12

Das Seltsame ist: Er scheint nicht mal wirklich wütend zu sein. Wie beiläufig umfasst seine Hand meinen Hals, allerdings vorerst ohne zuzudrücken. Ohne die Medikamente wäre es vielleicht schon viel früher passiert, und das macht mir am meisten Angst von allem. Ich kenne ihn wohl doch nicht so gut, wie ich dachte.

Ich bin entsetzt, wie viel Dunkelheit in Marsch ist. Irgendwie habe ich immer geglaubt, er würde übertreiben. Aber er hat nicht übertrieben. Er ist ein Killer, durch und durch.

Ich hebe das Kinn und entblöße meine Kehle noch mehr.

»Soll ich Hilfe holen, Sirantha Jax?«, fragt Constance.

Wenn ich könnte, würde ich den Kopf schütteln. Aber ich kann es nicht, also sage ich nur: »Ich will keine negative Aufmerksamkeit. Den Vorfall auf dem Platz konnten wir noch für unsere Sache nutzen, aber bei dem hier bin ich mir nicht so sicher.«

Vor allem, weil es Marsch ist, von dem die Gewalt ausgeht. Er sieht mich an, als würde er sich fragen, warum ich nicht in Panik ausbreche. Mein Herz hüpft in der Brust auf und ab wie ein wildes Tier, aber tief in mir drinnen glaube ich nicht, dass er mir wehtun wird. Vielleicht bin ich ja verrückt. Vielleicht drückt er in paar Sekunden zu und zerquetscht mir die Luftröhre.

Im Moment sehe ich nur, wie ich zusammengerollt auf seinem Schoß liege und er mir verspricht, dass er immer ein Auge auf mich haben wird. Ich sehe, wie er mir im feuchtheißen Dschungel eines fremden Planeten auf die Beine hilft, während der Regen auf uns herunterprasselt. Ich sehe, wie wir in einer Lehmhütte auf dem Boden knien und das Mareq-Baby bestaunen. Ich sehe, wie er noch einmal umkehrt, um die zu retten, die nicht aus eigener Kraft aus Hon-Durrens Reich fliehen konnten. Ich sehe, wie er den billigen Ring mit dem künstlichen Rubin, den er für seine Schwester gekauft hatte, in meine Hand legt und mir verspricht zurückzukehren.

Eigentlich müsste er die Goldkette an meinem Hals spüren, an der ich den Ring trage. Ich halte seinen Blick fest und warte, bis er sie bemerkt.

Marsch lässt mich los und fährt mit der Hand das feine Metallbändchen hinab bis zu der Stelle, wo der Ring zwischen meinen Brüsten hängt. Mit den Fingern hebt er ihn sanft an und schaut mir ungläubig in die Augen.

Eine Kälte wie von einem Polarsturm durchzuckt mich, als ich seinen Geist in mir spüre. Ich weiß nicht, wie er diese unendliche Kälte aushält. Mich fröstelt, am ganzen Körper bekomme ich Gänsehaut, und die Narben auf meinen Armen treten noch stärker hervor.

Ich spüre, wie Marsch die Bilder betrachtet, die mir soeben durch den Kopf gegangen sind. Seine Finger umfassen den Ring, und er zieht mich näher an sich heran.

Ich wehre mich nicht, und unsere Brauen berühren sich beinahe.

»Du trägst ihn immer noch?«, flüstert er.

»Du hast versprochen, mir einen schöneren zu besorgen«, erwidere ich leise. »Erinnerst du dich?«

»Wenn ich dir teuren Schmuck kaufe, lässt du mich dann gehen?«

Warum klingt er so verzweifelt, so gequält? Dringe ich etwa doch zu ihm durch? Ich weiß nicht, wie es sich für ihn anfühlt, wenn er in mir ist, welche Auswirkungen es möglicherweise auf ihn hat. Sicher werden die Gefühle, die er dort findet, irgendeine Reaktion in ihm auslösen.

»Ich werde dich nie gehen lassen«, antworte ich ganz langsam. »Ich gebe dich nicht auf, niemals. Aber du kannst gerne Geschenke für mich kaufen, wenn du das möchtest.«

»Du hast gar keine Angst vor mir?« Da sind sie wieder, diese Eisnadeln. Als würde er versuchen herauszufinden, ob ich lüge.

