27
Mit dünnen, zerbrechlich wirkenden Strahlen bricht ein neuer Tag an. Sonnenaufgänge auf Ithiss-Tor sind anders als die auf anderen Planeten, fragiler. Ich habe jetzt schon mehrmals beobachtet, wie sich das Licht über den Himmel dieser Welt ausbreitet, manchmal in sanften, durchschimmernden Farben, manchmal in sattem, derbem Rot, als hätte sich die Göttin, an die ich nicht glaube, die Pulsadern aufgeschnitten. Auf Gehenna hingegen verändert sich der Himmel überhaupt nicht. Dort herrscht entweder endlose Nacht oder endloses Licht, eine immerwährende Präsenz, die einem irgendwann das Gefühl gibt, man selbst wäre derjenige, der die Bühne zu räumen hat.
Genauso fühle ich mich jetzt.
Ich stehe vor einem Wendepunkt, der sich schnell nähert. Danach wird nichts mehr sein wie zuvor.
Vel ist irgendwann gegangen. Ich muss eingeschlafen sein, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, geschlafen zu haben. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich ihn trösten kann, ihm die Schande nehmen, die er, unsichtbar wie die nicht vorhandenen Abzeichen auf seinem Chitinpanzer, mit sich herumträgt. Er schämt sich für die Nacktheit seiner Schale, wie sich ein Mensch für Narben schämt. Und dann wirkt er wieder so unglaublich selbstbewusst und sicher in allem, was er tut. Vielleicht ist es auch nur die Belastung, wieder hier zu sein. Ein Grund mehr, die Sache schnell zu Ende zu bringen, denn das Letzte, was ich will, ist, Vel unnötig leiden zu lassen.
In ein paar Stunden warten schon wieder die nächsten Verpflichtungen auf mich. Ich werde Fragen beantworten müssen, Zweifel ausräumen und mich so beliebt machen wie irgend möglich. Doch jetzt ist es erst mal Zeit, etwas für mich selbst zu tun.
Ich gehe zu der Verbindungstür zwischen Marschs und meiner Suite. Seit seiner Attacke habe ich sie nicht mehr benutzt. Aus Angst. Aber schlimmer können die Dinge nicht mehr werden. Insofern habe ich nichts mehr zu befürchten.
Er kann sich nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlt, mich zu lieben. Immer wieder trifft mich diese Erkenntnis, ganz tief in mir drin, an einem Ort, der so öde ist, dass dort keine Tränen sind. Ich habe keinen Namen für diesen Schmerz, weil ich noch nie eine Liebe wie diese verloren habe.
Wir Springer sind nicht dafür gemacht, mit Verlusten umzugehen. Unsere Nervenbahnen sind ausgelegt für Abenteuer und Entdeckungen. Eigentlich sind wir unverwüstlich. Und trotzdem stehe ich hier, die feuchten Hände auf die glatte Türverschalung gepresst, und sehne mich nach meinem Liebhaber mit einem Verlangen, das einfach nicht abebben will.
Ich will ihn zurück. Ich muss ihn zähmen wie ein wildes Tier, und ich werde die nötige Geduld dafür aufbringen. Und wenn ich dafür an seinem Gehirn herumdoktern muss, werde ich auch das tun. Also nehme ich all meinen Mut zusammen. Seit jener letzten Nacht liegt Marsch in Scherben. Nicht, weil er mich angegriffen hat, sondern weil ihn dieser Angriff weit mehr verletzt hat als mich, dessen bin ich mir sicher. Er ist wie ein tollwütiges Tier, das Freund nicht mehr von Feind unterscheiden kann.
Ich drücke auf eine Taste, und die Tür gleitet zur Seite. Er hat sie also nicht darauf programmiert, mich nicht durchzulassen. Hoffnung. Vielleicht hat er sich doch noch nicht voll und ganz in die Vorstellung ergeben, er wäre nicht mehr zu retten.
Marsch kann nicht schlafen, genauso wie ich. Er hockt auf der Bettkante und dreht sich nicht um, aber an der minimalen Veränderung in seiner Haltung erkenne ich, dass er mich bemerkt hat.
