
Marsch kommt hinterher. Von Velith sehen wir zuerst nur den Rucksack, den er vor sich herschieben muss, um durch den engen Tunnel zu passen. Sobald er es nach draußen geschafft hat, ziehen wir uns die hauchdünne Thermokleidung aus seiner Ausrüstung über und aktivieren den Sender mit dem vereinbarten Signal für Dina und Hammer.
Nach kürzester Zeit fange ich an, mit den Zähnen zu klappern. Ich bin körperlich vollkommen am Ende, weit über das Stadium normaler Erschöpfung hinaus, und ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Ithiss-Tor, die Kälte, der Sturm, das alles kommt mir vor, als wäre es unendlich weit weg.
Marsch merkt, was mit mir los ist, und schlingt die Arme um mich. »Es wird gut, alles wird gut, Jax«, flüstert er mir ins Ohr. »Wir haben’s geschafft. Du hast uns rechtzeitig hier rausgebracht.«
Ich bin mir da nicht so sicher. Die Chancen stehen gut, dass wir hier im Schneesturm erfrieren. Verzweiflung bohrt sich mit eisigen Nadeln in meine Seele. Die einzige Schutzmöglichkeit ist die Höhle hinter uns. Aber würden sie uns da sehen? Würden wir sie sehen? Falls sie überhaupt kommen.
Als ich schon alle Hoffnung aufgegeben habe, flammen ein Stück unterhalb am Hang Lichter auf. Ich renne darauf zu.
Sie sind es, sie sind es tatsächlich! Marsch ist in Sicherheit.
Dina und Hammer begrüßen uns mit innigen Umarmungen an Bord des Shuttles. Sie halten sich nicht lange mit Fragen auf. Dina wirft Marsch lediglich einen vielsagenden Blick zu. Er wird später einiges zu hören bekommen, und das nicht nur von ihr. Aber erst, wenn wir endlich hier weg sind.
Dina leitet bereits die Startsequenz ein. »Haltet euch gut fest. Es könnte ein bisschen ungemütlich werden.«
»Warte, lass mich erst die Störsender neu ausrichten.« Dina hackt wie wild auf ihr Terminal ein. »Okay, alles bereit. Schnallt euch an, ihr drei.«
Wir gehorchen. Die Triebwerke fauchen, und ich höre das Zischen, mit dem der Schnee in ihren Feuerstrahlen schmilzt.
Hammer zieht das Shuttle nach oben, und der Sturm rüttelt uns ordentlich durch. Noch nie war mir so bewusst, wie dünn die Hülle dieser Dinger ist. Dann reißt der Himmel über uns auf, und wir befinden uns im stillen Zentrum des Tornados, der als grau-weiße Wand um uns herum tobt, während die unwirkliche ithorianische Landschaft unter uns immer kleiner wird.
»Du weißt, dass du vielleicht nie wieder zurückkehren kannst«, flüstere ich Vel zu.
Er hebt die Schultern. Ja, das weiß ich, sagt er ohne Worte. Ich akzeptiere die Verbannung, falls es dazu kommen sollte.
Aber vielleicht kommt es gar nicht so weit. Seit heute glaube ich wieder an Wunder. Ich nehme Marschs Hand. Dass ich das kann, ist das größte Wunder von allen.
Meine Euphorie verfliegt jedoch sofort wieder, als wir die Triumph erreichen, die im Orbit auf uns wartet. Alle an Bord reden davon, eine große Party zu schmeißen, um den Erfolg gebührend zu feiern. Aber ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Alles, was ich will, ist, mich in meiner Kabine zu verkriechen und die nächsten Stunden unter der Dusche zu verbringen.
Stattdessen blinkt mir das Terminal schon entgegen, als ich die Tür entriegele. Eine Nachricht von Kanzler Tarn wartet auf mich. Seufzend spiele ich sie ab.
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Sirantha. Besser, als wir erwarten durften. Doch fürchte ich, es hat nicht gereicht.«
Von einer dunklen Vorahnung erfüllt, lasse ich mich in einen Sitz sinken. Marsch, der mir gefolgt ist, legt mir von hinten sanft die Hände auf die Schultern und verfolgt schweigend die Nachricht. Ich muss daran denken, wie er sagte, wir sollten unsere Kräfte zusammenziehen und uns auf einen Krieg vorbereiten, statt uns mit sinnlosem diplomatischem Geplänkel aufzuhalten. Maria, ich will ihn nicht in noch einem Krieg kämpfen sehen.
»Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet«, fährt Tarn fort. »Wir wissen nicht, über welche Kanäle die Information durchgesickert ist, aber die Morguts haben offensichtlich herausbekommen, dass die Flotte der Ithorianer absolut veraltet ist. Als Beweis ihrer Stärke und Unerschrockenheit haben sie eine weitere Raumstation angegriffen, ganz in der Nähe von Terra Nova. Wir müssen jetzt alle nur erdenklichen …«
An dieser Stelle gibt der Satellit den Geist auf, und ich kann nur raten, was Tarn noch sagen wollte. Nur eins ist sicher:
Der Krieg hat begonnen.
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