»Ein bisschen schon«, gebe ich zu. »Aber ich habe mehr Angst um dich.«

Ich habe ihn noch nie angelogen, was auch der Grund ist, warum Marsch sich überhaupt in mich verliebt hat, wie er selbst zugegeben hat. Bestimmt werde ich jetzt nicht damit anfangen. Das zarte Pflänzchen, das gerade zwischen uns wächst, würde im Schatten einer Lüge unweigerlich zugrunde gehen. Soll er also selbst sehen, ob ich die Wahrheit sage.

Er tut es, und ich erschauere.

»Wenn du es ertragen kannst«, flüstert er schließlich, »würde ich gern ein wenig bleiben und spüren, wie es früher einmal zwischen uns war.«

Er will in meinen Erinnerungen und Gefühlen herumstöbern, sehen, ob es irgendeine Reaktion in ihm auslöst. Damit kann ich leben, auch wenn ich weiß, dass er nicht so wie ich fühlt. Eigentlich müsste die Kälte, die von ihm ausgeht, mir das Herz brechen. Wahrscheinlich würde sie das auch, wenn ich sicher wäre, dass ich ihn für immer verloren hätte. Oder ich würde mein Herz in die Hand nehmen und dafür sorgen, dass er sich aufs Neue in mich verliebt.

Marsch gehört zu mir.

Ich atme noch einmal tief durch, um mich zu wappnen für das, was jetzt kommt. Ich weiß noch vom letzten Mal, wie weh es tut. Anscheinend leidet Marsch an so etwas wie emotionaler Hypothermie, aber vielleicht kann ich seine Seele ein wenig erwärmen, selbst wenn mir dabei kalt wird bis in die Knochen.

»Machst du Witze?« Ich bringe ein Lächeln zustande. »Ich will dich in mir spüren. Ich vermisse dich.«

Er muss mich nicht berühren, aber er tut es, und ich spüre, wie er seine Stirn gegen meine legt. Eine Art Zugeständnis vielleicht. Marsch erträgt keinen Körperkontakt mehr, nicht einmal mit mir. Der eisige Sturm, der in mir losbricht, straft die Wärme seiner Haut Lügen.

So kalt.

Anfangs spüre ich nichts als kantiges, zerklüftetes Eis. Es ist, als würde ich nackt durchs Teresengi-Becken wandern. Ich muss mich gewaltig beherrschen, um ihn nicht einfach wegzustoßen, versuche, mich zu erinnern, warum ich mir das antue, und harre aus. Er ist nicht allein da drinnen – dies ist mein Geist, meine Seele, und dort ist es nicht so kalt.

Wie aus großer Entfernung höre ich, wie meine Zähne klappern. Jemand – wahrscheinlich Constance – legt uns eine Decke um. Keine Ahnung, ob das was nützt, aber es ist eine nette Geste. Ihre Schritte entfernen sich. Anscheinend merkt sie, wenn Menschen allein sein wollen. Auch eine nette Eigenschaft.

Gerade als ich glaube, ich halte es nicht mehr aus, verändert sich etwas. Die Kälte lässt nach, wird erträglicher, und ich spüre, wie Marsch meine Gefühle für ihn erkundet. Zögerlich wie ein Kind, das Angst hat, etwas Wertvolles kaputt zu machen, tastet er umher.

Ich versuche nicht, ihn aufzuhalten.

Gemeinsam mit mir erinnert er sich an das erste Mal, als wir Sex hatten, und Wärme durchflutet mich. Zuerst sehe ich die Szene, wie ich selbst sie erlebt habe, dann wechselt die Perspektive, und ich sehe mich durch Marschs Augen. Ich lächle ihn an, das Haar dunkel und zerzaust, die Augen hell und silbrig glänzend wie der Mond. Für ihn bin ich pure Schönheit, makellos, perfekt. Er will mich so sehr, dass es ihm Schmerzen bereitet, und jetzt erinnert er sich an diesen Schmerz.

Ich spüre ihn immer noch genauso wie damals.

Ich will ihn, werde ihn immer wollen. Bis die letzte Sonne erloschen ist, lange, nachdem sich mein Körper in kosmischen Staub verwandelt hat. Und selbst dann werden sich meine Atome noch nach ihm verzehren.

Wieder ändert sich das Gefühl zwischen uns, erwärmt sich um weitere millionstel Grad. Blind vom Strom der Erinnerungen taste ich nach seinem Mund. Wird er es zulassen, wenn ich ihn küsse?

