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Vel und ich sind mehr oder weniger uns selbst überlassen.
Um die späte Uhrzeit liegen die Flure ruhig und verlassen. Als Erstes gehen wir zu der Überwachungskamera, wo Vel ein Gerät installiert, das ihr Signal gerade lange genug unterbrechen wird, dass wir unbemerkt vorbeischlüpfen können. Falls wir wegen der Störung befragt werden sollten, geben wir uns eben wieder gegenseitig ein Alibi. Sollen sie denken, was sie wollen. Es ist einfach zu bequem so.
»Bist du sicher, dass es funktioniert?«
»Nein«, antwortet Vel knapp.
Auch gut. Er war lange nicht mehr hier und kennt sich nicht bis ins letzte Detail aus mit der neuesten Hightech der Ithorianer. Trotzdem müssen wir es versuchen.
»Sollen wir wetten?«
»Wenn Sie einen Moment lang schweigen würden, Sirantha, könnte ich das hier zu Ende bringen.« So nahe war er schon lange nicht mehr dran, die Geduld mit mir zu verlieren.
Gehorsam halte ich den Mund und versuche, mich so ruhig zu verhalten wie irgend möglich. Schließlich leuchtet das Lämpchen an der Kamera nicht mehr rot, sondern gelb. Das ist es, was wir wollten, und wir huschen vorbei. Vel knackt die dahinterliegende Tür, und wir betreten den Raum mit den Überwachungsbildschirmen. Ich sehe mich um. Er ist kaum größer als eine San-Toilette.
Tagsüber sitzt hier ein gelangweilter Wachposten und döst vor sich hin. Die Bildschirme zeigen einen wenig frequentierten Bahnhof, aber von hier aus kann Vel auch auf andere Kameras zugreifen. Deshalb sind wir hier.
Er holt ein weiteres Gerät hervor und macht sich an die Arbeit. Es ist zwar abergläubisch, aber ich drücke beide Daumen, dass es ihm gelingt, sich in weitere Terminals einzuhacken, ohne dass sie es merken. Wenn es nicht funktioniert, schicken sie ein Team, um dem unautorisierten Zugriff auf den Grund zu gehen, noch bevor wir irgendwas Nützliches herausgefunden haben.
Natürlich dürften wir gar nicht hier sein, aber es ist eine willkommene Abwechslung zu dem tatenlosen Herumsitzen. Spontanes Handeln entspricht meinem Wesen nun mal viel mehr als geduldiges Abwarten, und ich bin viel zu gespannt, um mir irgendwelche Sorgen zu machen.
Ein paar Sekunden später nickt Vel – es funktioniert.
Ich weiß, was ich jetzt zu tun habe: Schmiere stehen, den Flur im Auge behalten und sofort Alarm schlagen, wenn jemand kommt. Vel kennt einen geheimen Ausgang – es sei denn, sie haben die Innenarchitektur verändert, seit Vel das letzte Mal hier war. So was ist immer möglich.
Während er arbeitet, spähe ich durch den schmalen Türspalt nach draußen. Sie ist aus einem rauen, matten Material, das ein bisschen aussieht wie Metall. Vielleicht ist es aber ein ganz anderer Werkstoff.
Nach drei Minuten steht Vel auf. »Ich habe die Aufzeichnungen der Kameras um Scharis’ Wohnung heruntergeladen. Jetzt können wir sehen, wer ihn in den letzten vierundzwanzig Stunden besucht hat, bevor er vergiftet wurde. Gehen wir.«
Bestens. Vorsichtig schlüpfen wir hinaus auf den Flur, und ich bin erleichtert, als uns auch hinter der Biegung, die ich von der Tür aus nicht einsehen konnte, niemand entgegenkommt. Es war die richtige Entscheidung, uns diesen verlassenen Bahnhof für den kleinen Coup auszusuchen.
Ein kleiner San-Bot kommt den Gang entlang auf uns zugejagt. Das Ding scheint höchst aufgeregt und rennt mir mehrmals gegen den Fuß. Verwirrt blicke ich nach unten und steige dann einfach darüber hinweg.
Auf dem Weg zurück zu meiner Suite kommen mir dann doch Bedenken. Wenn die Kakerlaken das hier rauskriegen, war’s das mit der Allianz.
Sobald wir da sind, verriegelt Vel meine Tür. Wir müssen eine Menge Material sichten und können keine Störung von den Ithorianern gebrauchen, während wir uns die Holo-Bilder ansehen, die er heruntergeladen hat. Wenn einer von ihnen versucht, uns während dieser Zeit zu sprechen, soll er von mir aus glauben, Vel würde sich mal wieder mit seiner Weichhäuter-Geliebten beschäftigen.