»Wie schlimm ist es?«
Zumindest das hat sich nicht verändert. Es braucht nur ein paar Worte, und ich weiß genau, was er meint.
»Kein bleibender Schaden«, sage ich mit einem Achselzucken.
»Dieses Mal nicht. Aber wir müssen uns voneinander fernhalten, Jax.« Leise trommelt er mit den Fingern auf seine Oberschenkel. »Diesmal gibt es kein Zurück. Und ich will nicht, dass du mitgerissen wirst, wenn ich endgültig explodiere.« Aus seiner dunklen Stimme schlägt mir ein Ozean von Verzweiflung entgegen, gurgelnd wie schwarze Wellen auf kantigem Fels.
Mein Lächeln fühlt sich verkrampft an und unnatürlich. »Du redest, als wärst du eine wandelnde Zeitbombe.«
»Ein guter Vergleich.«
»Findest du? Ich nicht. Ich finde es furchtbar.«
Es bricht mir das Herz, wie verloren er aussieht. Marsch schläft kein bisschen besser als ich, wenn auch aus anderen Gründen.
»Was willst du, Jax?«
Dich. Ich spreche es nicht aus, aber das muss ich auch nicht. Nicht bei Marsch. Ein kalter Schauder sagt mir, dass er meine Gedanken liest – ein instinktiver Impuls, den er genauso wenig im Griff hat wie ich meine Sehnsucht nach ihm. Wir sind wie gegenpolige Magneten. Ganz egal, wie sehr wir dagegen ankämpfen – und das habe ich am Anfang, weil ich nicht einmal ansatzweise bereit war für ihn –, die Anziehung ist stärker.
Ich erinnere mich an unser erstes Mal, die Anspannung und die Leidenschaft auf seinem Gesicht, als ich auf ihm geritten bin. Und ich erinnere mich an den verschlingenden Rausch, den ich verspürte, als ich ihn im Gunnar-Dahlgren-Komplex fand, am Leben. Mit Zunge und Zähnen sind wir übereinander hergefallen, rasend vor Glück und Erleichterung.
Marsch zittert. »Du treibst mich in den Wahnsinn, Jax … und der Weg dort ist nicht mehr weit. Zuerst erinnerst du mich daran, was für großartigen Sex wir miteinander hatten, dann erklärst du mir, dass wir den erst wieder haben werden, wenn ich zu dir sagen kann, ich liebe dich, und es auch wirklich so meine.«
So, wie er es formuliert, klingt es wirklich grausam.
»Ich hatte nie ein Problem mit Sex ohne Liebe«, flüstere ich. »Aber dann habe ich mich in Kai verliebt, und er brachte mir bei, dass es mehr gibt als das. Und dann … Viel zu bald, nachdem ich ihn verloren hatte, habe ich dich getroffen. Ich wollte dich nicht lieben. Ich wollte nicht, dass du der Richtige bist.«
Stumm wie ein Stein starrt er mich an.
»Ich wollte nichts als trauern, aber du hast nicht aufgehört, bis ich begriffen habe, dass der Schmerz nie weggehen würde, außer ich öffne mich für dich, voll und ganz, ohne Vorbehalte. Und hier bin ich und bettle …« Meine Stimme versagt, und ich kann einen Moment lang nicht weitersprechen. »Bettle dich an, dass du nicht aufgibst. Bettle darum, dass du es weiterhin versuchst. Weil ich glaube, dass ich es nicht überlebe, wenn ich dich verliere. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand, mir bleibt keine Wahl.«
Ich habe es getan, meine Seele bis aufs Letzte entblößt. Sie ist nackt und hässlich, übersät mit halb verheilten Wunden, und ich habe sie ihm zu Füßen gelegt. Er kann sie zertrampeln, wenn er will, aber dann haben wir alles verloren, und mir wird nichts anderes übrigbleiben, als es einzusehen.
Marsch sagt nichts.
Ich würde lieber über zerbrochenes Glas kriechen, als ihm diese Dinge zu erzählen. Vor allem jetzt, da sein Gesicht so weich und einfühlsam aussieht wie ein Titanpfeiler. Ich schleppe mich weiter, ertrinke in seinem Schweigen.