Er tut es. Ein Zittern rollt über ihn hinweg wie Donnergrollen eines fernen Gewitters. Seine Bartstoppeln kratzen über meine zarte Wange, und seine Lippen schließen sich um meine. Ich spüre seine Umarmung, kraftvoll und selbstbewusst. Dann zieht mich Marsch auf seinen Schoß, und wir kuscheln uns in die Decke, die Constance uns gegeben hat.

Ich presse mich an seine Brust, schmecke die raue Haut um seine Lippen. Das letzte Mal, dass ich ihn berührt habe, scheint eine Ewigkeit her. Eine Ewigkeit, dass er es zugelassen hat.

Ich habe Angst, die Augen zu öffnen. Angst, allein in meinem Bett aus einem Traum zu erwachen.

»Ich will dich«, flüstert er, als wäre er selbst überrascht; ich zumindest bin es. »Nicht die nächstbeste Frau in meiner Nähe, nicht nur körperliche Befriedigung. Dich

Es wäre mir egal. Wenn er sich nur daran erinnert, wie sehr er mich einmal wollte. Auch wenn dies nur ein Abklatsch ist von dem, was er einmal für mich gefühlt hat, alles ist besser, als ihn zu verlieren. Maria, ich will ihn zurück.

Auf jeden Fall ist es ein Fortschritt. Ich werde nehmen, was ich kriegen kann. »Ich schätze, mit Mair ist es ein wenig anders gelaufen.«

Ich bringe ihn tatsächlich zum Lachen, das erste Mal, seit er von Lachion zurück ist. »Allerdings. Sie war ein bisschen alt für mich, selbst als ich sie kennenlernte.«

»Gut zu wissen, dass ich zumindest auf sie nicht eifersüchtig sein muss«, foppe ich ihn und denke an Mairs bestürzend gut aussehende Enkelin Keri.

»Auf Keri brauchst du auch nicht eifersüchtig zu sein«, erwidert er ganz wie früher. Ich hatte vollkommen vergessen, wie sehr ich es mochte, wenn er meine unausgesprochenen Fragen beantwortete. »Sie hat Lex geheiratet, kurz bevor ich Lachion verlassen habe. Ich habe sie freigegeben.«

»Ihr Glück«, murmle ich.

Maria, ich kann mich doch nicht allen Ernstes so kindisch darüber freuen, dass eine vermeintliche Konkurrentin weg ist. Habe ich wirklich so wenig Selbstbewusstsein? Auf jeden Fall war ich noch nie glücklicher, von einer Hochzeit zu erfahren, auf der ich gar nicht war.

Wir können es schaffen. Ich werde um ihn kämpfen. Auch mit unsauberen Mitteln, wenn es sein muss, und ich kann verdammt stur sein.

Ganz langsam atme ich aus und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Zu meinem Entzücken lässt er es geschehen und löst auch seine Umarmung nicht.

Stattdessen wandern seine Hände hinunter zu meinem Becken. »Hast du mich nicht gehört?« Er beißt mich sanft in den Hals. »Ich will dich.«

Ich lächle schüchtern. »Und du wirst mich auch bekommen. Wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

Nur gut, dass die Medikamente ihn halbwegs bei Laune halten, sonst würde ich jetzt wahrscheinlich schon mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen. Ich mache mir nichts vor. Marsch ist noch lange nicht geheilt, wir haben lediglich ein paar kleine Fortschritte erzielt. Sein erster Impuls ist nach wie vor, sich einfach zu nehmen, was er will.

»Was redest du da, Frau?«

»Ich habe so eine Ahnung«, erwidere ich sanft, »dass ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen deinen körperlichen Bedürfnissen und deinen Emotionen. Vielleicht können wir deinen Sexualtrieb nutzen, um beides wieder in Einklang zu bringen.«

Ich mache mir nichts vor. Mein Plan wird ihn bis aufs Äußerste belasten, und es könnte sein, dass er zwischendurch die Geduld verliert. Es könnte sein, dass ich am Ende wieder vor einer rasenden Killermaschine stehe, die sich nicht entscheiden kann, ob sie es gleich hier auf dem Boden mit mir treiben oder mir das Genick brechen will. Egal, im Moment bin ich glücklich.

»Du willst mich also heißmachen, bis ich wieder der Mann bin, in den du dich verliebt hast?« Er knurrt beinahe.

»Im Großen und Ganzen, ja.«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mir diese Vorstellung zuwider ist.«