»Das hier wird eine Weile dauern«, sagt Vel, während er das Material auf einen tragbaren Player überspielt, damit keine Spuren davon auf meinem Terminal zurückbleiben. »Machen Sie es sich doch bequem, Sirantha.«
Eine 3-D-Abbildung von dem Gang, der zu Scharis’ Wohnung führt, erscheint auf dem Schirm. Es sind die Aufzeichnungen der Überwachungskamera, die routinemäßig jeden filmt, der kommt oder geht. Hier auf Ithiss-Tor ist das die Abschreckungsmethode schlechthin, denn nichts ist so schändlich, wie sich bei einem Verbrechen erwischen zu lassen. Stümperei ist das Schreckgespenst ithorianischer Albträume.
Ein Verbrechen aufklären zu müssen, das klingt wie eine spannende Aufgabe. Es klingt nach jeder Menge Herumschnüffeln, nach Nervenkitzel und Gefahr, aber diese Erwartung bewahrheitet sich nicht. Klar sind wir in den Überwachungsraum eingebrochen, aber im Moment liegt die größte Herausforderung darin, nicht einzuschlafen.
Um mich wachzuhalten, mache ich mir immer wieder Notizen, und als wir am Ende der Aufzeichnungen angelangt sind, habe ich eine Liste, auf der fünf Ithorianer und eine Gestalt in einem Umhang stehen. Die Kakerlaken tragen keine Kleidung, weshalb sie davon ausgehen, dass der Kerl in dem Umhang ein Mensch gewesen sein muss. Vel kann sich verwandeln, in wen oder was er will. Aber bei seinem Volk gilt das als unkultiviert und unehrenhaft, außer es dient dem Erlegen von Beute. Die meisten Ithorianer könnten das Sekret, das ihr Körper hauptsächlich zur Wärmeisolation ausscheidet, nicht einmal so formen wie er.
Der mit der Kutte war Scharis’ letzter Besucher. Er kam, nachdem Mako mitten in der Nacht gegangen war. Interessantes Timing.
Wir betrachten die verhüllte Gestalt. Leider ist das Gesicht auf keinem der Einzelbilder zu erkennen.
»Wie groß ist er?«, überlege ich laut.
»Schwer zu sagen, aber ich würde schätzen, ungefähr zwei Meter.«
»Dann kann ich es also nicht gewesen sein«, stelle ich mit einem Lächeln fest. »Genauso wenig wie Doc, Rose oder Dina. Wer käme sonst noch in Betracht?«
Während Vel schweigend nachdenkt, zähle ich die Namen auf. Es fällt mir schwer, sie laut auszusprechen, aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. »Marsch. Jael. Hammer. Jede Menge Klansleute vom Schiff … Sie werden ganz schön groß, diese Gunnar-Dahlgrens. Kannst du die Besatzungsliste durchgehen und nachsehen, wer infrage kommt?« Als Vel nickt, füge ich hinzu: »Gut. Mach als Erstes diese Liste. Ich muss mit ein paar Leuten sprechen.«
Nicht ausgeschlossen, dass ein Purist unter ihnen ist. Doc musste die Crew in aller Eile zusammenstellen, während alle noch mit den Aufräumarbeiten nach dem Krieg gegen die McCulloughs beschäftigt waren. Ein Wunder, dass sie Marsch überhaupt gehen ließen.
»Von meinem Volk wären nur Devri und Ehon groß genug«, erklärt Vel schließlich. »Es sei denn, der Betreffende trug Prothesen.«
»Du meinst, Absätze oder Stelzen oder so was?«
»Oder ein Gestell auf dem Kopf. Die Aufzeichnung, die wir haben, lässt keine Rückschlüsse darauf zu, was sich unter der Kapuze verbirgt.«
»Die Große Verwalterin käme noch infrage«, schlage ich vor.
Vel schüttelt den Kopf. »Das wäre nicht ihr Stil. Sie würde es nie selbst tun.«
»Aber sie könnte einen ihrer Lakaien geschickt haben. Schließlich will sie uns unbedingt loswerden.«
»Gewiss. Sie könnte es sogar als gerechte Strafe für Scharis ansehen, weil er sich nicht von einer Befürwortung der Allianz hat abbringen lassen.«
Da fällt mir noch etwas ein. »Kannst du auch Material über die Oppositionspartei besorgen? Vielleicht war es einer von denen.«
Viel Arbeit für die nächsten Stunden. So viele Leute, die wir überprüfen müssen, so viele Spuren. Zu viele, um das alles ohne Hilfe hinzukriegen. Und gleichzeitig müssen wir größtmögliche Diskretion wahren, denn wenn die Ithorianer mitbekommen, dass wir herumschnüffeln, obwohl die Untersuchung offiziell abgeschlossen ist, wird das unserer Sache kaum dienlich sein.
»Das kann ich«, antwortet Vel leise. »Aber die Zeit arbeitet gegen uns, Sirantha. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie lange es dauern wird, jeden Verdächtigen zu überprüfen? Alles, was wir haben, ist ein vager Verdacht. Setzen Sie bitte nicht all Ihre Hoffnungen darauf.«
»Ich weiß nicht, was mir sonst noch bleibt«, antworte ich niedergeschlagen. Damit gebe ich mehr von meiner verzweifelten Seele preis, als mir lieb sein kann.