»Komm schon, sieh dich in mir um. Du hast einmal gesagt, ich wäre der stärkste Charakter, dem du je begegnet bist, aber jedes noch so harte Material zerbricht irgendwann. Diese Mission ist zu wichtig, zu viel Verantwortung lastet auf mir, und ich brauche dich und …«
»Halt den Mund, Jax.«
Klingt seine Stimme liebevoll oder gereizt, als er das sagt? Ich habe keine Ahnung, kann es nicht mehr beurteilen.
Marsch beugt sich vor, stützt die Ellbogen auf die Knie. »Kannst du immer noch behaupten, du hättest keine Angst vor mir?«
»Hab ich nicht«, erwidere ich prompt. »Du wolltest mir nicht wehtun. Welcher Albtraum dich auch geritten hat, es war nicht ich, die du töten wolltest.«
Er zeigt mir ein Lächeln, in dem keine Freude liegt und keine Milde.
»Soll das ein Hinweis sein? Würdest du gern mit mir durch meine Albträume spazieren und unterwegs ein paar Blümchen aussähen?«
»Tu nicht so, als würdest du mich so schlecht kennen«, keife ich ihn an. »Vergiss es, Baby. Mit meinen Stahlkappenstiefeln würde ich hindurchmarschieren und alles und jeden zerquetschen, der versucht, dir wehzutun.«
»Das ist meine Jax.«
Die Worte kommen so leise aus ihm heraus, dass ich beinahe glaube, ich hätte sie mir nur eingebildet. Aber das habe ich nicht. Unfassbare Freude steigt in mir auf. Er hat es gesagt, und jetzt sieht er mich unverwandt an. Eine Frage steht übergroß in seine Augen geschrieben, und die Antwort ist: Ja. War und wird es immer sein.
»Verdammt richtig.«
»Mutter Maria«, keucht er. »Wie du leuchtest!«
Ich schüttle den Kopf. »Das Licht kommt von dir. Du kannst es nur nicht sehen, weil du selber im Dunkeln sitzt. Ich reflektiere es nur.«
Das klingt nicht wie etwas, das ich sagen oder auch nur denken würde, auch wenn es wahr ist. Selbst an meinen besten Tagen bin ich keine Philosophin. Ich bin ein brodelnder Kessel, voller Impulse und vorschneller Urteile. Jetzt, da ich weiß, wie ich gezeugt wurde, kann ich behaupten, dass der Grimspace schuld an meinem Temperament wäre. Ja, im Gegensatz zu allen anderen Springern wurde ich dort gezeugt, aus einer Laune meiner Mutter heraus, die ständig auf der Suche nach dem nächsten Kick war. Doc meint, der Grimspace hätte meine DNA verändert, mir eine spezielle Mutation beschert, die es meinem Körper ermöglicht, den Schaden zu reparieren, den der Grimspace in meinem Gehirn anrichtet. Andere Springer gehen daran zugrunde. Aber nicht ich. Ich überlebe und schlage weiter um mich und richte jede Menge Schaden an mit meinen unkontrollierbaren Stimmungsschwankungen.
Vielleicht liegt es ja an dem Chip, dass ich plötzlich besser in Worte fassen kann, was ich fühle. Oder es ist eine schleichende Entwicklung, die ich bisher nur noch nicht bemerkt habe. Nichts bleibt gleich, nicht einmal ich.
Marsch schließt die Augen, und ich spüre förmlich, wie er sich den Kopf zermartert, als stünde er vor einer einschneidenden Entscheidung. Ich hoffe nur, sie bricht mir nicht das Herz.
Endlich atmet er mit einem kleinen Seufzer aus und steht auf. »Du willst also wirklich wissen, wie es in meinen Träumen aussieht? Ich zeig’s dir.«
Nackte Angst kriecht mir den Rücken hinauf. Ich habe keine Ahnung, wie schlimm es werden wird. Irgendwie ringe ich mir ein Lächeln ab.
»Dann tu es«, flüstere ich.
Und er tut es. Eine Wand aus Eis schießt in meinem Kopf empor. Zwei Seelen, die miteinander ringen und dann verschmelzen zu … uns.
Es beginnt.